Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 IA 60



116 Ia 60

9. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
14. März 1990 i.S. H. gegen Bezirksanwaltschaft Zürich, Bezirksgericht
Zürich sowie Anklagekammer des Obergerichts und Direktion der Justiz des
Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 5 Ziff. 4 EMRK: Gerichtliche Überprüfung einer Versorgung nach
Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB.

    1. Prozessuales: Gegenstand der Beschwerde, Ausschöpfung des kantonalen
Instanzenzuges (E. 1c und 1d).

    2. Anspruch auf gerichtliche Prüfung einer Freiheitsentziehung nach
Art. 5 Ziff. 4 EMRK im allgemeinen (E. 2).

    3. Die Verweigerung der gerichtlichen Überprüfung der streitigen
Versorgung des Beschwerdeführers in einer psychiatrischen Klinik verstösst
gegen Art. 5 Ziff. 4 EMRK (E. 3a).

    4. Folgen der Konventionsverletzung im vorliegenden Fall: keine
Entlassung aus der Klinik; Weisung an den Kanton Zürich (E. 3b).

Sachverhalt

    A.- H. wurde am 26. April 1989 wegen des Verdachts versuchter
Nötigung von der Bezirksanwaltschaft Zürich in Untersuchungshaft
versetzt, welche zwecks psychiatrischer Begutachtung in der Kantonalen
Psychiatrischen Klinik Rheinau vollzogen wurde. Die Haft wurde durch
den Bezirksgerichtspräsidenten mehrmals verlängert. Am 24. August 1989
stellte der Bezirksanwalt die Strafuntersuchung ein, weil H. nach einem
psychiatrischen Gutachten zur Zeit der Tat nicht zurechnungsfähig gewesen
sei. Mit gleicher Verfügung ordnete der Bezirksanwalt eine stationäre
Massnahme im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB und damit den weitern
Verbleib von H. in der Psychiatrischen Klinik an. Diese Anordnung ist
von der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich genehmigt worden.

    Am 31. Januar 1990 stellte H. bei der Direktion der Justiz des Kantons
Zürich gestützt auf Art. 5 Ziff. 4 EMRK u.a. das Begehren um gerichtliche
Prüfung seiner Haft und um vorsorgliche Entlassung aus der Klinik. Die
gleiche Eingabe liess er dem Obergericht des Kantons Zürich und dem
Bezirksgericht Zürich mit den gleichen Begehren zukommen.

    Die Direktion der Justiz teilte H. am 5. Februar 1990 mit, sie sei
nicht in der Lage, in dieser Sache tätig zu werden, weil die Frage
der Zuständigkeit unklar sei. Der Präsident der Anklagekammer des
Obergerichts befand am 2. Februar 1990, dass er die Prüfung der Haft
mangels Zuständigkeit nicht vornehmen könne. Im gleichen Sinne entschied
der Einzelrichter des Bezirksgerichts Zürich am 1. Februar 1990.

    Gegen die Entscheide der Justizdirektion, der Anklagekammer des
Obergerichts und des Einzelrichters des Bezirksgerichts reichte H. beim
Bundesgericht am 8. Februar 1990 staatsrechtliche Beschwerde ein. Er
beantragt deren Aufhebung und ersucht um sofortige Entlassung aus der
Klinik Rheinau. Er rügt u.a. eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 4 EMRK. Das
Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                  Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- c) Die staatsrechtliche Beschwerde richtet sich gegen die
Entscheide der Justizdirektion des Kantons Zürich vom 5. Februar, der
Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 2. Februar sowie
des Bezirksgerichts Zürich vom 1. Februar 1990. Deren Gegenstand bildete
einzig die Frage, ob dem Beschwerdeführer die Möglichkeit offenstehe,
eine gerichtliche Haftprüfung zu verlangen.

    Hingegen standen weder die Anordnung der Untersuchungshaft vom
26. April 1989 noch die Verfügung der Bezirksanwaltschaft vom 24. August
1989 betreffend Einstellung der Strafuntersuchung und Anordnung der
Haft im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB und der bestätigende
Entscheid der Staatsanwaltschaft in Frage. Für deren Anfechtung mit
staatsrechtlicher Beschwerde ist die Beschwerdefrist nach Art. 89 OG
längst verstrichen. Deshalb kann auf die Rüge nicht eingetreten werden, der
Bezirksanwalt genüge den in Art. 5 Ziff. 3 EMRK aufgestellten Anforderungen
nicht und folglich stelle die Einweisung in die Klinik Rheinau am 26. April
bzw. 24. August 1989 einen Verstoss gegen Art. 5 Ziff. 1 EMRK dar. Dasselbe
gilt für die Rüge, der Bezirksanwalt habe sich über die in Art. 6 Ziff. 2
verankerte Garantie der Unschuldsvermutung hinweggesetzt, indem er in
der Einstellungsverfügung vom 24. August 1989 den objektiven Tatbestand
der versuchten Nötigung bejaht habe. Verspätet sind ferner die Vorwürfe,
die Einweisung in die Klinik Rheinau durch den Bezirksanwalt verstosse
gegen Art. 6 Ziff. 1 EMRK und gegen Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB.

    d) Weiter stellt sich die Frage der Ausschöpfung des kantonalen
Instanzenzuges im Sinne von Art. 86 Abs. 2 und Art. 87 OG. Der Entscheid
der Anklagekammer kann mit keinem kantonalen Rechtsmittel angefochten
werden. In bezug auf die bezirksrichterliche Verfügung sowie den Entscheid
der Justizdirektion ist einzuräumen, dass es der Beschwerdeführer in
beiden Fällen unterlassen hat, das im kantonalen Recht vorgesehene
Rechtsmittel zu ergreifen (vgl. § 402 Ziff. 4 StPO/ZH bzw. Gesetz
betreffend die Organisation und Geschäftsordnung des Regierungsrates und
seiner Direktionen vom 26. Februar 1989 § 13 Abs. 2 in Verbindung mit
§ 22 Ziff. 1 und § 23 Ziff. 3). Es gilt indessen zu berücksichtigen,
dass der vorliegende Fall nicht mit der Situation eines negativen
Kompetenzkonfliktes verglichen werden kann. Es gibt keine Hinweise
dafür, dass irgendeine Behörde im Kanton Zürich zuständig sein könnte.
Der Beschwerdeführer erhebt seine Rüge der Verletzung von Art. 5
Ziff. 4 EMRK gerade deshalb, weil sämtliche angegangenen Stellen eine
gerichtliche Prüfung der Freiheitsentziehung verweigert haben. Die
Frage der Anfechtbarkeit der Entscheide des Bezirksgerichts und der
Justizdirektion kann im vorliegenden Fall indessen offengelassen werden.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK hat jedermann, dem seine Freiheit durch
Festnahme oder Haft entzogen wird, das Recht, ein Verfahren zu beantragen,
in dem von einem Gericht raschmöglichst über die Rechtmässigkeit der Haft
entschieden wird und im Falle der Widerrechtlichkeit seine Entlassung
angeordnet wird. Ist die Entscheidung, mit der dem Betroffenen die Freiheit
entzogen wird, von einem Verwaltungsorgan getroffen worden, kann dieser
ohne weiteres eine gerichtliche Prüfung der Rechtmässigkeit der Haft
verlangen; wenn ursprünglich der Entscheid über die Freiheitsentziehung von
einem Gericht ausgeht, kann es angesichts der Natur des in Frage stehenden
Freiheitsentzuges notwendig sein, dass die Rechtmässigkeit in vernünftigen
Abständen überprüft wird (Urteile des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte i.S. Luberti vom 23. Februar 1984, Publications de la
Cour Européenne des Droits de l'Homme, Série A, vol. 75, Ziff. 31 =
EuGRZ 1985 S. 642 ff. (S. 645); Urteil i.S. Droogenbroeck vom 24. Juni
1982, Série A, vol. 50, Ziff. 45 = EuGRZ 1984 S. 6 ff. (S. 8); Bericht
der Kommission i.S. Koendjbiharie vom 12. Oktober 1989 Ziff. 64 ff., in:
EuGRZ 1990 S. 48). Bei der gerichtlichen Instanz nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK
muss es sich nicht notwendigerweise um ein ordentliches Gericht klassischer
Natur, das in die herkömmlichen gerichtlichen Einrichtungen integriert ist,
handeln. Gefordert ist indessen deren funktionelle, organisatorische und
personelle Unabhängigkeit. Diese gerichtliche Instanz muss tatsächliche
Entscheidungsbefugnis haben und die Rechtmässigkeit mit hinreichender
Kognition prüfen können. Es sind die grundlegenden Verfahrensgarantien
zu beachten, welche der konkret streitigen Freiheitsentziehung sowie den
besondern Umständen des Prozesses angepasst sind. Aus dem Erfordernis
des gerichtlichen Verfahrens hat der Gerichtshof weiter den Anspruch
auf rechtliches Gehör und Akteneinsicht abgeleitet und gefordert, dass
das Verfahren in hinreichender Weise kontradiktorisch ist. Die Prüfung
der Rechtmässigkeit der Haft hat schliesslich nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK
raschmöglichst zu erfolgen (BGE 115 Ia 60, 299 E. 4, 114 Ia 185 E. b,
Urteil vom 28. September 1989, in: EuGRZ 1989 S. 441 E. 4, mit zahlreichen
Hinweisen auf die Strassburger Rechtsprechung (insbesondere die Urteile
Ashingdane, Luberti, Droogenbroeck, X., Winterwerp, Weeks, De Wilde,
Ooms und Versyp sowie Sanchez-Reisse) und die Literatur; vgl. ferner
Bericht der Kommission i. S. Keus vom 4. Oktober 1989 Ziff. 57 ff., in:
EuGRZ 1990 S. 50).

Erwägung 3

    3.- a) Im vorliegenden Fall hat die Bezirksanwaltschaft am 24. August
1989 eine Massnahme im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB verfügt und
damit den weitern Verbleib des Beschwerdeführers in der Psychiatrischen
Klinik Rheinau angeordnet. Bei dieser Massnahme handelt es sich um einen
Freiheitsentzug im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 EMRK. Wie oben dargelegt,
ist die Anordnung dieser Massnahme am 24. August 1989 als solche nicht
zu beurteilen und insbesondere nicht auf die Menschenrechtskonvention,
das Strafgesetzbuch und das zürcherische Verfahren hin zu überprüfen. Der
Bezirksanwaltschaft und der Staatsanwaltschaft kommt keine gerichtliche
Unabhängigkeit zu (vgl. BGE 115 Ia 60 E. b, mit Hinweisen). Es handelt
sich daher bei der Massnahme um eine nicht gerichtlich angeordnete.

    Bei dieser Sachlage hat der Beschwerdeführer nach Art. 5 Ziff. 4
EMRK einen Anspruch darauf, dass seine Freiheitsentziehung durch eine
richterliche Instanz auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüft wird. Diese
gerichtliche Überprüfung ist dem Beschwerdeführer durch die angefochtenen
Entscheide verweigert worden, indem sich alle drei angegangenen Instanzen
für unzuständig erklärt haben. Es kann ihren Entscheiden auch kein Hinweis
entnommen werden, welches Gericht sich mit der Überprüfung befassen
könnte. Und aus dem angefochtenen Entscheid des Bezirksgerichts geht
hervor, dass das vom Beschwerdeführer gewünschte Prüfungsverfahren im
Kanton Zürich nicht besteht. Es braucht nicht im einzelnen geprüft zu
werden, ob jeder der angefochtenen Entscheide für sich allein genommen
mit der Verfahrensordnung in Einklang steht. Unter dem Gesichtswinkel von
Art. 5 Ziff. 4 EMRK ist allein massgebend, dass von keiner Stelle eine
gerichtliche Prüfung vorgenommen oder eine solche in die Wege geleitet
worden ist. Demnach ist dem Beschwerdeführer der Anspruch gemäss Art. 5
Ziff. 4 EMRK auf gerichtliche Überprüfung seiner Freiheitsentziehung
verweigert worden, und die Rüge der genannten Konventionsbestimmung
erweist sich demnach als begründet.

    b) Damit stellt sich die Frage, welches die prozessuale Folge
der Bejahung der Konventionsverletzung für das vorliegende Verfahren
ist. Soweit mit der staatsrechtlichen Beschwerde über die Aufhebung der
angefochtenen Entscheide hinaus positive Anordnungen verlangt werden, kann
das Bundesgericht auch andere Massnahmen treffen (BGE 108 Ia 170 E. 3a).

    Wird beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde wegen formeller
Rechtsverweigerung erhoben, so hebt es im Falle der Gutheissung der
Beschwerde den kantonalen Entscheid, mit dem auf ein Begehren des
Betroffenen nicht eingetreten worden ist, auf und öffnet diesem damit den
Weg für die materielle Beurteilung seines Anliegens. Mit dieser Situation
lässt sich der vorliegende Fall indessen nicht vergleichen. Die Gutheissung
der vorliegenden Beschwerde ergibt sich nicht deshalb, weil jeder der
angefochtenen Entscheide für sich allein genommen mit dem Verfahrensrecht
in Widerspruch stünde. Die Begründetheit der Beschwerde liegt vielmehr
darin, dass das zürcherische Verfahrensrecht die nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK
geforderte Überprüfung der Freiheitsentziehung nicht vorsieht und sich
demnach sämtliche angegangenen Stellen als unzuständig erklärt haben. Bei
dieser Sachlage erübrigt es sich, die angefochtenen Entscheide der
Anklagekammer, des Bezirksgerichts und der Direktion der Justiz aufzuheben.

    Stellt das Bundesgericht fest, eine kantonale Behörde habe die
Überprüfung eines Freiheitsentzuges nicht in einer Art. 5 Ziff. 4 EMRK
genügenden Weise vorgenommen, hat das nicht ohne weiteres zur Folge, dass
der Freiheitsentzug als rechtswidrig betrachtet und der Beschwerdeführer
aus der Haft entlassen werden müsste (BGE 114 Ia 92 E. d, Urteil vom
28. September 1989 E. 4e, in: EuGRZ 1989 S. 443). Im vorliegenden
Fall legt der Beschwerdeführer im übrigen auch nicht dar, dass die
Aufrechterhaltung des Freiheitsentzuges im Zeitpunkt seines Gesuches um
gerichtliche Überprüfung den materiellen Bestimmungen von Art. 43 Ziff. 1
Abs. 1 StGB widerspreche oder verfassungs- und konventionswidrig sei. Das
Gesuch um sofortige Entlassung aus der Psychiatrischen Klinik Rheinau
ist daher abzuweisen.

    Angesichts der Sachlage im vorliegenden Fall kann es nicht damit
sein Bewenden haben, dass das Bundesgericht in teilweiser Gutheissung der
staatsrechtlichen Beschwerde mangels eines entsprechenden gerichtlichen
Überprüfungsverfahrens den Verstoss gegen Art. 5 Ziff. 4 EMRK lediglich
feststellt. Wie bei einer Gutheissung einer Rechtsverzögerungsbeschwerde
(vgl. ARTHUR HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich,
Bern 1985, S. 120 f.) ist es vielmehr angezeigt, dem Kanton Zürich als dem
verantwortlichen Gemeinwesen eine Weisung zu erteilen. Dabei geht es darum,
dass der Beschwerdeführer in den Genuss eines gerichtlichen Verfahrens
kommt, in dem über die Rechtmässigkeit der streitigen Freiheitsentziehung
entschieden wird. Dieses Verfahren hat sich nach den oben dargelegten
Kriterien zu richten (E. 2, mit Hinweisen). Angesichts des Anspruchs
nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK auf eine raschmöglichste Überprüfung ist
dem Beschwerdeführer ein Verfahren zur Verfügung zu stellen, in dem
unverzüglich über dessen Haft entschieden wird. Wie dem im einzelnen
nachzukommen ist, hat das Bundesgericht nicht selbst zu entscheiden;
es ist vielmehr Sache der Zürcher Behörden, den Anforderungen der
EMRK Nachachtung zu verschaffen (vgl. BGE 115 Ia 64). Angesichts der
Dringlichkeit der Angelegenheit ginge es indessen nicht an, zuerst das
formelle Gesetz zu ändern und das Gesuch des Beschwerdeführers erst danach
zu beurteilen. Demnach ist der Kanton Zürich anzuweisen, dafür zu sorgen,
dass die Rechtmässigkeit der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers
unverzüglich in einem gerichtlichen Verfahren im Sinne von Art. 5 Ziff. 4
EMRK überprüft wird.

Erwägung 4

    4.- Demnach ist die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde teilweise
gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann. Das Gesuch um
Entlassung aus der Psychiatrischen Klinik Rheinau wird abgewiesen. Hingegen
wird dem Kanton Zürich eine Weisung für die Behandlung des Gesuches um
Überprüfung der Freiheitsentziehung erteilt.