Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 IA 459



116 Ia 459

68. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 14.
November 1990 i.S. B. gegen Bezirksanwaltschaft Zürich und Präsident des
Obergerichts des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; unentgeltlicher Rechtsbeistand für eine Geschädigte in
der Strafuntersuchung.

    Eine durch einen ausgebildeten Juristen und erfahrenen Amtsvormund
verbeiständete Geschädigte hat in der Strafuntersuchung keinen Anspruch
auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand.

Sachverhalt

    A.- B. erstattete am 3. Januar 1990 Strafanzeige gegen vier unbekannte
Personen, da sie in der Nacht vom 2. auf den 3. Januar von diesen sexuell
missbraucht und schwer verletzt worden sei. Drei Personen konnten in der
Folge ermittelt werden. Bei der Bezirksanwaltschaft Zürich ist gegen sie
eine Strafuntersuchung hängig.

    Am 5. Juni 1990 gelangte B. an den Präsidenten des Obergerichtes
des Kantons Zürich. Sie stellte den Antrag, es sei ihr gestützt auf §
10 Abs. 4 StPO/ZH mit sofortiger Wirkung zur Wahrung ihrer Interessen
ein unentgeltlicher Rechtsbeistand zu bestellen. Der Präsident des
Obergerichtes wies mit Verfügung vom 13. Juni 1990 das Gesuch ab.

    Gegen diesen Entscheid des Präsidenten des Obergerichtes gelangte
B. am 13. Juli 1990 mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV an das Bundesgericht. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- e) Die Beschwerdeführerin rügt sodann, die Feststellung des
Präsidenten des Obergerichtes, wonach ihre Interessen durch ihren Beistand
wahrgenommen werden könnten, sei als willkürlich zu qualifizieren. Im
vorliegenden Fall handle es sich um einen vom Sachverhalt und in bezug
auf die rechtlichen Fragen nicht einfachen Straffall. Der Beistand,
der Nationalrat sei, habe aus zeitlichen Gründen keine Möglichkeit,
an wichtigen Einvernahmen teilzunehmen. Ferner habe sich bewahrheitet,
dass der Beistand als Zeuge befragt worden sei. Schliesslich müsse auf
den Entscheid BGE 112 Ia 7 ff. hingewiesen werden, wonach von einem als
Juristen ausgebildeten Vormund nicht erwartet werden könne, dass er auch
in einem Scheidungsverfahren als Rechtsanwalt des Mündels tätig werde.

    Diese Rüge erweist sich als unbegründet. Der Entscheid BGE 112 Ia 7
ff. kann nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden. Dort ging
es nämlich um eine Kampfscheidung mit schwierigen Rechtsfragen. Hier
liegt vielmehr noch kein gerichtliches Verfahren vor, sondern es geht
lediglich um die Frage der Verbeiständung einer Geschädigten in der
Strafuntersuchung, hat doch der Obergerichtspräsident ausdrücklich
die Möglichkeit eines andern Entscheides zu Beginn des eigentlichen
Strafprozesses bzw. allenfalls eines Zivilprozesses über Schadenersatz-
und Genugtuungsforderungen durch den betreffenden Gerichtspräsidenten
vorbehalten. Im Gegensatz zu einem Kampfscheidungsverfahren ist die
Vertretung eines Geschädigten in einer zürcherischen Strafuntersuchung
weit einfacher. Es geht einmal darum, allfällige Schadenersatz-
und Genugtuungsforderungen anzumelden. Ferner ist die Geschädigte
berechtigt, an den Einvernahmen teilzunehmen und Ergänzungsfragen zu
stellen bzw. stellen zu lassen. Ein durchschnittlicher Bürger sollte in
der Regel in der Lage sein, seine Interessen als Geschädigter in einer
Strafuntersuchung selbst wahrzunehmen. Die Beschwerdeführerin wird dies
jedoch angesichts ihres Geisteszustandes nicht selber tun können. Sie ist
indessen durch einen ausgebildeten Juristen und erfahrenen Amtsvormund
verbeiständet. Diesem kann die Interessenwahrung der Verbeiständeten
in der Strafuntersuchung zugemutet werden. Eine geschädigte Partei in
einem Strafverfahren braucht Unterstützung nicht primär wegen schwierigen
Rechtsfragen, sondern vorab in menschlicher Hinsicht. Hiefür dürfte der
Beistand oft sogar besser geeignet sein als ein Anwalt. Unbeachtlich
ist auch der Einwand, der Beistand sei als Zeuge befragt worden. Selbst
wenn der Beistand für die Geschädigte in der hängigen Strafuntersuchung
tätig geworden wäre, hätte dies nach zürcherischem Prozessrecht seine
Einvernahme als Zeuge nicht ausgeschlossen. Schliesslich ist erneut
darauf hinzuweisen, dass im angefochtenen Entscheid ausdrücklich eine
unentgeltliche Verbeiständung der Geschädigten im eigentlichen Strafprozess
vorbehalten wurde.