Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 IA 420



116 Ia 420

61. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
19. Dezember 1990 i.S. X. gegen Untersuchungsrichterin 7 von Bern,
Generalprokurator und Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Persönliche Freiheit; Verhältnismässigkeit der Untersuchungshaft;
Hafterstehungsfähigkeit eines drogenabhängigen Aids-Kranken.

    1. Kerngehalt der persönlichen Freiheit. Die Tatsache allein,
dass ein Untersuchungsgefangener Aids-krank und suizidgefährdet ist,
hat im allgemeinen nicht ein derart grosses, absolut wirkendes Gewicht,
dass sie von vornherein jedem Haftzweck vorgeht und damit die Entlassung
aus der Untersuchungshaft rechtfertigt (E. 3b).

    2. Verhältnismässigkeit: Die Abwägung zwischen dem Haftzweck und den
Auswirkungen der Haft auf den Betroffenen ergibt, dass im vorliegenden
Fall die Untersuchungshaft nicht unverhältnismässig ist (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Der drogenabhängige und im vierten Stadium Aids-kranke X.  wurde in
den vergangenen drei Jahren insgesamt neun Mal verhaftet. Es wurden ihm
Beschaffungsdelikte zum Betäubungsmittelerwerb vorgeworfen. Die ersten acht
Male wurde er nach jeweils kurzer Zeit mangels Hafterstehungsfähigkeit
wieder aus der Haft entlassen. Eine Zeitlang befand er sich wegen
Suizidgefahr in der Klinik Waldau, wo am 12. Februar 1990 ein Gutachten
erstellt wurde, welches seine Hafterstehungsfähigkeit verneinte. Immer
wieder stellte sich die Frage, wie und wo er unterzubringen sei; eine
befriedigende Lösung liess sich nicht finden. Seit dem 11. Oktober 1990 ist
X. - zum neunten Mal - wieder in Untersuchungshaft im Regionalgefängnis
Bern. Die Untersuchungsrichterin 7 von Bern und die Anklagekammer
des Obergerichts des Kantons Bern lehnten die Haftentlassung wegen
Wiederholungsgefahr ab; sie befürchten, dass im Fall der Freilassung den
bisher rund 110 Strafanzeigen innert bloss drei Jahren weitere hinzugefügt
würden. Die Aids-Erkrankung von X. dürfe nicht zu einem Freipass für
deliktisches Handeln werden. Am 5. und 6. Dezember 1990 wurden zwei
medizinische Berichte über die Hafterstehungsfähigkeit von X. erstattet.

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 28. November 1990 beantragt
X., der Entscheid der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern
sei aufzuheben und diese anzuweisen, seine sofortige Freilassung
zu veranlassen. Er macht geltend, da er schwer suizidgefährdet und
Aids-krank sei, müsse er aus der Haft entlassen werden. Die Haftbelassung
sei unverhältnismässig.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- b) Der Beschwerdeführer macht geltend, der Beschluss, ihn
trotz seiner Krankheit und Selbstmordgefährdung in Haft zu belassen,
sei willkürlich und stelle eine Rechtsverweigerung dar (Art. 4 BV),
verletze die persönliche Freiheit, das Recht auf Leben und das Verbot
der unmenschlichen Behandlung (Art. 65 BV) sowie Art. 3 EMRK.

    Die persönliche Freiheit steht auch dem Untersuchungsgefangenen zu
(BGE 113 Ia 328 E. 4; 106 Ia 280 f. E. 3a). Art. 3 EMRK gewährt keinen
darüber hinausgehenden Schutz (BGE 113 Ia 328 E. 4); indessen sind
der Gehalt von Art. 3 EMRK und die diesbezügliche Rechtsprechung für
die Konkretisierung der persönlichen Freiheit zu berücksichtigen (BGE
114 Ia 282 f. E. 3). Das verfassungsmässige Recht auf Leben und das
Verbot unmenschlicher Behandlung ruft der Beschwerdeführer vergeblich
an; besondere diesbezügliche verfassungsmässige Rechte, die den Bürger
über das Recht auf persönliche Freiheit hinaus schützen, sind hier nicht
anzuerkennen. Insbesondere gewährt Art. 65 BV keinen zusätzlichen Schutz,
denn es geht vorliegend weder um ein Todesurteil noch um eine körperliche
Strafe. Die Rügen der Rechtsverweigerung und der Willkür (Art. 4 BV)
sind nachfolgend als Teil der persönlichen Freiheit zu behandeln.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer ist wegen Wiederholungsgefahr (vgl.
Art. 111 Abs. 2 lit. c des Gesetzes über das Strafverfahren des Kantons
Bern [StPO/BE) vom 20. Mai 1928] inhaftiert; er anerkennt diesen
Haftgrund. Indessen macht er geltend, das psychiatrische Gutachten vom
12. Februar 1990 bezeichne ihn als nicht hafterstehungsfähig. Demnach
verletze die Belassung in der Untersuchungshaft die persönliche Freiheit,
da sie unverhältnismässig sei.

    a) Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung schützt die persönliche
Freiheit als zentrales Freiheitsrecht und verfassungsrechtlicher
Leitgrundsatz nicht nur die Bewegungsfreiheit und die körperliche
Integrität, sondern darüber hinaus alle Freiheiten, die elementare
Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung darstellen. Sie garantiert
ein bestimmtes Mindestmass an persönlicher Entfaltungsmöglichkeit
und schützt den Bürger in der ihm eigenen Fähigkeit, eine gewisse
tatsächliche Begebenheit zu würdigen und danach zu handeln, ohne dass
sie in eine allgemeine Handlungsfreiheit ausuferte (BGE 115 Ia 246
E. 5a). Im Zusammenhang mit dem Freiheitsentzug wird insbesondere die
Menschenwürde durch die persönliche Freiheit geschützt (BGE 102 Ia 285; 99
Ia 272). Selbstredend gilt die persönliche Freiheit aber nicht absolut.
Einschränkungen sind zulässig, soweit sie auf einer hinreichenden
gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und
verhältnismässig sind. Zudem darf die persönliche Freiheit weder völlig
unterdrückt noch ihres Gehaltes als Institution der Rechtsordnung entleert
werden (BGE 115 Ia 247 E. b).

    b) Offensichtlich ist die Untersuchungshaft geeignet, den
Beschwerdeführer vor weiteren Straftaten abzuhalten. Auch bestreitet
der Beschwerdeführer in der staatsrechtlichen Beschwerde nicht, dass sie
erforderlich sei; mildere Massnahmen wie Schriftensperre, regelmässige
persönliche Meldung bei einer Amtsstelle etc. (vgl. Art. 111a StPO/BE) oder
die Unterbringung in einer geeigneten Anstalt sind weder erfolgversprechend
noch realisierbar. Streitig ist einzig, ob zwischen dem Haftgrund und
der Haftwirkung ein vernünftiges Verhältnis bestehe.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer behauptet, die Untersuchungshaft gefährde
sein Leben erheblich. Das Regionalgefängnis verfüge nicht über die für die
medizinische Betreuung und die Reduzierung der Suizidgefahr geeigneten
Einrichtungen. Der Stress des kranken Körpers wegen des Drogenentzugs
(epileptische Anfälle), der Mangel längerfristiger Perspektiven zufolge
absehbarem Tods an Aids und damit zusammenhängend die akute Suizidgefahr
sowie die Bedrohung, dass Mitinsassen ihm lebenswichtige Medikamente
wegnehmen, vernichteten seine Existenz.

    a) Auf die Untersuchungshaft muss verzichtet werden, wenn ihre
Auswirkung auf den Betroffenen in keinem vernünftigen Verhältnis zum
Haftzweck stehen. Sie lässt sich umso weniger mit der persönlichen Freiheit
und dem Verhältnismässigkeitsprinzip vereinbaren, je geringer das Interesse
an der Fortsetzung der Haft ist und je eher der Tod oder eine dauernde,
schwere Krankheit die Folge der Untersuchungshaft wäre (vgl. BGE 113
Ia 328 E. 4; 108 Ia 71 E. b). Es ist demnach in jedem einzelnen Fall
eine Interessenabwägung vorzunehmen, bei der insbesondere der Zweck
der Untersuchungshaft, die Schwere der gesundheitlichen Gefährdung,
die Möglichkeit der medizinischen Betreuung im Gefängnis etc. zu
berücksichtigen sind.

    b) Die Tatsache allein, dass ein Untersuchungsgefangener Aids-krank
und suizidgefährdet ist, hat im allgemeinen nicht ein derart grosses,
absolut wirkendes Gewicht, dass sie von vornherein jedem Haftzweck
vorginge und die Entlassung aus der Untersuchungshaft rechtfertigte. Die
Untersuchungshaft bedeutet für den Betroffenen immer ein Übel - sie wird
vom einen besser, vom anderen weniger gut ertragen. Würde Aids-Kranken
generell Haftverschonung gewährt, so liefe dies darauf hinaus, dass sich
chronisch kranke oder gebrechliche Personen Angriffe auf strafrechtlich
geschützte Rechtsgüter Dritter eher erlauben könnten, weil ihnen zwar
eine Verurteilung drohte, sie aber weder in Untersuchungshaft noch in
den Strafvollzug versetzt werden könnten. Dass dies nicht richtig sein
kann, liegt auf der Hand. Die Untersuchungshaft kranker Personen greift
somit im allgemeinen nicht derart stark in die persönliche Freiheit ein,
dass diese völlig unterdrückt oder ihres Gehaltes als Institution der
Rechtsordnung entleert würde (vgl. BGE 115 Ia 247 E. b).

    Im vorliegenden, konkreten Fall ergeben sich weder aus der
Beschwerde noch den übrigen bundesgerichtlichen Akten Anhaltspunkte
dafür, dass die Untersuchungshaft in ihrer Wirkung einer Vernichtung der
Persönlichkeit des Beschwerdeführers gleichkäme oder ihm schwere psychische
Schäden zufügte. Die Haftbelassung verletzt demnach den Kerngehalt der
persönlichen Freiheit nicht (vgl. BGE 106 Ia 281 E. a). Somit ist auch im
vorliegenden Fall, wo eine vorbestandene Krankheit besteht, eine umfassende
Interessenabwägung vorzunehmen zwischen dem Eingriff in die Rechtsgüter
des Betroffenen und dem öffentlichen Interesse an seiner Sicherung.

    c) Der Beschwerdeführer konnte trotz Untersuchungshaft bisher
einigermassen gut betreut werden (vgl. BGE 106 Ia 292 E. b). Er
bestreitet selber nicht, dass die Aids-Krankheit - soweit möglich - auch
im Regionalgefängnis behandelt werden kann und dass er gegebenenfalls
rechtzeitig in ein Spital überführt werden könnte. Auf den nebenbei
erhobenen, pauschalen Vorwurf, die medizinische Betreuung fehle, darf das
Bundesgericht nicht eingehen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 114 Ia 316
E. 1b). Zur Entwicklung des Gesundheitszustands des Beschwerdeführers hält
die medizinische Universitäts-Poliklinik des Inselspitals Bern in ihrem
Bericht vom 6. Dezember 1990 fest, es gebe keinen Grund anzunehmen,
dass die blosse Haftentlassung den Gesundheitszustand verbessern
bzw. länger stabil halten könnte. Der Gesundheitszustand hänge bei
einer allfälligen Haftentlassung vom Verhalten des Beschwerdeführers ab
(intravenöser Drogenkonsum, zuverlässige Medikamenteneinnahme, regelmässige
ärztliche Konsultationen). Es gebe keine soliden Anhaltspunkte dafür,
dass die Inhaftierung und die daraus folgende psychische Belastung einen
negativen Einfluss auf den HIV-Krankheitsverlauf habe. Die psychiatrische
Universitätsklinik Bern, Abteilung Forensische Psychiatrie, hält in ihrem
Bericht vom 5. Dezember 1990 zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers
nach einer Haftentlassung fest:

    "Mit Sicherheit würde sich Herrn X. Gesundheitszustand nach einer

    Haftentlassung, wenn diese nicht mit der Aufnahme in eine geeignete

    Institution (s. oben) verbunden wäre, noch schneller verschlechtern. In

    Freiheit würde zwar gegenüber der Gefangenschaft die Stressbelastung
   aufgrund von klaustrophobischen Reaktionen, die sich ungünstig auf das

    Immunsystem auswirkt, wegfallen; hingegen käme es bei der sich
   unweigerlich einstellenden weiteren schweren Verwahrlosung mit
   qualitativ schlechter Ernährung und unkontrolliertem Drogenabusus
   zu vermehrten

    Sekundärkomplikationen seiner Erkrankung, abgesehen davon, dass kaum
   anzunehmen ist, dass sich der Patient ohne sofortige Delinquenz, wie die

    Erfahrung zeigt, würde halten können, was zu umgehender
Wiederverhaftung
   führen würde. In diesem Zusammenhang muss auch die Gefährdung Dritter
   durch einen Patienten, der nichts mehr zu verlieren hat, nicht mehr zu

    Selbstkontrolle und verantwortungsbewusstem Handeln fähig ist, bedacht
   werden."

    Somit würde die Haftentlassung die gesundheitlichen Aussichten des
Beschwerdeführers nicht von vornherein verbessern, im Gegenteil. Zudem hat
die Untersuchungshaft nach dem heutigen Wissensstand keine wesentliche
negative Auswirkungen auf seinen Gesundheitszustand. Selbstverständlich
kann die Gefahr einer Verschlimmerung seines Leidens während der
Untersuchungshaft nicht ausgeschlossen werden, doch erscheint diese Gefahr
heute als unabhängig von der Fortsetzung der Untersuchungshaft. Die beim
Beschwerdeführer offenbar gerade im Freiheitsentzug vorhandene Suizidgefahr
lässt sich im Untersuchungsgefängnis sogar besser auf das unvermeidbare
Minimum reduzieren.

    d) Im vorliegenden Fall besteht eine sehr grosse und unbestrittene
Wiederholungsgefahr. Gegen den Beschwerdeführer wurden rund 110
Strafanzeigen eingereicht, er wurde in den letzten drei Jahren neun Mal
verhaftet. Die ihm vorgeworfenen Vermögensdelikte wiegen schwer. In
Betracht zu ziehen ist auch, dass die Krankheit den Beschwerdeführer
offenbar nicht hindert, weiterhin zu delinquieren.

    e) Die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der
Sicherung des Beschwerdeführers und damit an der Aufrechterhaltung der
Untersuchungshaft und den Interessen des Beschwerdeführers an der Abwendung
dieses Eingriffs in seine Rechtsstellung ergibt, dass die Haftbelassung
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Der Gesundheitszustand
des Beschwerdeführers verbietet im vorliegenden Fall die Fortsetzung der
Haft nicht, jedenfalls solange nicht, als seine medizinische Betreuung
zweckentsprechend aufrechterhalten werden kann (vgl. BGE 106 IV 324;
105 Ia 35). Die angefochtene Lösung ist zweifellos nicht ideal, aber
das Optimum, das zur Zeit erreicht werden kann. Die kantonalen Behörden
haben sich angestrengt, eine besser geeignete Anstalt zu finden, bisher
ohne Erfolg; die entsprechenden Abklärungen werden in zumutbarem Masse
weitergeführt werden müssen. Das gilt auch für die Abwehr der Suizidgefahr.
Mehr kann verfassungsrechtlich nicht verlangt werden.

    Demgemäss ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.