Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 IA 387



116 Ia 387

58. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 4. Juli 1990 i.S. V. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht
(1. Strafabteilung des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Anspruch auf einen
unbefangenen Richter.

    Keine Verletzung dieses Anspruchs, wenn derjenige Richter, der in
einer Strafsache als Haftrichter tätig war, später auch beim Entscheid
über ein Begehren um Haftentschädigung mitwirkt.

Sachverhalt

    A.- V. wurde am 26. Februar 1986 wegen Verdachts des Handels mit
Betäubungsmitteln verhaftet. Mit Verfügung vom 7. März 1986 verlängerte
der Vizepräsident der Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts
des Kantons Aargau, Oberrichter Wuffli, die Untersuchungshaft bis
zum Eingang der Anklage beim Gericht. Am 16. Juli 1986 wies er ein
Haftentlassungsgesuch ab. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau erhob
am 2. Oktober 1986 gegen V. Anklage wegen Gehilfenschaft zu qualifizierter
Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. Das Bezirksgericht Baden
führte am 17. Dezember 1986 die Hauptverhandlung durch und beschloss,
V. aus der Haft zu entlassen. Mit Urteil vom 11. Februar 1987 sprach es ihn
von Schuld und Strafe frei. Am 2. April 1987 stellte V. ein Begehren um
Haftentschädigung im Betrag von Fr. 110'000.--. Das Bezirksgericht Baden
sprach ihm eine Entschädigung von Fr. 75'000.-- zu Lasten des Staates
zu. Das Aargauer Obergericht änderte diesen Entscheid in teilweiser
Gutheissung der Berufung der Staatsanwaltschaft dahin ab, dass es die
Entschädigung auf Fr. 30'000.-- festsetzte. Am Urteil des Obergerichts
wirkte Oberrichter Wuffli mit.

    V. erhob staatsrechtliche Beschwerde, mit der er u.a. rügte, am Urteil
des Obergerichts habe ein befangener Richter mitgewirkt. Das Bundesgericht
hielt diese Rüge für unbegründet.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer beklagt sich in erster Linie über eine
Verletzung der Art. 58 Abs. 1 BV und 6 Ziff. 1 EMRK, da am angefochtenen
Urteil des Aargauer Obergerichts vom 16. Februar 1989, mit dem über die
Entschädigung für die von ihm ausgestandene Untersuchungshaft befunden
wurde, ein befangener Richter mitgewirkt habe. Er ist der Meinung,
Oberrichter Wuffli, der bei diesem Urteil die 1. Strafkammer des
Obergerichts präsidierte, habe über die Haftentschädigung deshalb nicht
unvoreingenommen urteilen können, weil er am 7. März 1986 die gegen ihn -
den Beschwerdeführer - vom Bezirksamt Baden angeordnete Untersuchungshaft
bis zum Eingang der Anklage beim Gericht verlängert und am 16. Juli 1986
ein von ihm eingereichtes Haftentlassungsgesuch abgelehnt habe.

    Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts muss die Rüge der
unrichtigen Besetzung eines Gerichts bzw. der Voreingenommenheit eines
Richters so früh wie möglich geltend gemacht werden. Es verstösst gegen
Treu und Glauben, Einwände dieser Art erst im Rechtsmittelverfahren
vorzubringen, wenn der - echte oder vermeintliche - Organmangel schon im
vorangegangenen Verfahren hätte geltend gemacht werden können. Wer einen
Richter nicht unverzüglich ablehnt, wenn er von einem Ausstandsgrund
(Ausschliessungs- oder Ablehnungsgrund) Kenntnis erhält, sondern sich
stillschweigend auf den Prozess einlässt, verwirkt den Anspruch auf
spätere Anrufung der verletzten Verfassungsbestimmung (BGE 114 Ia 278,
280, 350 E. d; 114 V 62 E. 2b; 112 Ia 339 f.).

    Der Beschwerdeführer hat im Berufungsverfahren vor Obergericht
kein Ausstandsbegehren gegen Oberrichter Wuffli gestellt. Er bringt
erst vor Bundesgericht vor, dieser Richter hätte wegen Befangenheit am
Entscheid über die Haftentschädigung nicht mitwirken dürfen. Den Akten
ist indessen zu entnehmen, dass das Obergericht im Berufungsverfahren
betreffend Haftentschädigung am 21. Januar 1988 einen Sistierungsbeschluss
gefasst hatte, an welchem nach den Angaben auf dem Titelblatt Oberrichter
Wuffli als Präsident der 1. Strafkammer des Obergerichts mitwirkte. Der
Beschwerdeführer musste daher nach Erhalt dieses Beschlusses damit
rechnen, dass Oberrichter Wuffli auch bei der materiellen Beurteilung
des Entschädigungsbegehrens mitwirken würde. Gleichwohl hat er
ihn im Berufungsverfahren nicht abgelehnt. In der staatsrechtlichen
Beschwerde wird vorgebracht, auch wenn Oberrichter Wuffli am erwähnten,
ausschliesslich formellen Charakter aufweisenden Beschluss teilgenommen
habe, habe der Beschwerdeführer davon ausgehen dürfen, dass er bei der
materiellen Beurteilung des Begehrens um Haftentschädigung von sich
aus einem Ersatzmitglied der 1. Strafkammer Platz machen würde. Nach
der dargelegten bundesgerichtlichen Rechtsprechung muss aber eine
Prozesspartei, wenn sie von einem Ausstandsgrund Kenntnis erhält,
den betreffenden Richter unverzüglich ablehnen; sie darf sich nicht
stillschweigend auf den Prozess einlassen in der Annahme, der Richter
werde von sich aus in den Ausstand treten oder der Entscheid werde trotz
Mitwirkung des betreffenden Richters für sie günstig ausfallen. Im hier
zu beurteilenden Fall dürfte nach dem Gesagten wohl angenommen werden,
dass der Beschwerdeführer Oberrichter Wuffli schon im Verfahren vor
Obergericht hätte ablehnen können und dass er, weil er dies unterliess,
das Recht, sich vor Bundesgericht über eine Verletzung des Anspruchs auf
einen unbefangenen Richter zu beklagen, verwirkt hat. Wie es sich damit
letztlich verhält, kann jedoch dahingestellt bleiben, da die Rüge des
Beschwerdeführers aus den folgenden Erwägungen unbegründet ist.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer behauptet, es sei mit dem Anspruch auf
einen unbefangenen Richter nach Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK
unvereinbar, wenn der gleiche Richter, der die Haftverlängerung bewilligt
und ein Haftentlassungsgesuch abgewiesen habe, später auch im Verfahren
betreffend Entschädigung für die ungerechtfertigte Untersuchungshaft
mitwirke.

    Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach zwei unveröffentlichten
Entscheiden der Europäischen Kommission für Menschenrechte die
Vorschrift von Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht anwendbar ist auf Verfahren,
in denen über eine Haftentschädigung befunden wird (Entscheide zitiert
bei FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, Kehl/Strassburg/Arlington, 1985,
N. 36 zu Art. 6 EMRK, S. 125, Fn. 89). Ob diese Konventionsbestimmung
auf Verfahren betreffend Haftentschädigungen zur Anwendung kommt, kann
indes offenbleiben, da im vorliegenden Fall eine Verletzung des Art. 6
Ziff. 1 EMRK nicht gegeben ist.

    a) Sowohl aufgrund von Art. 58 Abs. 1 BV als auch gemäss Art. 6 Ziff. 1
EMRK hat der Einzelne einen Anspruch darauf, dass seine Sache von einem
unvoreingenommenen, unparteiischen und unbefangenen Richter beurteilt
wird. Befangenheit ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung dann
anzunehmen, wenn Umstände vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in
die Unparteilichkeit eines Richters zu erwecken. Solche Umstände können
entweder in einem bestimmten persönlichen Verhalten des betreffenden
Richters oder in gewissen funktionellen und organisatorischen Gegebenheiten
begründet sein. In beiden Fällen wird aber nicht verlangt, dass der Richter
deswegen tatsächlich befangen ist. Es genügt, wenn Umstände vorliegen,
die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit
zu begründen vermögen. Bei der Beurteilung des Anscheins der Befangenheit
und der Gewichtung solcher Umstände kann nicht auf das subjektive Empfinden
einer Partei abgestellt werden; das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit
muss vielmehr in objektiver Weise begründet erscheinen (BGE 116 Ia 34
E. 2b mit Hinweisen).

    Eine gewisse, von funktionellen oder organisatorischen Gegebenheiten
herrührende Besorgnis der Voreingenommenheit kann bei den Parteien dann
entstehen, wenn sich ein Richter bereits in einem früheren Zeitpunkt in
amtlicher Funktion mit der konkreten Streitsache befasst hatte. Das
Bundesgericht hat zu diesem Umstand der sogenannten Vorbefassung
ausgeführt, es könne nicht allgemein gesagt werden, in welchen Fällen
die Tatsache, dass ein Richter schon zu einem früheren Zeitpunkt in
der betreffenden Angelegenheit tätig war, unter dem Gesichtswinkel von
Verfassung und Konvention die Ausstandspflicht begründe, und in welchen
Fällen das nicht zutreffe. Als massgebendes Kriterium für die Beurteilung
dieser Frage im Einzelfall hielt es aber fest, es sei generell zu fordern,
dass das Verfahren in bezug auf den konkreten Sachverhalt und die konkret
zu entscheidenden Rechtsfragen trotz der Vorbefassung als offen erscheine
und nicht der Anschein der Vorbestimmtheit erweckt werde (BGE 116 Ia 34
f. E. 3a mit Hinweisen).

    b) Der Beschwerdeführer macht geltend, Oberrichter Wuffli habe das
Begehren um Haftentschädigung deshalb nicht unvoreingenommen beurteilen
können, weil er in dieser Sache seinerzeit die Haftverlängerung bewilligt
und ein Haftentlassungsgesuch abgewiesen habe. Er ist der Ansicht, ein
Richter, der - wenn auch in gesetzlicher Weise - durch seine Verfügungen
zur zehnmonatigen Dauer einer Untersuchungshaft beigetragen habe, befinde
sich in einem Interessenkonflikt; er tendiere dazu, die Entschädigung
niedrig anzusetzen und die für eine Herabsetzung sprechenden Umstände zu
stark zu gewichten. Es bestehe somit zumindest der objektiv gerechtfertigte
Anschein, dass der betreffende Richter die Frage der Haftentschädigung
nicht unvoreingenommen beurteilen könne.

    Nach der erwähnten Rechtsprechung des Bundesgerichts begründet eine
Vorbefassung keine Ausstandspflicht, sofern das betreffende Verfahren
in bezug auf den konkreten Sachverhalt und die konkret zu entscheidenden
Rechtsfragen gleichwohl als offen erscheint. Demnach stand im vorliegenden
Fall einer Mitwirkung von Oberrichter Wuffli im Haftentschädigungsverfahren
dann nichts entgegen, wenn der Ausgang dieses Verfahrens trotz dem Umstand,
dass er in dieser Angelegenheit schon als Haftrichter geamtet hatte,
als offen erschien und nicht der Anschein der Vorbestimmtheit erweckt
wurde. Ob dies zutraf, hängt davon ab, welche Fragen Oberrichter Wuffli
bei der Behandlung der Gesuche um Haftverlängerung bzw. Haftentlassung
zu prüfen hatte und über welche Fragen er später beim Entscheid über die
Haftentschädigung befinden musste. Bei der Beurteilung der Begehren um
Hafterstreckung bzw. Haftentlassung war zu prüfen, ob die in § 67 der
Strafprozessordnung des Kantons Aargau (StPO) genannten Voraussetzungen
für die Fortdauer der Haft erfüllt seien, d.h. ob der Beschwerdeführer
einer mit Freiheitsstrafe bedrohten Handlung dringend verdächtig sei
und ob zudem einer der besonderen Haftgründe (Flucht-, Kollusions- oder
Fortsetzungsgefahr) bestehe. Demgegenüber ging es beim späteren Entscheid
über die Haftentschädigung um andere Fragen. Hier war zunächst abzuklären,
ob der Beschwerdeführer das Strafverfahren durch ein verwerfliches
oder leichtfertiges Benehmen verursacht oder erschwert habe, in welchem
Falle eine Entschädigung hätte verweigert werden können (§ 164 Abs. 3
in Verbindung mit § 140 Abs. 1 StPO). Nachdem ein derartiges Verhalten
verneint worden war, musste geprüft werden, ob und in welchem Umfang der
Beschwerdeführer durch die erstandene Untersuchungshaft einen Schaden
(finanzielle Nachteile; immaterielle Unbill) erlitten habe. Da somit
in den beiden Verfahrensabschnitten (Haftprüfungsverfahren einerseits,
Haftentschädigungsverfahren anderseits) nicht die gleichen Fragen zu
beurteilen waren, kann objektiv betrachtet nicht gesagt werden, der Ausgang
des Haftentschädigungsverfahrens vor Obergericht sei wegen des Umstandes,
dass Oberrichter Wuffli seinerzeit die Untersuchungshaft verlängert
und ein Haftentlassungsbegehren des Beschwerdeführers abgewiesen hatte,
nicht mehr offen gewesen. Wenn der Beschwerdeführer meint, bei personeller
Identität von Haftprüfungs- und Haftentschädigungsrichter sei wegen des in
einem solchen Fall bestehenden Interessenkonflikts eine unvoreingenommene
Beurteilung der Entschädigungsfrage ausgeschlossen, so handelt es sich
dabei um sein subjektives Empfinden, auf das nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung nicht abgestellt werden kann. Bei objektiver Betrachtung
lässt sich allein aus der Tatsache, dass der Haftentschädigungsrichter
in der betreffenden Angelegenheit bereits als Haftprüfungsrichter tätig
war, nicht ableiten, er könne deswegen das Begehren um Haftentschädigung
nicht mehr unvoreingenommen beurteilen. Es müsste in einem solchen Fall
ein bestimmtes, den Anschein der Befangenheit erweckendes persönliches
Verhalten des Richters hinzukommen, damit dessen Ausstand verlangt werden
könnte. In diesem Sinne hat übrigens der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte bei der Beurteilung der Frage, ob die Personalunion von
Haftrichter und Sachrichter mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar sei, erklärt,
die Tatsache, dass der Sachrichter in der betreffenden Strafsache bereits
Verfügungen über die Verlängerung der Haft getroffen habe, genüge für sich
allein nicht, um den Sachrichter als befangen abzulehnen; vielmehr müssten
hiefür im Einzelfall bestimmte Umstände hinzukommen, die den Schluss auf
Voreingenommenheit zuliessen (Urteil des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte vom 24. Mai 1989 i.S. Hauschildt, Publications de la Cour
européenne des droits de l'homme, Série A, vol. 154, Ziff. 50-52). Auch
das Bundesgericht hat bisher bei personeller Identität von Haftrichter
und Sachrichter eine Ausstandspflicht nur in einem Fall bejaht, in welchem
aufgrund bestimmter Äusserungen, mit denen der Sachrichter seinerzeit als
Haftrichter die Untersuchungshaft mehrmals verlängert hatte, der Eindruck
der Voreingenommenheit erweckt worden war (Urteil vom 5. Juli 1989 i.S. X.,
publiziert in BGE 115 Ia 180 ff. und EuGRZ 1989, S. 330 f.).

    Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es nicht gegen Art. 58 Abs. 1
BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK verstösst, wenn derjenige Richter, der in einer
Strafsache als Haftrichter tätig war, später auch beim Entscheid über die
Haftentschädigung mitwirkt. Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt
als unbegründet.