Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 IA 28



116 Ia 28

4. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 2. Mai
1990 i.S. X. gegen Y. und weitere Beteiligte, die Staatsanwaltschaft des
Kantons St. Gallen und den Präsidenten des Kantonsgerichts St. Gallen
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 58 Abs. 1 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK.

    1. Weist eine kantonale Kassationsinstanz bei Gutheissung einer
Nichtigkeitsbeschwerde die Sache an die Vorinstanz zurück, stellt die
Mitwirkung der am aufgehobenen Entscheid beteiligten Gerichtspersonen
bei der Neubeurteilung der Sache für sich allein keinen Fall unzulässiger
Vorbefassung dar (E. 2a).

    2. Ob die Erklärung von Gerichtspersonen, wonach sie sich befangen
fühlen, einen Umstand darstellt, welcher das Misstrauen des Angeschuldigten
in das Gericht als objektiv gerechtfertigt erscheinen lässt und den Vorwurf
der Befangenheit zu begründen vermag, kann nur aufgrund der Umstände des
Einzelfalls beantwortet werden. Frage im vorliegenden Fall bejaht (E. 2c).

Sachverhalt

    A.- Am 19. November 1986 erklärte das Bezirksgericht Gaster X. der
fortgesetzten Notzucht, der fortgesetzten Nötigung zu anderen unzüchtigen
Handlungen, der Freiheitsentziehung und der versuchten Nötigung schuldig
und verurteilte ihn zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus sowie zur Übernahme
der Verfahrenskosten. Dem Tatopfer, der als Straf- und Privatklägerin
auftretenden Y., sprach das Gericht zulasten des Verurteilten eine
Parteientschädigung von Fr. 2'260.-- sowie eine Genugtuung von
Fr. 10'000.-- zu.

    Seinem Schuldspruch legte das Bezirksgericht ausser der von
Y. gegebenen Täterbeschreibung die Expertisierung der an ihrem Wagen,
an ihren Kleidern und an denjenigen von X. gesicherten Mikrospuren sowie
gerichtsmedizinische Untersuchungen zugrunde. Das Gericht führte dazu aus,
die Kombination dieser Beweismittel schliesse alle praktischen Zweifel
an der Täterschaft von X. aus, woran auch das von ihm vorgebrachte,
ausgesprochen konstruierte Alibi nichts zu ändern vermöge. Die von seiner
Ehefrau Z. gegenüber der Polizei dazu gemachten Aussagen bezeichnete das
Bezirksgericht als zu unpräzis, als dass sie die Beweislage massgebend
hätten verändern und somit ihre Einvernahme als Zeugin hätten rechtfertigen
können.

    Gegen dieses Urteil reichte X. Berufung ein, welche von der Strafkammer
des Kantonsgerichts St. Gallen am 18. April 1988 abgewiesen wurde. Wie
zuvor das Bezirksgericht erachtete das Kantonsgericht eine Befragung von
Z. angesichts der Ungenauigkeit der von ihr kaum zwei Tage nach der Tat
gemachten Aussagen sowie ihrer Interessenlage als damaliger Gattin des
Angeklagten als erlässlich.

    Mit Entscheid des Kassationsgerichts des Kantons St. Gallen vom
2. Dezember 1988 wurde die von X. gegen das Urteil des Kantonsgerichts
erhobene Nichtigkeitsbeschwerde geschützt. Sein Urteil begründete das
Kassationsgericht unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass die Tatsachen,
zu deren Beweis die Ehefrau des Angeklagten als Zeugin angerufen worden
sei, im Rahmen des vom Kantonsgericht geführten Indizienbeweises nicht
unwesentlich seien, da ihre Aussagen zu verschiedenen Punkten bestehende
Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten ausräumen oder aber als
begründet erscheinen lassen könnten. Den in Verletzung der Parteirechte des
Angeklagten ergangenen Schuldspruch hob das Kassationsgericht deshalb auf
und wies die Sache zur Ergänzung der Beweise an das Kantonsgericht zurück.

    Mit Schreiben vom 6. April 1989 verlangte X. den Ausstand der am
Urteil des Kantonsgerichts vom 18. April 1988 beteiligten Gerichtspersonen,
da nicht erwartet werden könne, dass sie von ihrer damaligen Überzeugung
Abstand zu nehmen und insbesondere die vom Kassationsgericht angeordnete
Einvernahme von Z. unvoreingenommen zu würdigen in der Lage seien. In ihrer
Stellungnahme zu diesem Gesuch beantragten die abgelehnten Kantonsrichter,
dem Ablehnungsbegehren stattzugeben, da der Anschein ihrer Befangenheit
nicht verneint werden könne und sie sich persönlich auch nicht völlig
unbefangen fühlen würden. Mit Entscheid vom 30. Juni 1989 wurde das
Ausstandsbegehren vom Präsidenten des Kantonsgerichts abgewiesen.

    Gegen diesen Entscheid gelangt X. mit staatsrechtlicher Beschwerde
an das Bundesgericht. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde, mit der
eine Verletzung von Art. 58 BV und 6 EMRK gerügt wird, gut aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Eine gewisse Besorgnis der Voreingenommenheit und damit
Misstrauen in das Gericht kann bei den Parteien immer dann entstehen,
wenn einzelne Gerichtspersonen in einem früheren Verfahrensstadium
mit der konkreten Streitsache schon einmal zu tun hatten (BGE 114 Ia
145 E. b, mit Hinweisen). Weist eine kantonale Kassationsinstanz bei
Gutheissung einer Nichtigkeitsbeschwerde die Sache an die Vorinstanz
zurück, stellt die Mitwirkung der am aufgehobenen Entscheid beteiligten
Gerichtspersonen bei der Neubeurteilung der Sache für sich allein keinen
Fall unzulässiger Vorbefassung, mithin keinen Ausstandsgrund dar. Somit
gelten nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung unter Vorbehalt besonderer
Umstände die an einem kassierten Urteil beteiligten Gerichtspersonen
im neuen unterinstanzlichen Verfahren trotz ihrer früheren Mitwirkung
nicht als befangen (BGE 114 Ia 58, mit Hinweisen). Solche besonderen,
eine Ausnahme von diesem Grundsatz rechtfertigenden Verhältnisse liegen
hier indessen vor.

    b) Dem der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde von X. beschiedenen Erfolg
liegt unter anderem die Gutheissung der Rüge zugrunde, das Kantonsgericht
habe es zu Unrecht abgelehnt, die damalige Ehefrau des Beschwerdeführers
als Zeugin einzuvernehmen. Das Kantonsgericht hat im aufgehobenen Entscheid
in unzweideutiger Weise die beantragte Zeugin aufgrund ihrer besonderen
Interessenlage als Ehefrau des Angeklagten als unglaubwürdig und den Inhalt
ihrer Aussagen sowohl angesichts der gegebenen Beweislage als auch der
Ungenauigkeit ihrer wenige Tage nach der Tat vor der Polizei gemachten
Angaben als unerheblich bezeichnet. An dieser generellen Würdigung ändert
der Umstand, dass sich das Kantonsgericht zu den vom Kassationsgericht
als offen bezeichneten Einzelfragen konkret noch gar nie geäussert
hat, nichts. Die Kammer war in antizipierender Beweiswürdigung davon
ausgegangen, dass die Aussagen von Z., wie diese auch immer ausfallen
möchten, den Angeklagten nicht zu entlasten und an der vollen gerichtlichen
Überzeugung von seiner Schuld nichts zu ändern vermöchten. Jener
Überzeugung kommt in einem weitgehend auf Indizien gestützten Prozess
wie dem vorliegenden besondere Bedeutung zu. Wird von Mitgliedern eines
Strafgerichts jedoch erwartet, dass sie ihren Schuldspruch nicht nur auf
eine objektiv für die Tatschuld sprechende Beweislage, sondern auch auf
ihre persönliche Gewissheit hinsichtlich dieser Schuld stützen (NIKLAUS
SCHMID, Strafprozessrecht, Zürich 1989, S. 80; NIKLAUS OBERHOLZER,
Grundzüge des st. gallischen Strafprozessrechts, St. Gallen 1988,
S. 165), so steht zu befürchten, dass, sollten nach Aufhebung ihres
Urteils und Rückweisung der Streitsache die gleichen Gerichtspersonen
neu zu entscheiden haben, diese ausserstande seien, nochmals völlig
unvoreingenommen an die Sache heranzugehen. Diese Befürchtung erweist
sich im vorliegenden Fall dadurch als begründet, dass die betreffenden
Gerichtspersonen bei dieser Sachlage auf ihre Überzeugung zurückkommen
und entgegen ihrer persönlichen Gewissheit Beweismassnahmen ausführen
sowie deren Ergebnisse werten müssten. Dementsprechend lautet denn auch
die von den abgelehnten Richtern abgegebene zustimmende Stellungnahme
zum Ablehnungsbegehren des Beschwerdeführers.

    c) Darin bringen diese nicht nur zum Ausdruck, dass ihre Überzeugung
von der Täterschaft des Angeklagten derart gross sei, dass eine vollkommen
vorurteilslose Auseinandersetzung mit der Aussage von Z. nicht ohne Mühe
zu bewerkstelligen wäre, sondern dass sie sich "persönlich auch nicht
völlig unbefangen fühlen".

    Dass nicht jede Erklärung, mit welcher eine Gerichtsperson den Ausstand
erklärt oder ein gegen sie gerichtetes Ablehnungsbegehren unterstützt,
unbesehen hingenommen werden darf, ergibt sich aus der verfassungsmässigen
Garantie einer durch Rechtssatz bestimmten Gerichtsordnung (BGE 105 Ia
162 E. c). Angesichts des Eindrucks, welchen eine solche Erklärung bei
einem Angeklagten erwecken muss, darf andererseits nicht leichthin und
jedenfalls nicht ohne konkrete Anhaltspunkte angenommen werden, dass sich
die betreffenden Gerichtspersonen in dieser Weise aus sachfremden Gründen
der Mitwirkung an einem Verfahren entschlagen wollen. Solche Anhaltspunkte
bestehen im vorliegenden Fall nicht. Erscheinen die Befürchtungen
der Kantonsrichter, sie könnten die an sie zurückgewiesene Strafsache
nicht mehr unvoreingenommen beurteilen, angesichts der konkreten, unter
lit. b dieser Erwägung dargelegten Umstände als ernstlich begründet,
erweist sich die Rüge der Verletzung der verfassungsmässigen Garantie des
unvoreingenommenen Gerichts als begründet. Die staatsrechtliche Beschwerde
ist demnach gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben.