Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 V 77



115 V 77

11. Urteil vom 13. April 1989 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen
M. und Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen, Basel Regeste

    Art. 23 Abs. 2 AHVG. Das Erfordernis der mindestens zehnjährigen
Ehedauer für den Anspruch einer geschiedenen Frau auf eine Witwenrente
ist absolut zu verstehen. Für eine extensive Auslegung in Analogie zu
Art. 50 und Art. 52ter Abs. 2 AHVV besteht kein Raum.

Sachverhalt

    A.- Rösli M. (geb. 1937) heiratete am 27. Juni 1963. Am 5.  Juni
1973 wurde die Ehe rechtskräftig geschieden, wobei sich der Ehemann
in der gerichtlich genehmigten Scheidungskonvention unter anderem zu
Unterhaltszahlungen an die Ehefrau verpflichtete.

    Nachdem der frühere Ehemann der Versicherten am 9. Mai 1987 verstorben
war, gewährte die Ausgleichskasse der graphischen und papierverarbeitenden
Industrie der Schweiz (AGRAPI) Rösli M. am 21. August 1987 verfügungsweise
eine Witwenrente von Fr. 1'152.-- ab 1. Juni 1987 nebst einer einfachen
Waisenrente für den 1965 geborenen Sohn.

    Mit Verfügung vom 20. Januar 1988 eröffnete die Ausgleichskasse
Rösli M., mangels zehn vollen Ehejahren bestehe kein Anspruch auf
eine Witwenrente; die seit 1. Juni 1987 ausgerichteten Betreffnisse im
Gesamtbetrag von Fr. 9'264.-- seien daher zurückzuerstatten.

    B.- Rösli M. liess beschwerdeweise die Aufhebung der
Rückforderungsverfügung und Weitergewährung der Witwenrente beantragen. Die
Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen, Basel, betrachtete
das Erfordernis der zehnjährigen Ehedauer in Analogie zu anderen
Bestimmungen des Sozialversicherungsrechts, wonach bei Vorliegen der
verlangten Voraussetzungen während mehr als elf Monaten ein ganzes Jahr
angerechnet wird, als erfüllt und hiess die Beschwerde mit Entscheid vom
7. Juli 1988 gut.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) die Aufhebung des kantonalen Entscheides und
die Wiederherstellung der angefochtenen Verfügung.

    Die Versicherte liess sich nach Ablauf der angesetzten Frist vernehmen;
die Ausgleichskasse verweist auf die im vorinstanzlichen Verfahren
eingereichte Stellungnahme und enthält sich eines formellen Antrages.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Unbeachtlichkeit der verspätet eingereichten Vernehmlassung
der Beschwerdegegnerin)

Erwägung 2

    2.- (Kognition)

Erwägung 3

    3.- a) Gemäss Art. 23 Abs. 2 AHVG hat die geschiedene Frau nach dem
Tode des geschiedenen Ehemannes unter den gleichen Voraussetzungen wie
eine Witwe Anspruch auf eine Witwenrente, sofern der Mann ihr gegenüber
zu Unterhaltsbeiträgen verpflichtet war und die Ehe mindestens zehn Jahre
gedauert hat.

    b) Es steht nach der Aktenlage fest und ist unbestritten, dass
die am 27. Juni 1963 eingegangene Ehe der Beschwerdegegnerin bis zur
Rechtskraft des Scheidungsurteils am 5. Juni 1973 neun Jahre, elf Monate
und acht Tage gedauert hat. Da die Beschwerdegegnerin als Mutter dreier
Kinder die in Art. 23 Abs. 1 lit. a AHVG enthaltene Voraussetzung für
einen Witwenrentenanspruch erfüllt und gemäss gerichtlich genehmigter
Scheidungskonvention vom 24. Januar 1973 unterhaltsberechtigt war, ist im
vorliegenden Verfahren einzig zu prüfen, ob Art. 23 Abs. 2 AHVG im Sinne
der Argumentation der Beschwerdegegnerin im kantonalen Verfahren und des
vorinstanzlichen Entscheides so auszulegen ist, dass bei der Berechnung
der Frist angebrochene Monate voll zu zählen sind.

Erwägung 4

    4.- a) (Auslegung des Gesetzes)

    b) Der Wortlaut des Art. 23 Abs. 2 AHVG ist klar und lässt für
Auslegungen keinen Raum. Auch in den Gesetzesmaterialien finden sich
keine Anhaltspunkte für eine vom Text abweichende Interpretation. Der
Grundgedanke, auf dem diese erst im Laufe der nationalrätlichen Beratung
zum AHVG eingefügte Bestimmung basiert, nämlich dass Missbräuche sowie
die Auszahlung von Renten an mehrere geschiedene Frauen desselben
Mannes wenn möglich vermieden werden sollen (Protokoll der Kommission
des Nationalrates, 2. Sitzung vom 28. August 1946, S. 17 ff.), weist
vielmehr darauf hin, dass der Gesetzgeber die zehnjährige Ehemindestdauer
als Voraussetzung für den Anspruch auf eine Witwenrente keiner extensiven
Auslegung zugänglich machen wollte. Es ist denn auch der Sinn einer
gesetzlich festgelegten Limite, klar bestimmbare Abgrenzungen zu schaffen.
Dieses Bedürfnis besteht in allen Bereichen des Rechts und findet sich
in positivrechtlicher Ausgestaltung in vielen Gesetzen. Die mit solch
präzisen Grenzen verbundenen Härten sind im Interesse der Rechtssicherheit
und Rechtsgleichheit bewusst in Kauf genommen worden.

    c) Sodann ist darauf hinzuweisen, dass das Eidg. Versicherungsgericht
in einem vergleichbaren Fall in Anwendung von Art. 23 Abs. 1 lit. d AHVG
erkannt hat, dass von der dort erwähnten fünfjährigen Ehedauer nicht
abgewichen werde, auf die tatsächliche Ehedauer (8. Juni 1972 bis 27. Mai
1977) abgestellt und keine Anrechnung des angebrochenen Monats vorgenommen
werde (nicht publiziertes Urteil I. vom 1. März 1978).

Erwägung 5

    5.- a) Für eine analoge Anwendung von Art. 29 Abs. 2 IVG sowie
Art. 50 und 52ter Abs. 2 AHVV besteht entgegen der Argumentation
in der kantonalen Beschwerde und im vorinstanzlichen Entscheid kein
Raum. Soweit ein Analogieschluss überhaupt zulässig ist, setzt er "eine
Gleichheit oder zumindest starke Ähnlichkeit zwischen dem vom Gesetz
erfassten und dem zu beurteilenden Tatbestand voraus" (IMBODEN/RHINOW,
Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 6. Aufl., Bd. I, S. 172 mit
Hinweis). Die von der Vorinstanz als Auslegungshilfe herangezogenen
Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen beziehen sich indessen auf völlig
andere Tatbestände als den vorliegend zu beurteilenden. Art. 29 Abs. 2 IVG
stellt eine Sondernorm dar mit dem offenkundigen Zweck, die Auszahlung von
Bruchteilen der monatlichen Rentenbetreffnisse durch Aufrundung zugunsten
des Versicherten zu vermeiden (ZAK 1989 S. 48). Art. 50 und Art. 52ter
Abs. 2 AHVV sind reine Berechnungsvorschriften und definieren den im Gesetz
enthaltenen Begriff des vollen Beitragsjahres. Demgegenüber umschreibt
Art. 23 Abs. 2 AHVG die Voraussetzungen des Rentenanspruchs überhaupt.

    b) Das BSV weist sodann mit Recht darauf hin, dass auch die Ordnung
des Art. 23 Abs. 3 AHVG in Verbindung mit Art. 46 Abs. 3 AHVV zu
beachten ist, wonach der durch Wiederverheiratung erloschene Anspruch
auf eine Witwenrente bei Auflösung der zweiten Ehe durch Scheidung oder
Ungültigerklärung wiederauflebt, wenn die neue Ehe weniger als zehn Jahre
gedauert hat. Wegen der Einheitlichkeit des Begriffs einer zehnjährigen
Ehedauer müsste auch in diesem Falle bei einer während mindestens neun
Jahren und elf Monaten bestandenen Ehe auf zehn volle Jahre aufgerundet
werden, was sich hinsichtlich der Rentenberechtigung negativ auswirken
und das Wiederaufleben des Witwenrentenanspruchs verhindern würde.

    c) Schliesslich kann aus dem Umstand, dass das
Eidg. Versicherungsgericht die Rechtsprechung bezüglich der in Art. 23
Abs. 2 AHVG enthaltenen Unterhaltsverpflichtung des Ehemannes zugunsten
der Rentenansprecherin gelockert hat (BGE 110 V 242, insbesondere 246
Erw. 2b), nichts für den vorliegenden Fall abgeleitet werden.

Erwägung 6

    6.- Zusammenfassend ist festzustellen, dass kein Grund besteht,
vom klaren Gesetzeswortlaut abzuweichen. Von einer "einschränkenden"
Interpretation von Art. 23 Abs. 2 AHVG kann nicht die Rede
sein. Ebensowenig vermag der Umstand, dass eine Verschiebung des
Scheidungstermins oder die Verzögerung der Rechtskraft mittels Appellation
ohne weiteres möglich gewesen wäre, etwas zu ändern. Der Anspruch der
Beschwerdegegnerin auf eine Witwenrente ist nach dem Gesagten zu verneinen,
und die Verfügung der Ausgleichskasse AGRAPI ist zu bestätigen.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid
der Kantonalen Rekurskommission für die Ausgleichskassen, Basel, vom
7. Juli 1988 aufgehoben.