Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 V 352



115 V 352

47. Auszug aus dem Urteil vom 2. November 1989 i.S. W. gegen Amt für
Sozialbeiträge Basel-Stadt und Kantonale Rekurskommission für die
Ausgleichskassen, Basel Regeste

    Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG: Anrechnung von Vermögen.  Voraussetzungen und
Schranken für die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG. Anwendbarkeit
verneint im Falle einer Versicherten, welche nach der Pensionierung über
ihre Verhältnisse lebt, dabei ihr Barvermögen aufbraucht und sich hernach
für Ergänzungsleistungen anmeldet.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- a) Über die Entwicklung des Vermögensstandes lässt sich den
Akten folgendes entnehmen. Anlässlich der Pensionierung zahlte die
bisherige Arbeitgeberin Ende September/anfangs Oktober 1985 in zwei
Tranchen ein Kapital von total Fr. 86'948.-- aus, so dass das Barvermögen
der Beschwerdeführerin sich auf Fr. 88'597.-- belief. Davon waren am
1. Januar 1986 noch Fr. 50'622.-- vorhanden und am 1. Januar 1987 bloss
noch Fr. 700.80.

    Streitig ist, ob für die Beurteilung des Ergänzungsleistungsanspruchs
vom tatsächlichen Vermögensstand am jeweiligen Stichtag auszugehen oder
ob in Anwendung von Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG ein hypothetisches Vermögen
zu berücksichtigen ist.

    b) Das Amt für Sozialbeiträge Basel-Stadt (nachfolgend
Kantonales Amt) ermittelte ein hypothetisches Vermögen. Ausgehend vom
Vermögensstand anfangs Oktober 1985 von Fr. 88'597.-- akzeptierte es
eine Vermögensverminderung bloss im Ausmass belegter Schulden- und
Steuerzahlungen sowie eines normalen Verbrauchs für den allgemeinen
Lebensunterhalt in Höhe von Fr. 20'000.-- im Jahr. Dies führte für den
1. Januar 1986 zu einem hypothetischen Vermögen von Fr. 55'680.-- und
für den 1. Januar 1987 von Fr. 32'680.--.

    Demgegenüber bringt die Beschwerdeführerin sinngemäss vor,
es müsse vom tatsächlichen Vermögensstand ausgegangen werden. So
wies sie in der vorinstanzlichen Beschwerde auf ihre nunmehrige
Mittellosigkeit hin und wandte ein, sie dürfe nicht dafür bestraft
werden, weil sie ihr Vermögen zu rasch verbraucht habe. In ihrer
Verwaltungsgerichtsbeschwerde rügt sie, dass die bereits gegenüber dem
Kantonalen Amt belegten Ausgaben nicht berücksichtigt worden seien. In der
Beilage zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde beziffert sie diese Ausgaben
von September 1985 bis September 1986 auf insgesamt Fr. 53'176.05,
wozu noch weiter nicht belegte Kosten für den Lebensunterhalt und für
verschiedene Auslandreisen hinzukämen.

    Während sich das Bundesamt für Sozialversicherung zur Frage, welches
Vermögen anzurechnen ist, nicht vernehmen lässt und sich insbesondere
auch nicht zur vorgängig eingeholten Stellungnahme des Kantonalen Amtes
äussert, bringt letzteres vor, dass ein über die Normalitätsgrenze von
Fr. 20'000.-- im Jahr hinausgehender Vermögensverbrauch, für den keine
objektive Notwendigkeit bestehe, Verzicht im Sinne von Art. 3 Abs. 1
lit. f ELG darstelle, "in welchem Verschenk und Verputz eingeschlossen
sind". Der Auffassung des Kantonalen Amtes kann aus den folgenden Gründen
nicht beigepflichtet werden.

    c) Die Ergänzungsleistungen bezwecken eine angemessene Deckung des
Existenzbedarfs (vgl. Art. 34quater Abs. 2 BV in Verbindung mit Art. 11
Abs. 1 ÜbBest. BV; BGE 108 V 241). Bedürftigen Rentnern der AHV und IV
soll ein regelmässiges Mindesteinkommen gesichert werden (bundesrätliche
Botschaft zum Entwurf eines Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen vom
21. September 1964; BBl 1964 II 689, 692 und 694). Die Einkommensgrenzen
haben dabei die doppelte Funktion einer Bedarfslimite und eines
garantierten Mindesteinkommens (BBl 1964 II 691; BGE 113 V 285 Erw. 5b
mit Literaturhinweisen, 103 V 28 Erw. 2b). Es gilt deshalb der Grundsatz,
dass bei der Anspruchsberechtigung nur tatsächlich vereinnahmte Einkünfte
und vorhandene Vermögenswerte zu berücksichtigen sind, über die der
Leistungsansprecher ungeschmälert verfügen kann (BGE 110 V 21 Erw. 3;
ZAK 1989 S. 329 Erw. 3b, 1988 S. 255 Erw. 2b). Anderseits findet dieser
Grundsatz dort eine Einschränkung, wo der Versicherte ohne rechtliche
Verpflichtung und ohne adäquate Gegenleistung auf Vermögen verzichtet hat,
wo er einen Rechtsanspruch auf bestimmte Einkünfte und Vermögenswerte hat,
davon aber faktisch nicht Gebrauch macht bzw. seine Rechte nicht durchsetzt
(ZAK 1989 S. 329 Erw. 3b, 1988 S. 255 Erw. 2b), oder wo der Ansprecher
aus von ihm zu verantwortenden Gründen von der Ausübung einer möglichen
Erwerbstätigkeit absieht (vgl. ZAK 1987 S. 544, 1984 S. 97, 1983 S. 262,
1982 S. 137).

    Im unveröffentlichten Urteil K. vom 10. Mai 1983 hat das Eidg.
Versicherungsgericht im ähnlich gelagerten Fall eines Altersrentners, der
bislang bescheiden gelebt hatte, dem bei der Pensionierung vom Arbeitgeber
ein Kapital ausgerichtet worden war und der einen Teil seines Vermögens
für Auslandreisen, Zahnbehandlung, Anschaffungen und auswärtiges Essen
ausgegeben hatte, einen Anwendungsfall im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. f
ELG verneint und dazu ausgeführt:

    "L'expérience de la vie enseigne qu'un tel comportement est fréquent
   dans des situations de ce genre et même si le recourant devait être
   taxé d'imprévoyance, on ne saurait dire pour autant qu'il ait manifesté
   une intention dolosive au sens des principes rappelés plus haut. Au
   demeurant, en édictant l'art. 3 al. 1 let. f LPC, le législateur n'a
   sans doute pas voulu sanctionner l'assuré prodigue. Il s'agissait
   avant tout d'empêcher qu'un assuré se dessaisisse de tout ou partie
   de ses biens au profit d'un tiers, sans obligation juridique et de
   manière à diminuer le revenu déterminant le droit aux prestations
   complémentaires et leur montant. Mais l'assuré qui dépense sa fortune
   pour acquérir des biens de consommation, ou pour améliorer son train
   de vie, use de sa liberté personnelle et ne saurait tomber sous le
   coup de cette disposition."

    Das Eidg. Versicherungsgericht hat damit nicht bloss die - altrechtlich
noch verlangte - Umgehungsabsicht verneint, sondern bereits auch eine
relevante Verzichtshandlung. Der Umstand, dass ab 1. Januar 1987 für die
Anwendung von Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG eine Umgehungsabsicht nicht mehr
vorausgesetzt ist, kann darum unter der Herrschaft des neuen Rechts zu
keinem andern Ergebnis führen. Mit andern Worten wäre der erwähnte Fall
K. heute gleich zu beurteilen.

    d) Das Vermögen der Beschwerdeführerin betrug, wie erwähnt, am
1. Januar 1986 Fr. 50'622.-- und am 1. Januar 1987 noch Fr. 700.80. Weil
die Beschwerdeführerin ihr Vermögen von ursprünglich rund Fr. 88'000.--
innert 15 Monaten praktisch ganz verbraucht hatte, war das Kantonale Amt
gehalten, den Gründen hiefür nachzugehen und von der Beschwerdeführerin
entsprechende Auskünfte zu verlangen. Und zwar erwiesen sich solche
Abklärungen als notwendig im Hinblick auf die Beantwortung der Frage,
ob der Beschwerdeführerin nach der alten bzw. - ab 1. Januar 1987 - nach
der neuen Fassung von Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG hypothetisches Vermögen
anzurechnen ist. Von den in Erw. 5c hievor genannten Einschränkungen
zum Grundsatz, wonach vom tatsächlichen Vermögensstand auszugehen ist,
kommt dabei im vorliegenden Falle nur jene der Vermögenshingabe ohne
rechtliche Verpflichtung und ohne adäquate Gegenleistung in Betracht. Muss
eine solche verneint werden, so lässt sich eine Vermögensanrechnung
weder nach der alten noch nach der neuen Fassung von Art. 3 Abs. 1
lit. f ELG damit begründen, die Beschwerdeführerin habe nach Erhalt
der Barauszahlung über ihre Verhältnisse gelebt. Das Kantonale Amt
verkennt in seiner Vernehmlassung, dass das Ergänzungsleistungssystem
keine gesetzliche Handhabe dafür bietet, eine wie auch immer geartete
"Lebensführungskontrolle" vorzunehmen und danach zu fragen, ob ein
Gesuchsteller in der Vergangenheit innerhalb oder überhalb einer
"Normalitätsgrenze" gelebt hat, welche im übrigen erst noch näher
umschrieben werden müsste. Vielmehr haben die Ergänzungsleistungsbehörden
von den tatsächlichen Verhältnissen auszugehen, dass ein Gesuchsteller
nicht über die notwendigen Mittel zur angemessenen Deckung des
Existenzbedarfs verfügt, und - unter Vorbehalt der Einschränkungen nach
Massgabe von Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG - nicht danach zu fragen, warum
dies so ist.

    e) Die von der Beschwerdeführerin eingereichten Belege über Ausgaben
von September 1985 bis September 1986 ergeben folgendes Bild:
                                                   1985            1986

    Rückzahlung privater Schulden              Fr.  6'777.50   Fr.
8'000.--

    Steuern                                    Fr. 11'497.60   Fr.
--.--

    Mietzins                                   Fr.  1'560.--   Fr.
3'540.--

    Krankenkasse                               Fr.    550.50   Fr.
1'728.--

    PTT                                        Fr.    317.70   Fr.
971.15

    Anschaffungen mit Kreditkarte              Fr.  3'582.50   Fr.
7'686.50

    Anschaffungen V. SA                        Fr.     --.--   Fr.
1'018.30

    Tickets für verschiedene

    Flugreisen (Mallorca, Madeira, New York) Fr.    515.--   Fr.  3'070.--

    Zahnarzt, Brille                           Fr.    300.--   Fr.
261.--

    Schreinerarbeit und Bodenbelag             Fr.     --.--   Fr.
630.--

    Hausratversicherung                        Fr.    245.40   Fr.
--.--

    Diverse Rechnungen                         Fr.    400.--   Fr.
160.--
                                              -------------   -------------

    Saldo                                      Fr. 25'746.20
Fr. 27'064.95

    Mit diesen Ausgaben ist eine Verminderung des ursprünglichen Vermögens
von Fr. 88'597.-- auf Fr. 35'785.85 belegt. Der weitere Vermögensrückgang
bis zum letztendlichen Stand von Fr. 700.80 am 1. Januar 1987 lässt sich
dabei mit sonstigen Aufwendungen für die diversen Auslandaufenthalte
einerseits sowie mit den Verpflegungskosten zu Hause und übrigen
Baranschaffungen erklären. Dass die Beschwerdeführerin ihr Vermögen durch
kleinere bzw. grössere Barbezüge am Bankschalter bzw. Bankomat gleichsam
"portionenweise" verbraucht hat, um "etwas besser zu leben", als sie dies
bisher gewohnt war, ergibt sich sodann auch aus den Auszügen ihrer beiden
Konten. Hingegen sind keine Anhaltspunkte für eine Vermögenshingabe ohne
rechtliche Verpflichtung und ohne adäquate Gegenleistung ersichtlich. Das
Kantonale Amt macht denn auch diesbezüglich nichts geltend. Unter diesen
Umständen besteht keine Veranlassung zur Anrechnung eines hypothetischen
Vermögens.