Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 V 347



115 V 347

46. Auszug aus dem Urteil vom 17. August 1989 i.S. Ausgleichskasse des
Kantons Bern gegen L. und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    ÜbBest. 2. IVG-Revision: Besitzstandswahrung. Die Besitzstandswahrung
gemäss ÜbBest. 2. IVG-Revision Abs. 2 gilt ausschliesslich für jene
altrechtlichen Härtefallrenten, die aufgrund eines Invaliditätsgrades
zwischen 33 1/3% und 40% zugesprochen worden sind.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 28 Abs. 1 IVG in der bis zum 31. Dezember 1987
gültig gewesenen Fassung hat der Versicherte Anspruch auf eine ganze Rente,
wenn er mindestens zu zwei Dritteln, oder auf eine halbe Rente, wenn er
mindestens zur Hälfte invalid ist. Die halbe Rente kann in Härtefällen
auch bei einer Invalidität von mindestens einem Drittel ausgerichtet
werden. Der am 1. Januar 1988 in Kraft getretene neue Absatz 1 von
Art. 28 IVG bestimmt, dass bei einer Invalidität von mindestens 40% eine
Viertelsrente, bei einer Invalidität von 50% eine halbe Rente und bei
einer Invalidität von 66 2/3% eine ganze Rente ausgerichtet wird. Nach
dem ebenfalls seit anfangs 1988 geltenden Absatz 1bis von Art. 28 IVG
hat der Versicherte in Härtefällen bei einem Invaliditätsgrad von 40%
Anspruch auf eine halbe Rente.

    Nach den Übergangsbestimmungen zu der auf den 1. Januar 1988 in Kraft
getretenen zweiten IV-Revision gilt die neue Fassung von Art. 28 IVG
auch für laufende Invalidenrenten (Abs. 1 der Übergangsbestimmungen),
dies mit folgenden Einschränkungen (Abs. 2): Renten, die auf einem
Invaliditätsgrad von weniger als 40% beruhen, sind innerhalb eines Jahres
seit dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung zu revidieren (vgl. Art. 41
IVG). Ergibt die Revision einen Invaliditätsgrad von mindestens 33 1/3%,
so wird der Betrag der bisherigen Rente weiterhin ausgerichtet, solange
die Voraussetzungen des Härtefalles erfüllt sind.

    b) Während die beschwerdeführende Ausgleichskasse und das
Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) die Auffassung vertreten,
unter dem Titel Besitzstandsgarantie dürften gestützt auf Absatz 2 der
gesetzlichen Übergangsbestimmungen vom 1. Januar 1988 hinweg nur solche
Härtefallrenten weitergewährt werden, die unter dem alten Recht aufgrund
eines Invaliditätsgrades von weniger als 40% zugesprochen worden waren,
meint der Beschwerdegegner, diese Gesetzesinterpretation sei falsch; aus
den Gesetzesmaterialien gehe hervor, "dass durch die Übergangsbestimmungen
garantiert werden sollte, dass die bisherigen Rentenbezügerinnen durch
die Gesetzesrevision nicht schlechtergestellt werden als bisher". Das
betreffe insbesondere die Bezüger von Härtefallrenten. Es gebe keinen
Anhaltspunkt dafür und es lasse sich auch nicht sachlich begründen,
dass sich die Besitzstandsgarantie nur auf jene Renten beziehen sollte,
die gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 33 1/3% bis 40% zugesprochen
worden seien. Der kantonale Richter pflichtet im wesentlichen dieser
Auffassung bei.

    c) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist
der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so
muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung
aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der
dem Text zugrunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn,
der einer Norm im Kontext zukommt (BGE 114 Ia 28 Erw. 3c, 114 V 250
Erw. 8a, 113 V 77 Erw. 3b, 113 II 410 Erw. 3a, 112 Ib 469 Erw. 3b, 112
V 171 Erw. 3a und 111 V 127 Erw. 3b). Vom klaren, d.h. eindeutigen und
unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden,
u.a. dann nämlich, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut
nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich
aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck
oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (IMBODEN/RHINOW,
Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Bd. I, 5. Aufl., S. 138).

    Die Vorarbeiten sind für die Gesetzesinterpretation weder verbindlich
noch für die Auslegung unmittelbar entscheidend; denn ein Gesetz entfaltet
ein eigenständiges, vom Willen des Gesetzgebers unabhängiges Dasein, sobald
es in Kraft getreten ist. Insbesondere sind Äusserungen von Stellen oder
Personen, die bei der Vorbereitung mitgewirkt haben, nicht massgebend,
wenn sie im Gesetzestext nicht selber zum Ausdruck kommen. Das gilt selbst
für Äusserungen, die unwidersprochen geblieben sind. Als verbindlich für
den Richter können nur die Normen selber gelten, die von der gesetzgebenden
Behörde in der hierfür vorgesehenen Form erlassen worden sind. Das bedeutet
nun nicht, dass die Gesetzesmaterialien methodisch unbeachtlich wären; sie
können namentlich dann, wenn eine Bestimmung unklar ist oder verschiedene,
einander widersprechende Auslegungen zulässt, ein wertvolles Hilfsmittel
sein, um den Sinn der Norm zu erkennen und damit falsche Auslegungen
zu vermeiden (BGE 112 II 4 und 170 Erw. 2b, 103 Ia 290 Erw. 2c). Wo
die Materialien keine klare Antwort geben, sind sie als Auslegungshilfe
nicht dienlich (BGE 111 V 282). Insbesondere bei verhältnismässig jungen
Gesetzen darf der Wille des historischen Gesetzgebers nicht übergangen
werden (BGE 112 Ia 104 Erw. 6c, 112 Ib 470 Erw. 3b). Hat dieser Wille
jedoch im Gesetzestext keinen Niederschlag gefunden, so ist er für die
Auslegung nicht entscheidend (BGE 114 V 250 Erw. 8a und 109 Ia 303). Ist
in der Gesetzesberatung insbesondere ein Antrag, das Gesetz sei im Sinne
einer nunmehr vertretenen Auslegungsmöglichkeit zu ergänzen, ausdrücklich
abgelehnt worden, dann darf diese Auslegungsmöglichkeit später nicht in
Betracht gezogen werden (IMBODEN/RHINOW, aaO, S. 143).

    d) Der Wortlaut von Absatz 2 der Übergangsbestimmungen ist klar und
unmissverständlich: Jene altrechtlichen Renten müssen überprüft werden,
denen ein Invaliditätsgrad von weniger als 40% zugrunde liegt. Dabei kann
es sich nur um Härtefallrenten handeln, weil vor dem 1. Januar 1988 bloss
in Fällen wirtschaftlicher Härte bei einem Invaliditätsgrad von weniger
als 40% (aber mindestens 33 1/3%) Renten zugesprochen werden konnten. Aus
Absatz 2 der Übergangsbestimmungen ergibt sich ferner, dass nur solche
altrechtlichen Härtefallrenten nach dem 1. Januar 1988 weitergewährt
werden, die seinerzeit aufgrund eines Invaliditätsgrades von weniger als
40% zugesprochen worden sind. Nur in diesem Umfang wurde den Bezügern von
altrechtlichen Härtefallrenten durch Absatz 2 der Übergangsbestimmungen
die Wahrung des Besitzstandes unter dem neuen Recht gewährleistet.

    Mit Recht weist das BSV darauf hin, dass der Nationalrat der in Absatz
2 der Übergangsbestimmungen verankerten Ordnung in voller Kenntnis des
heute geltenden Drei-Stufen-Rentenmodells mit Härtefall zugestimmt hat
(Amtl.Bull. 1986 N 760 und 769). Zwar hatte eine Minderheit im Nationalrat
beantragt, es sei für Renten, die altrechtlich aufgrund einer Invalidität
von weniger als 50% zugesprochen worden waren, der Besitzstand zu wahren;
darauf hat auch die Vorinstanz hingewiesen. Dieser Antrag ist jedoch
zugunsten der heute gültigen Fassung bei der Abstimmung im Nationalrat
abgelehnt worden (Amtl.Bull. 1986 N 769). Die Annahme des kantonalen
Richters, Absatz 2 der Übergangsbestimmungen sei etwas unglücklich
formuliert worden und entspreche nicht dem Willen des Gesetzgebers,
ist daher unbegründet.

    Zur Besitzstandswahrung bedarf es in der Sozialversicherung einer
ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung. Ein entsprechender ungeschriebener
allgemeiner Rechtsgrundsatz der Besitzstandswahrung besteht nicht
(ZAK 1983 S. 556 Erw. 2c). Ein solcher Grundsatz widerspräche auch der
Notwendigkeit, dem Gesetzgeber namentlich auf dem sich rasch ändernden
Gebiet der Sozialversicherung diejenige Gestaltungsmöglichkeit zu wahren,
auf die er zur Erfüllung seiner Aufgabe angewiesen ist. Zwar können
subjektive öffentliche Rechte ihren Grund auch in Umständen haben, die
nach Treu und Glauben zu respektieren sind (ZAK 1973 S. 375 Erw. 2). Im
vorliegenden Fall sind indessen keine entsprechenden Voraussetzungen
gegeben, da kein individueller Sonderfall zur Diskussion steht.

    Schlussfolgernd ist festzuhalten, dass nach dem Inkrafttreten der
zweiten IV-Revision am 1. Januar 1988 nur jene altrechtlich zugesprochenen
Härtefallrenten weiterhin ausgerichtet werden dürfen, die seinerzeit
aufgrund eines Invaliditätsgrades von weniger als 40% gewährt worden sind,
vorausgesetzt, nach wie vor sei der Versicherte mindestens zu 33 1/3%
invalid und der Fall wirtschaftlicher Härte gegeben.

    e) Im vorliegenden Fall ergab die im Frühjahr 1988 durchgeführte
Rentenrevision, dass der Beschwerdegegner, der eine altrechtliche
Härtefallrente bezog, nach wie vor zu einem Drittel invalid ist. Da ihm
die Härtefallrente aber unter der Herrschaft des alten Rechts aufgrund
eines Invaliditätsgrades von 47% zugesprochen worden war, kann er vom
1. Januar 1988 hinweg nicht unter dem Titel Besitzstandswahrung die
Weitergewährung dieser Rente beanspruchen.