Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 V 308



115 V 308

41. Auszug aus dem Urteil vom 31. März 1989 i.S. Bundesamt für
Militärversicherung gegen W. und Versicherungsgericht des Kantons
Basel-Landschaft Regeste

    Art. 25 Abs. 1 MVG.

    - Bestätigung der Rechtsprechung gemäss den Urteilen BGE 112 V 376
und BGE 112 V 387 (Erw. 4).

    - Die Anpassung einer laufenden Rente an die Berechnungsgrundlagen
gemäss dem Urteil BGE 112 V 376 ist nur bei reinen Integritätsrenten
gerechtfertigt (Erw. 5).

    Art. 26 Abs. 1 MVG. Festhalten an der unterschiedlichen
Wiedererwägungspraxis im Verhältnis zum Bundesgericht (Erw. 4b).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Was die Frage des massgeblichen Jahresverdienstes als Grundlage
für die Berechnung einer Integritätsrente anbelangt, hat das Eidg.
Versicherungsgericht in Erw. 6 des Urteils Gasser vom 29. Dezember 1986
(BGE 112 V 376) entschieden, die mit den Urteilen Gysler (EVGE 1966 S. 148)
und Lendi (EVGE 1968 S. 88) eingeführte Praxis des Mittelwertes ermögliche
auch im Anschluss an das Urteil Andres (BGE 110 V 117) zusammen mit der
vollen Kumulierbarkeit der Ansprüche (BGE 112 V 382 Erw. 4) sachgerechte
Lösungen. Wenn es im Laufe der Jahre zu überhöhten Entschädigungen der
Integritätseinbussen gekommen sei, so sei dies nicht auf den Mittelwert
als Prinzip, sondern auf die Tatsache zurückzuführen, dass dieser Wert ab
1972 nicht nur der Teuerung, sondern zusätzlich auch der Lohnentwicklung
fortlaufend angepasst worden sei. Da der Integritätsschaden und seine
Abgeltung mit Lohn nichts zu tun hätten und die Integritätsrenten daher
von der Lohnentwicklung nicht berührt würden, sei der Mittelwert der
Lohnentwicklung nicht anzupassen. Die bisherige Rechtspraxis zu Art. 25
Abs. 1 MVG wurde deshalb dahin berichtigt, dass der im Jahre 1966 gültige
Mittelwert von Fr. 12'000.-- lediglich der seitherigen Entwicklung der
Konsumentenpreise angepasst werden darf.

    b) Hinsichtlich der auf der bis 1966 geltenden Praxis des mutmasslich
entgangenen Jahresverdienstes beruhenden Integritätsrenten hat das Eidg.
Versicherungsgericht im Urteil Beiner vom 31. Dezember 1986 (BGE 112 V
387, insbesondere S. 393 Erw. 3c und S. 394 Erw. 3d) entschieden, das
Bundesamt für Militärversicherung (BAMV) sei berechtigt und verpflichtet,
die laufenden Integritätsrenten an die durch das Urteil Gasser (BGE 112
V 376) eingeleitete Rechtsprechung anzupassen. Zur Begründung führte es
im wesentlichen unter Hinweis auf Rechtsprechung und Lehre aus, eine neue
Verwaltungs- oder Gerichtspraxis bilde zwar kaum je einen Grund für ein
Zurückkommen auf eine formell rechtskräftige Dauerverfügung zum Nachteil
des Versicherten. Eine Anpassung ursprünglich fehlerfreier Verfügungen
erscheine aber ausnahmsweise dann als gerechtfertigt, wenn eine neue
Praxis in einem solchen Masse allgemeine Verbreitung erhalte, dass deren
Nichtbefolgung als Verstoss gegen das Gleichheitsgebot erschiene. Unter
dieser Voraussetzung liege im Ergebnis die gleiche Situation vor wie im
Falle einer nachträglichen Änderung des objektiven Rechts, so dass eine
Praxisänderung Anlass zur Umgestaltung eines Dauerverhältnisses geben
könne. Diese Voraussetzungen für die Anpassung der Integritätsrente an
die mit dem Urteil Gasser eingeleitete Gerichtspraxis seien erfüllt. Denn
es sei in höchstem Masse rechtsungleich, Integritätsrenten nach wie vor
anhand des als sachfremd erkannten Kriteriums des mutmasslich entgehenden
Jahresverdienstes festzusetzen und folglich Bezüger von Integritätsrenten
bei gleichen körperlichen Beeinträchtigungen unterschiedlich zu
entschädigen (Erw. 3c). Einer solchen Rentenanpassung stünden weder eine
Besitzstandsgarantie noch wohlerworbene Rechte entgegen (Erw. 3d).

Erwägung 3

    3.- a) Das kantonale Gericht kam im angefochtenen Entscheid in
Übereinstimmung mit der Auffassung des BAMV zum Schluss, "dass es sich bei
der am 18. Juni 1953 verfügten Rente um eine Integritätsrente nach Art. 25
Abs. 1 MVG gehandelt" habe. Die Anpassung der Berechnungsgrundlagen an die
Praxis gemäss dem erwähnten Urteil Gasser entsprechend den Ausführungen
des Eidg. Versicherungsgerichts im Urteil Beiner liess die Vorinstanz
nicht gelten. Denn nach feststehendem Grundsatz dürfe die Verwaltung
eine formell rechtskräftige Verfügung nicht voraussetzungslos einseitig
zurücknehmen oder zum Nachteil des Adressaten abändern. Grundlage
für eine Rücknahme oder Anpassung bilde einerseits das Gesetz
(Art. 13 und 26 MVG); anderseits hätten sich in der Verwaltungspraxis
mittlerweile allgemein anerkannte Grundsätze herausgebildet. Seit dem
Bundesgerichtsentscheid 56 I 194 sei die Zulässigkeit, auf eine
Verfügung zurückzukommen oder diese abzuändern, "von einer Abwägung
jener beiden sich gegenüberstehenden Gesichtspunkte" abhängig gemacht
worden, nämlich "dem Postulat der richtigen Durchführung des objektiven
Rechts auf der einen und den Anforderungen der Rechtssicherheit auf
der andern Seite". Diese Interessenabwägung zwischen den Anforderungen
der Gesetzmässigkeit einerseits und der Rechtssicherheit sowie dem
Vertrauensgrundsatz anderseits würde auch heute noch Grundlage eines
Entscheides über die Rücknahme oder Anpassung von formell rechtskräftigen
Verfügungen bilden. Das Eidg. Versicherungsgericht, welches gegenüber dem
Bundesgericht eine "largere Rücknahmepraxis" befolge, verzichte angesichts
der bei der Wiedererwägung verwendeten Kriterien (der zweifellosen
Unrichtigkeit und der erheblichen Bedeutung der Berichtigung) zugunsten des
Legalitätsprinzips auf die vom Bundesgericht verlangte Interessenabwägung,
was in der Doktrin verschiedentlich kritisiert worden sei. Die Vorinstanz
räumt allerdings ein, es sei im Sozialversicherungsrecht dem Umstand
Rechnung zu tragen, dass bei Dauerverfügungen andere Massstäbe für
die Rücknahme oder Anpassung gelten müssten als für Verfügungen mit
abgeschlossener Rechtsfolge. Wenn nun das Eidg. Versicherungsgericht
bei diesen rechtlichen Gegebenheiten im Vergleich zum Bundesgericht
bereits eine "viel grosszügigere Wiedererwägungspraxis" befolge, so
setze es sich nunmehr mit dem Urteil Beiner (BGE 112 V 387) in "klaren
Widerspruch zu seiner eigenen bisherigen Auffassung, wonach eine neue
Praxis grundsätzlich auf die im Zeitpunkt der Änderung noch nicht
erledigten sowie auf künftige Fälle anwendbar" sei. Es entferne sich
damit immer weiter von dem im Verwaltungsrecht geltenden Grundsatz der
Interessenabwägung, liefere anderseits aber keine Kriterien, anhand deren
die von ihm verlangte "allgemeine Verbreitung der Praxis" ersehen werden
könnte. Von allgemein verbreiteter Praxis könnte nur dann gesprochen
werden, wenn die Voraussetzungen für die Annahme von Gewohnheitsrecht
gegeben wären, was nun aber im vorliegenden Zusammenhang nicht zutreffe,
zumal die mit dem Urteil Gasser eingeleitete höchstrichterliche Praxis
zur Berechnung von Integritätsrenten sich ausschliesslich auf eine
"bestimmte Rentenart in einem spezifischen Sozialversicherungszweig"
beschränke. Die Unmöglichkeit der Definition des Kriteriums der
allgemeinen Verbreitung würde unweigerlich dazu führen, dass jede
Praxisänderung schliesslich zur Anpassung formell rechtskräftiger
Verfügungen führen würde, womit es im Gutdünken der Verwaltungsbehörden
läge, in Fällen, wo das Gesetz keine abschliessende Regelung enthalte
bzw. auslegungsbedürftig sei, eine Praxisänderung und damit die Anpassung
von nicht mehr übereinstimmenden Verfügungen herbeizuführen. Die Vorinstanz
gehe zwar mit dem Eidg. Versicherungsgericht darin einig, dass die neue
Auslegung von Art. 25 Abs. 3 MVG durch das Urteil Andres (BGE 110 V 117)
und die im Gefolge dieses Urteils initiierte neue Berechnungspraxis bei
den Integritätsrenten durch das Urteil Gasser "für die davon Betroffenen
eine Schlechterstellung gegenüber Bezügern von auf der alten Praxis
beruhenden Renten" darstelle. Indessen würden die wiedergegebenen
Erwägungen dem Eidg. Versicherungsgericht nicht das Recht geben, diese
Ungleichbehandlung aufzugeben; vielmehr sei es "Aufgabe des Gesetzgebers,
die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen dahingehend abzuändern,
dass der neuen bundesgerichtlichen Praxis Rechnung getragen" werde.

    b) Der Beschwerdegegner pflichtet diesen vorinstanzlichen
Erwägungen und Schlussfolgerungen bei und macht überdies geltend:
Wohl habe der Gesetzgeber die Möglichkeit, laufende Renten zu ändern,
nicht jedoch die Verwaltung oder der Richter, denen diese Befugnis nicht
zustehe, da die Praxisänderung eines Gerichts kein Revisionsgrund sei,
insbesondere dann nicht, wenn eine Rentenzusprechung seinerzeit durch
den Sozialversicherungsrichter, gegebenenfalls letztinstanzlich durch
das Eidg. Versicherungsgericht bestätigt worden sei, lege doch das OG
in den Art. 136 f. abschliessend fest, unter welchen Umständen ein
richterliches Urteil später abgeändert werden könne. Daraus ergebe
sich eine neue Rechtsungleichheit, indem gerichtlich bestätigte
Rentenzusprechungen zufolge einer späteren Praxisänderung nicht abgeändert
werden könnten, wogegen dies nach dem im Urteil Beiner Gesagten für
Rentenzusprechungen, die allein auf einer Verwaltungsverfügung beruhten,
zutreffe. Der Beschwerdegegner beruft sich sodann auf das in SZS 1986
S. 142 ff. publizierte Urteil der II. Öffentlichrechtlichen Abteilung
des Bundesgerichts vom 8. Februar 1985, wo die Wiedererwägung einer
Rentenzusprechung durch eine kommunale Pensionskasse vom Bundesgericht
als willkürlich bzw. gegen das Verfassungsprinzip von Treu und
Glauben verstossend aufgehoben worden sei. Das Urteil Beiner, so der
Beschwerdegegner, hätte sodann nicht gefällt werden dürfen, ohne das
Verfahren nach Art. 16 OG (Einholung der Zustimmung der anderen Abteilung
bei abweichender Beantwortung einer Rechtsfrage) zu beachten.

    c) Das BAMV spricht sich in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde im
wesentlichen dafür aus, die durch die Urteile Andres, Gasser und Beiner
gebildete Gerichtspraxis konsequent weiterzuführen, denn diese stelle "ein
Ganzes" dar, aus welchem "Paket ... nicht wieder ein Teil herausgebrochen
werden" könne, wolle man nicht "auf halbem Wege stehen bleiben und grobe
Ungleichheiten schaffen".

Erwägung 4

    4.- a) Die Auffassung des kantonalen Gerichts vermag nicht zu
überzeugen. Einerseits werden die verschiedenen Formen der Abänderung
einer formell rechtskräftigen Verwaltungsverfügung zu undifferenziert
behandelt; anderseits wird der Eigenart von Verfügungen mit dauernder
Rechtsfolge, d.h. Verfügungen über Dauerrechtsverhältnisse nicht genügend
Rechnung getragen.

    Auszugehen ist von der Überlegung, dass die formelle Rechtskraft
einer Verfügung über ein Dauerrechtsverhältnis nicht voraussetzungslos
gilt. Die formelle Rechtskraft beschränkt sich vielmehr auf den
Sachverhalt und die Rechtslage zur Zeit des Erlasses der Verfügung
über das Dauerrechtsverhältnis. Nun kann der Grundlage der Verfügung
bildende Sachverhalt schon zur Zeit des Erlasses der Verfügung
unrichtig festgestellt worden sein, oder es kann sich der Sachverhalt
nachträglich ändern. Gleich verhält es sich mit den rechtlichen
Gesichtspunkten: Die formell rechtskräftig gewordene Verfügung kann auf
einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung beruhen, oder es kann sich
nach Verfügungserlass die objektive Rechtslage ändern. Die Frage nach der
Tragweite der formellen Rechtskraft kann nicht für alle vier Gesichtspunkte
(ursprünglich unrichtige Sachverhaltsfeststellung; nachträgliche
Sachverhaltsänderung; ursprünglich unrichtige Rechtsausübung; nachträgliche
Rechtsänderung) in gleicher Weise beantwortet werden. Vielmehr ergibt
sich im einzelnen was folgt:

    aa) Im Rahmen der (prozessualen) Revision soll eine Verfügung
zurückgenommen werden können, die auf von Anfang an fehlerhaften
tatsächlichen Grundlagen beruht (BGE 112 V 371 Erw. 2a mit
Hinweisen). Dieses Institut der prozessualen Revision, welches die
Verwirklichung des materiellen Rechts bezweckt, ist im Bereich der
Militärversicherung auf jeder Stufe (Verwaltungsverfahren, kantonales
Beschwerdeverfahren, verwaltungsgerichtliches Beschwerdeverfahren vor dem
Eidg. Versicherungsgericht) positivrechtlich geregelt, wie sich aus Art. 13
Abs. 1 MVG, Art. 56 Abs. 1 lit. h MVG und Art. 137 lit. b OG ergibt.

    Eine solche prozessuale Revision steht hier nicht zur Diskussion,
weswegen die entsprechenden Einwendungen des Beschwerdegegners von
vornherein ins Leere gehen.

    bb) Die formelle Rechtskraft der Verfügung über ein
Dauerrechtsverhältnis steht sodann unter dem Vorbehalt, dass
nicht nach Verfügungserlass erhebliche tatsächliche Änderungen
eintreten. Diese u.a. auf die Invaliden- und die Integritätsrenten als
Dauerrechtsverhältnisse zugeschnittene Revisionsart will die Anpassung
an seit der verfügten Leistungszusprechung eingetretene geänderte und in
diesem Sinne neue tatsächliche Verhältnisse ermöglichen (BGE 112 V 372
Erw. 2b). Auch sie ist im Bereich der Militärversicherung positivrechtlich
geregelt (Art. 26 Abs. 1 MVG). Im Rahmen dieser Revisionsart hat die
Rechtsprechung seit je strikte am Erfordernis einer erheblichen Änderung
tatsächlicher Natur festgehalten. Eine unterschiedliche Beurteilung
eines im wesentlichen unverändert gebliebenen Sachverhaltes ist daher
revisionsrechtlich bedeutungslos, und auch eine neue Verwaltungs- oder
Gerichtspraxis rechtfertigt grundsätzlich keine Revision des laufenden
Rentenanspruches zum Nachteil des Versicherten, weil es sich hiebei
nicht um neue bzw. geänderte Tatsachen handelt (BGE 112 V 372 Erw. 2b
und besonders deutlich in 375 Erw. 4, wo das Eidg. Versicherungsgericht
eine voraussetzungslose Neubeurteilung des Rentenanspruches im Rahmen
von Art. 26 Abs. 1 MVG verwarf).

    Auch eine solche Anpassung an geänderte tatsächliche Verhältnisse
steht hier nicht zur Diskussion.

    cc) Der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung
(unter Einschluss unrichtiger Feststellung im Sinne der Würdigung des
Sachverhalts) dient dagegen die Wiedererwägung, nach welchem Grundsatz
des Sozialversicherungsrechts die Verwaltung eine formell rechtskräftige
Verfügung, welche nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung
gebildet hat, zurücknehmen kann, wenn sie zweifellos unrichtig und ihre
Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (BGE 112 V 373 Erw. 2c mit
Hinweisen).

    Auch um eine solche Wiedererwägung geht es vorliegend nicht, weil die
seinerzeit auf der Grundlage des mutmasslich entgangenen Jahresverdienstes
festgesetzte Rente - selbst wenn sich ergäbe, dass eine Integritätsrente
zugesprochen wurde - nicht als zweifellos unrichtig bezeichnet werden
kann; denn diese Bemessungsmethode entsprach einer damals festen
Verwaltungspraxis, so dass sich der Schluss auf zweifellose Unrichtigkeit
verbietet (so BGE 112 V 375 Erw. 3c).

    dd) Vorliegend ist vielmehr der vierte Gesichtspunkt zu beurteilen,
nämlich wie es sich mit der formellen Rechtskraft der Verfügung über ein
Dauerrechtsverhältnis verhält, wenn seit Verfügungserlass Änderungen des
objektiven Rechts eingetreten sind. Darunter fallen auch Änderungen in der
Rechtsanwendung durch eine neue Gerichts- oder Verwaltungspraxis. Besteht
die Rechtsänderung in einem Eingriff des Gesetzgebers, so ist -
die Existenz wohlerworbener Rechte vorbehalten - die Anpassung der
Verfügung über ein Dauerrechtsverhältnis nicht nur erlaubt, sondern
gefordert. Besteht die Änderung des massgebenden Rechts dagegen in
einer neuen gerichtlich bestätigten Verwaltungspraxis oder einer neuen
Rechtsprechung, so darf die Verfügung über das Dauerrechtsverhältnis
grundsätzlich nicht angetastet werden; eine solche Anpassung einer
ursprünglich fehlerfreien Verfügung an eine neue gerichtlich bestätigte
Verwaltungspraxis oder eine neue Rechtsprechung ist nur ausnahmsweise
gerechtfertigt (BGE 112 V 394 oben).

    b) Dass die Rechtsprechung des Bundesgerichts einerseits und jene
des Eidg. Versicherungsgerichts anderseits zur Wiedererwägung formell
rechtskräftiger Verwaltungsverfügungen voneinander abweichen, trifft
zu. Indessen verhält es sich keineswegs so, wie die Vorinstanz und der
Beschwerdegegner annehmen, dass diese Divergenz zwischen den beiden
Gerichten nicht bereits Gegenstand eines Meinungsaustauschverfahrens
gewesen wäre. Hiezu wurde bereits in den Jahren 1970 und 1978 ein
Meinungsaustauschverfahren durchgeführt.

    Die Zulässigkeit bereichsspezifischer Grundsätze für die Abänderbarkeit
sozialversicherungsrechtlicher Verfügungen über Dauerrechtsverhältnisse
ist von der herrschenden Lehre auch in jüngster Zeit nicht in Frage
gestellt worden (vgl. GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. I,
S. 440 f.; derselbe, L'apport du Tribunal fédéral des assurances au
développement du droit public, in: Le droit social à l'aube du XXIe siècle,
Mélanges Alexandre Berenstein, 1989, S. 449; GYGI, Verwaltungsrecht,
1986, S. 310; KNAPP, Précis de droit administratif, 3. Aufl., 1988,
S. 231, Nr. 1284). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem vom
Beschwerdegegner erwähnten Urteil des Bundesgerichts vom 8. Februar 1985
(publiziert in SZS 1986 S. 142 ff.), wo die II. Öffentlichrechtliche
Abteilung den Widerruf einer Rentenverfügung durch eine städtische
Pensionskasse als gegen Treu und Glauben sowie das Willkürverbot
verstossend aufhob. Das Bundesgericht hat dort die Widerrufspraxis des
Eidg. Versicherungsgerichts nicht in Frage gestellt, was sich deutlich aus
Erw. 4b/bb ergibt. Im weitern ist diese vom Bundesgericht beurteilte Sache
mit dem vorliegenden Fall in keiner Weise vergleichbar, ging es doch dort
um den - mit Wirkung ex tunc - verfügten Widerruf einer Rentenverfügung
wegen zweifelloser Unrichtigkeit, weil sich herausgestellt hatte, dass
der Pensionsbezüger wegen zu berücksichtigender Rentenleistungen der
Invalidenversicherung und Militärversicherung gar keinen Rentenanspruch
besessen hätte, sondern nur eine Freizügigkeitsleistung hätte verlangen
können. Vorliegend handelt es sich dagegen, wie gesagt, nicht um die
Wiedererwägung einer Verfügung wegen zweifelloser Unrichtigkeit, sondern
um eine Anpassung - mit Wirkung ex nunc - einer Verwaltungsverfügung
an eine neue Rechtsprechung. Dabei verkennen die Vorinstanz und der
Beschwerdegegner, dass die Festsetzung der Integritätsrenten im Rahmen
des Art. 25 Abs. 1 MVG, welche den rechtsanwendenden Behörden einen
weiten Bereich des Ermessens eröffnet, zu jeder Zeit auf der Grundlage
einer Verwaltungs- und Gerichtspraxis erfolgte. Dies hat das Eidg.
Versicherungsgericht namentlich im Urteil Gasser klar festgehalten,
indem die Massgeblichkeit des entgangenen Jahreseinkommens bzw. - seit den
Urteilen Gysler und Lendi - des Mittelwertes des versicherbaren Verdienstes
auf einer Rechtspraxis beruhte, und nicht auf den bundesrätlichen
Verordnungen über die Teuerungsanpassung, welchen insoweit keine normative
Bedeutung zukam und zukommt (BGE 112 V 383 f. Erw. 5a und b). Daher ist
für die Anpassung der "Uralt-Integritätsrenten", welche auf der Grundlage
des mutmasslich entgangenen Jahresverdienstes festgesetzt wurden, entgegen
der vorinstanzlichen Auffassung keineswegs ein gesetzgeberischer Erlass
notwendig.

    Schliesslich hat das Eidg. Versicherungsgericht bei der
Abänderbarkeit formell rechtskräftiger Verwaltungsverfügungen den
Verfassungsprinzipien der Rechtssicherheit und von Treu und Glauben
durchaus Rechnung getragen. So nahm es im Urteil Häberli vom 2. Juli
1984 (nicht veröffentlichte Erw. 2c von BGE 110 V 176, publiziert in ZAK
1985 S. 68) eine Interessenabwägung vor. Im vorliegenden Zusammenhang
mit der Anpassung von Integritätsrenten, die auf der Grundlage des
mutmasslich entgangenen Jahresverdienstes festgesetzt wurden, hat
das Gericht im nicht veröffentlichten Urteil B. vom 13. August 1987
zum Urteil Beiner festgestellt, dass Rechtssicherheit und Vertrauen
auf die Weitergewährung einmal zugesprochener staatlicher Leistungen
ein Gesichtspunkt sind, der mit dem öffentlichen Interesse an einer
gesetzmässigen und sachlich vertretbaren Durchführung der Versicherung
in ein Spannungsverhältnis treten kann. Dieser Konflikt zwischen den
widerstreitenden Rechtsprinzipien ist im konkreten Fall durch eine
wertende Abwägung der im Spiele stehenden Interessen zu lösen (BGE 112 V
122 mit Hinweisen). Das Eidg. Versicherungsgericht hat im Urteil Beiner
(BGE 112 V 387) umfassend dargelegt, aus welchen Gründen es geboten
ist, die Integritätsrenten, welche aufgrund der bis 1966 geltenden, als
sachfremd erkannten Praxis berechnet wurden, anzupassen. Dabei handelt es
sich um eine Ausnahmesituation, welche eine besondere Lösung erforderte
(erwähntes Urteil B. vom 13. August 1987).

    c) Aus dem Gesagten ergibt sich, dass an der Rechtsprechung gemäss
den Urteilen Gasser und Beiner vollumfänglich festzuhalten ist.

Erwägung 5

    5.- a) Die Anpassung einer laufenden Rente an die durch das Urteil
Gasser eingeführten Berechnungsgrundlagen rechtfertigt sich indessen
nur dann, wenn die in Frage stehende Rente eine reine Integritätsrente
ist. Davon ist das Eidg. Versicherungsgericht bereits im Urteil Beiner
ausgegangen. Denn nur dort, wo eine auf der Grundlage des erwerblichen
Gesichtspunkts des mutmasslich entgangenen Jahresverdienstes festgesetzte
Rente ausschliesslich eine reine Integritätseinbusse entschädigt, kann
von einer derart sachwidrigen Berentung gesprochen werden, dass deren
Anpassung an adäquate Berechnungsgrundlagen das finanzielle Interesse
des Versicherten am weiteren Bezug dieser Rente überwiegt. Das
Eidg. Versicherungsgericht hat daher im Urteil Beiner bewusst nur
die reinen Integritätsrenten als anpassungspflichtig bezeichnet, und
zwar auch nur jene, die auf der Grundlage des mutmasslich entgangenen
Jahresverdienstes festgesetzt worden sind, nicht dagegen jene, welche
auf der mit den Urteilen Gysler und Lendi ab 1966 eingeleiteten Praxis
beruhen. Ergibt die Prüfung der Aktenlage zur Zeit des Erlasses der
Rentenverfügung, dass damals auch eine erwerbliche Beeinträchtigung
bestand, so verbietet sich eine Anpassung der Rente. Dabei ist
unerheblich, dass diese Erwerbseinbusse allenfalls geringer war als der
Integritätsschaden, dies mit der Folge, dass nach der damaligen Praxis
nur der überwiegende Schaden entschädigt wurde. Es genügt vielmehr die
Feststellung, dass bei der Berentung auch erwerbliche Gesichtspunkte mit
berücksichtigt werden durften. Ist dies der Fall, so darf eine Anpassung
der laufenden Rente im Sinne des Urteiles Beiner nicht erfolgen.

    b) Aus dem Gesagten erklärt es sich, warum das
Eidg. Versicherungsgericht im Urteil Beiner die rechtliche Natur der
dort mit Verfügung vom 25. März 1952 zugesprochenen Rente eingehend
prüfte (vgl. die in BGE 112 V 391 nicht publizierte Erw. 2a des Urteils
Beiner). In gleicher Weise ist es im erwähnten Urteil B. vom 13. August
1987 verfahren. Es hat dort darauf abgestellt, dass dem voll arbeitsfähigen
Versicherten wegen seines Nierenverlustes eine Rente zugesprochen worden
war, welche Integritätsbeeinträchtigung nach damaliger Verwaltungspraxis
ohne Rücksicht auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit eine Berentung von 20%
rechtfertigte. In diesem Sinne muss auch vorliegend genau geprüft werden,
ob die dem Beschwerdegegner zugesprochene Rente tatsächlich ausschliesslich
einen Integritätsverlust in Gestalt der weitgehenden Funktionsuntüchtigkeit
des einen Lungenflügels entschädigte.