Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 V 151



115 V 151

23. Auszug aus dem Urteil vom 15. Juni 1989 i.S. V. gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Thurgau
Regeste

    Art. 37 Abs. 1 UVG. Selbsttötung und Suizidversuch sind auch im neuen
Unfallversicherungsrecht gleich zu behandeln.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Des weitern ist die Frage zu prüfen, ob ein misslungener
Suizidversuch als Unfall im Rechtssinne qualifiziert werden
kann. Selbsttötung und Suizidversuch wurden unter der Herrschaft des KUVG
nach ständiger Rechtsprechung rechtlich gleich behandelt (EVGE 1963 S. 18,
bestätigt in BGE 100 V 80 Erw. 1d). Im Gegensatz zur Regelung in Art. 98
Abs. 1 KUVG, wonach als Voraussetzung für einen Leistungsausschluss
der Unfall absichtlich herbeigeführt sein musste, verlangt das UVG im
2. Abschnitt des 3. Kapitels mit dem Titel "Schuldhafte Herbeiführung des
Unfalles" in Art. 37 Abs. 1, der Versicherte müsse "den Gesundheitsschaden
oder den Tod" absichtlich herbeigeführt haben. MAURER (Schweizerisches
Unfallversicherungsrecht, S. 199 f.), auf den sich die Beschwerdeführerin
im vorinstanzlichen Verfahren berief, erachtet es daher als "immerhin
fraglich", ob die Rechtsprechung zum bisherigen Recht mit der neuen
gesetzlichen Regelung vereinbar sei, da Wortlaut und Sinn von Art. 37
Abs. 1 UVG "eher zum gegenteiligen Ergebnis" führen würden; massgebend
sei danach, was beabsichtigt gewesen sei; nur für die beabsichtigten
Folgen entfalle der Anspruch.

    Auszugehen ist davon, dass der Wortlaut von Art. 98 Abs. 1 KUVG und
Art. 37 Abs. 1 UVG nicht übereinstimmen. Nach bisherigem Recht musste
der Versicherte den Unfall, nach neuem Recht den Gesundheitsschaden oder
den Tod absichtlich herbeigeführt haben. Damit wollte der Gesetzgeber
indessen Selbsttötung und Suizidversuch nicht grundsätzlich anders als
im bisherigen Recht behandeln. In der Botschaft führte er hiezu aus:

    "Eine absichtlich herbeigeführte Selbstschädigung stellt keinen Unfall
   im Rechtssinn dar, weil gerade das Erfordernis der unbeabsichtigten
   schädigenden Einwirkung auf den menschlichen Körper nicht erfüllt ist.

    Es wären somit hierfür überhaupt keine Versicherungsleistungen
   auszurichten. Entsprechend der bisherigen Ordnung wird jedoch in diesem

    Fall, sofern der Versicherte an den Folgen der Selbstschädigung stirbt,
   die Bestattungsentschädigung gewährt. Die Gleichstellung des in
   bewusstem

    Zustand begangenen Selbstmordes mit einem Unfall liesse sich
begrifflich
   kaum vertreten; es ist jedoch anzumerken, dass die Leistungen der AHV
   bei Selbstmord voll erbracht werden." (Botschaft zum Bundesgesetz über
   die Unfallversicherung vom 18. August 1976, BBl 1976 III S. 198.)

    Nach wie vor sollte eine absichtlich herbeigeführte Selbstschädigung
keinen Unfall im Rechtssinn darstellen. Minderheitsanträge, die bei
Selbsttötung und Suizidversuch eine Leistungspflicht der Unfallversicherung
in beschränktem Umfange in das Gesetz einführen wollten, blieben
im National- und Ständerat erfolglos (Amtl.Bull. 1979 N 251 ff.;
Amtl.Bull. 1980 S 481 f.). Nach dem klaren gesetzgeberischen Willen,
der auch im Titel zum 2. Abschnitt im 3. Kapitel des UVG zum Ausdruck
kommt, entfällt bei Selbsttötung und Suizidversuch grundsätzlich eine
Leistungspflicht der Unfallversicherung, weil das Begriffsmerkmal der
nicht beabsichtigten schädigenden Einwirkung nicht erfüllt ist. Zwar
ist MAURER (aaO, S. 174) darin beizupflichten, dass die Absicht
bzw. Unfreiwilligkeit auf die gesundheitliche Schädigung selbst und
nicht auf die zur schädigenden Einwirkung führende Handlung gerichtet
sein muss (BGE 87 II 379 Erw. 1; in diesem Sinne ist auch BGE 100
V 82 zu verstehen). Hingegen kann ihm nicht darin gefolgt werden,
dass nach Art. 37 Abs. 1 UVG nur für die beabsichtigten Folgen ein
Leistungsanspruch entfalle (aaO, S. 200 oben), da zu unterscheiden ist
zwischen der Körperschädigung einerseits und ihren allfälligen Folgen
(wie Tod, Invalidität, vorübergehende Gesundheitsschädigung) anderseits
(KOENIG, Schweizerisches Privatversicherungsrecht, 3. Aufl., S. 453). Im
Willen, sich selbst zu töten, ist denn auch die Absicht, seinen Körper zu
schädigen, notwendigerweise mit eingeschlossen, unabhängig davon, ob das
angestrebte Ziel im Anschluss an die Körperschädigung eintritt oder nicht.
Selbsttötung und Suizidversuch sind daher auch unter der Herrschaft des
Art. 37 Abs. 1 UVG rechtlich gleich zu behandeln.