Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IV 97



115 IV 97

22. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. Januar 1989 i.S. X.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 72 Ziff. 2 Abs. 1 StGB. Unterbrechung der Verfolgungsverjährung.

    Die Eröffnung des Strafverfahrens gegen eine bestimmte Person in der
Schweiz durch Übernahme des gegen sie im Ausland durchgeführten Verfahrens
unterbricht die Verjährung. Entgegen dem Wortlaut von Art. 72 Ziff. 2
Abs. 1 StGB können nicht nur Verfügungen des Gerichts, sondern auch
Verfügungen der Strafverfolgungsbehörde die Verjährung unterbrechen. Es
ist nicht erforderlich, dass die Verfügung dem Beschuldigten eröffnet
wurde; es genügt, dass sie nach aussen in Erscheinung trat. Offengelassen,
ob Untersuchungshandlungen und Verfügungen einer ausländischen Behörde
im Rahmen eines ausländischen Strafverfahrens, das in der Folge von der
Schweiz übernommen wird, die Verjährung gemäss Art. 72 Ziff. 2 Abs. 1
StGB unterbrechen können (E. 2b).

Auszug aus den Erwägungen:

                  Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- b) Gemäss den Ausführungen im angefochtenen Urteil wurde die
Verfolgungsverjährung "beispielsweise" am 3. Oktober 1975 durch den Auftrag
des Fürstlich Liechtensteinischen Landgerichts an das Sicherheitskorps
Vaduz zur Vornahme weiterer Erhebungen und die Aufforderung an die Bank in
Liechtenstein, weitere Unterlagen einzureichen, sowie am 20. Oktober 1975
durch das Rechtshilfegesuch des Fürstlich Liechtensteinischen Landgerichts
an die Bezirksanwaltschaft Zürich unterbrochen, waren somit am 30. August
1985, als der Beschwerdeführer vom Kantonalen Untersuchungsrichter für
Wirtschaftsdelikte auf den 4. September 1985 zur Einvernahme in der
Angelegenheit W. vorgeladen wurde, noch nicht 10 Jahre seit der letzten
Unterbrechungshandlung verstrichen.

    Es kann vorliegend dahingestellt bleiben, ob die im angefochtenen
Urteil genannten Untersuchungshandlungen vom 3. und vom 20. Oktober 1975
oder etwa die im erstinstanzlichen Entscheid erwähnte Einvernahme des
Beschwerdeführers vom 2. September 1975, die alle von einem ausländischen
Richter in einem ausländischen Strafverfahren vorgenommen wurden,
entsprechend der nicht näher begründeten Auffassung der Vorinstanz
die Verfolgungsverjährung im Sinne von Art. 72 Ziff. 2 Abs. 1 StGB
zu unterbrechen vermochten oder ob nur Untersuchungshandlungen und
Verfügungen schweizerischer Behörden im Rahmen eines in der Schweiz
durchgeführten Strafverfahrens diese Wirkung zeitigen können. Die
Verfolgungsverjährung wurde vorliegend jedenfalls dadurch unterbrochen,
dass die schweizerischen Behörden am 29. Juni 1982 die Verfolgung der
dem Beschwerdeführer zur Last gelegten - gemäss Art. 6 StGB auch unter
die schweizerische Strafrechtshoheit fallenden - Straftaten von den
Behörden des Fürstentums Liechtenstein übernahmen und dadurch in der
Schweiz gegen den Beschwerdeführer ein Strafverfahren wegen der fraglichen
Taten eröffneten. Die Eröffnung des Strafverfahrens in der Schweiz durch
Übernahme des liechtensteinischen Verfahrens ist im Sinne von Art. 72
Ziff. 2 Abs. 1 StGB eine Verfügung gegenüber dem Täter. Allerdings handelt
es sich nicht um eine "Verfügung des Gerichts", sondern um die Verfügung
einer Strafverfolgungsbehörde. Das ist indessen unerheblich. Art. 72
Ziff. 2 Abs. 1 StGB, wonach die Verjährung unterbrochen wird "durch jede
Untersuchungshandlung einer Strafverfolgungsbehörde oder Verfügung des
Gerichts", ist insoweit unglücklich redigiert. Die Formulierung beruht
auf einem Redaktionsvorschlag des EJPD im Bericht vom 4. November 1949
an die ständerätliche Kommission. In der ersten Session der Kommission
des Ständerates vom 6./7. September 1949 hatte Bundesanwalt Lüthi die
Wendung "... durch jede Untersuchungshandlung einer Strafverfolgungsbehörde
..." vorgeschlagen, worauf der Kommissionspräsident Schoch gefragt hatte,
ob das Gericht eine "Strafverfolgungsbehörde" sei oder nicht besonders
genannt werden sollte (Protokoll der ersten Session, S. 27/28). Der
Redaktionsvorschlag des EJPD - "... durch jede Untersuchungshandlung
einer Strafverfolgungsbehörde oder Verfügung des Gerichts..." - wurde in
der zweiten Session der ständerätlichen Kommission vom 10./12. November
1949 insoweit diskussionslos angenommen. Umstritten war insoweit einzig,
was unter einer "Behörde" zu verstehen sei, ob darunter etwa auch die
Polizei falle (Protokoll der zweiten Session, S. 36 ff.). Ständerat Iten
beispielsweise schlug daher die Formulierung "... durch jede Handlung
oder Verfügung im Strafverfolgungsverfahren ..." vor (Protokoll
der zweiten Session, S. 39 unten). Art. 72 Ziff. 2 Abs. 1 StGB ist
unter Berücksichtigung dieser Diskussionen in dem Sinne zu verstehen,
dass die Verjährung durch jede Untersuchungshandlung oder Verfügung
der Strafverfolgungsbehörde oder des Gerichts gegenüber dem Täter
unterbrochen wird. Das entspricht auch dem Sinn des Gesetzes. Es gibt
keine sachlichen Gründe, einerseits den Untersuchungshandlungen eines
Gerichts und andererseits den Verfügungen einer Strafverfolgungsbehörde
die verjährungsunterbrechende Wirkung abzusprechen.

    Aus den Akten geht allerdings nicht hervor, wann und in welcher Form
der Beschwerdeführer, der erst am 30. August 1985 auf den 4. September
1985 zur ersten untersuchungsrichterlichen Einvernahme zu den in jenem
Zeitpunkt mehr als 10 Jahre zurückliegenden Handlungen einvernommen wurde,
von der am 29. Juni 1982 durch Übernahme des liechtensteinischen Verfahrens
erfolgten Eröffnung des Strafverfahrens in der Schweiz (betreffend die
Angelegenheit W. und die Darlehen Q.) Kenntnis erhielt. Das ist indessen
unerheblich. Die Verfügung der Strafverfolgungsbehörde förderte das
Strafverfahren und trat nach aussen in Erscheinung (vgl. dazu BGE 90 IV
63 E. 1); sie wurde dem Bundesamt für Polizeiwesen und durch dieses den
liechtensteinischen Behörden zur Kenntnis gebracht.