Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IV 87



115 IV 87

19. Urteil des Kassationshofes vom 24. Februar 1989 i.S. K. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB; Aufschub des Strafvollzuges zwecks
ambulanter Behandlung.

    Der Strafaufschub ist auch begründet, wenn die wirklich vorhandene
Aussicht auf die erfolgreiche Weiterführung einer bereits seit längerer
Zeit begonnenen Behandlung durch den sofortigen Vollzug der Freiheitsstrafe
erheblich beeinträchtigt würde (Präzisierung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Am 24. Februar 1987 verurteilte das Amtsgericht Solothurn-Lebern
Frau K. wegen Widerhandlung gegen das SVG sowie wegen wiederholten
und fortgesetzten Diebstahls zu 6 Monaten Gefängnis. Es schob den
Vollzug der Gefängnisstrafe auf und ordnete statt dessen als Massnahme
eine ambulante psychiatrische Behandlung an. Zugleich erklärte es eine
bedingt vollziehbare Vorstrafe von 45 Tagen Gefängnis für vollstreckbar
unter Aufschub des Vollzugs zugunsten einer ambulanten psychiatrischen
Behandlung.

    B.- Auf Appellation der Staatsanwaltschaft hin änderte das Obergericht
des Kantons Solothurn am 28. September 1988 den erstinstanzlichen
Entscheid u.a. insofern ab, als es den Aufschub des Vollzugs sowohl
der Strafe von 6 Monaten Gefängnis wie jener von 45 Tagen Gefängnis
verweigerte und lediglich eine ambulante psychiatrische Behandlung während
des Strafvollzugs anordnete.

    C.- Die Verurteilte erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführerin macht geltend, es sei in ihrem Falle
schwierig, eine Grenzlinie zu ziehen zwischen falscher oder willkürlicher
Beweiswürdigung bzw. mit staatsrechtlicher Beschwerde zu erhebender
Rügen und dem, was als Verletzung von Bundesrecht zu qualifizieren
sei. Bundesrecht habe die Vorinstanz wohl dadurch verletzt, dass sie auf
die Einholung eines eigentlichen Gutachtens verzichtet habe, sicher aber
dadurch, dass die Frage nach der Beeinträchtigung des Behandlungserfolgs
durch einen sofortigen Strafvollzug gar nicht geprüft, sondern lediglich
unter Hinweis auf das angebliche Ausbleiben nachhaltiger Wirkungen der
bisherigen psychiatrischen Behandlung verneint worden sei. Überdies habe
sie ihren Ermessensspielraum verletzt, wenn sie ohne jegliche Begründung
von den vorhandenen ärztlichen Empfehlungen abgewichen sei.

    a) Gemäss Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB kann der Richter zwecks
ambulanter Behandlung den Vollzug der Strafe aufschieben, um der Art
der Behandlung Rechnung zu tragen. Gemäss BGE 105 IV 87 ff. ist ein
Strafaufschub im Sinne dieser Bestimmung angezeigt, wenn die wirklich
vorhandene Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung durch den sofortigen
Vollzug der Freiheitsstrafe erheblich beeinträchtigt würde.

    b) Die Vorinstanz nimmt an, die Gutachter Dr. H. und Dr. B. wiesen
zwar auf die Wichtigkeit einer Fortsetzung der Therapie hin, könnten
"jedoch nicht davon ausgehen, dass der unbedingte Strafvollzug den Erfolg
der Behandlung gänzlich in Frage stellen würde". Deshalb kommt sie zum
Schluss, die ambulante psychotherapeutische Behandlung sei mit dem Vollzug
der Freiheitsstrafe zu verbinden.

    Offensichtlich geht die Vorinstanz davon aus, der Strafaufschub
sei einzig gerechtfertigt, wenn der Vollzug der Freiheitsstrafe den
Behandlungserfolg völlig in Frage stelle. Das steht in Widerspruch zu
BGE 105 IV 87 ff., wonach einerseits Aussicht auf eine erfolgreiche
Behandlung gegeben sein muss, und andererseits diese Aussicht durch den
sofortigen Vollzug der Freiheitsstrafe nicht wesentlich beeinträchtigt
werden darf. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben. Wo
wie vorliegend eine psychotherapeutische Behandlung seit längerer
Zeit bereits im Gang ist, kommt es auf die Aussicht erfolgreicher
Weiterführung derselben an. Die Vorinstanz wird somit zunächst zu prüfen
haben, welche Erfolgschancen die ungehinderte Fortsetzung der begonnenen
Behandlung bietet. Besteht Aussicht auf eine erfolgreiche Fortführung,
so ist der Strafaufschub nicht nur dann anzuordnen, wenn der Vollzug der
Freiheitsstrafe diese gänzlich, sondern schon, falls er sie erheblich
beeinträchtigen würde.

    c) Die Vorinstanz hat sich bei ihrem Entscheid auf ein ihr
erstattetes Gutachten von Herrn Dr. B. vom 14. September 1988 sowie
ein dem Landesgericht Feldkirch vorgelegtes Gutachten von Herrn
Dr. H. vom 1. August 1988 gestützt. Es erscheint fraglich, ob diese
Gutachten genügende Auskunft über die Frage der Beeinträchtigung des
Behandlungserfolgs bei nicht aufgeschobenem Strafvollzug geben, worüber ein
Gutachten eingeholt werden muss (BGE 101 IV 128 E. 3b mit Hinweisen); sie
gehen eher nach der Richtung, die Anordnung des Strafvollzugs erscheine
bereits als solche unzweckmässig. Aus den Urteilserwägungen ergibt sich
nicht klar, ob die Vorinstanz sie als zur Beantwortung jener Frage
taugliche Gutachten betrachtet hat. Sollte auf ihrer Grundlage nicht
entschieden werden können, ob wirklich Aussicht auf einen erfolgreichen
Abschluss der begonnenen Behandlung besteht und diese durch den sofortigen
Vollzug der Freiheitsstrafe erheblich beeinträchtigt würde, so wäre hiezu
ein besonderes Gutachten einzuholen.

    d) Die Frage des Aufschubs des Strafvollzuges, den die erste Instanz
sowohl für die ausgesprochene Gefängnisstrafe von 6 Monaten wie auch für
die als vollziehbar erklärte Gefängnisstrafe von 45 Tagen angeordnet
hatte, stellt sich offensichtlich auch in diesem Verfahren für beide
Freiheitsstrafen (vgl. Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 41
Ziff. 3 Abs. 4 StGB), weshalb sich die Neubeurteilung auch auf die Frage
des Aufschubes des Vollzugs der vollstreckbar erklärten Vorstrafe zu
erstrecken hat.