Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IV 45



115 IV 45

10. Urteil des Kassationshofs vom 1. März 1989 i.S. X. gegen
Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 229 StGB; Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde.

    1. Keine Geltung des Strassenverkehrsrechts auf Bauplätzen ausserhalb
öffentlicher Strassen (E. 2a).

    2. Der Begriff des Bauwerkes im Sinne von Art. 229 StGB ist weit
zu fassen. Zur Ausführung eines solchen gehören auch Bauarbeiten auf
dem Vorplatz eines im Rohbau fertiggestellten Gebäudes (E. 2b).

    3. Unsorgfältiges Manövrieren mit einem Bagger als Verletzung der
Regeln der Baukunde, jedenfalls bei Verwirklichung einer bautypischen
Gefahr; sinngemässe Anwendung der Vorschriften des Strassenverkehrsrechts
(E. 2c).

Sachverhalt

    A.- Am 27. März 1986 ereignete sich auf einer Baustelle in Bern ein
Arbeitsunfall. Der Maurerlehrling Y. arbeitete gebückt über einen aus der
Erde ragenden Frischwasserkontrollschacht, um das Bankett im Schachtinnern
anzufertigen, als er vom sich drehenden Oberteil des von X. bedienten
Raupenbaggers erfasst und zwischen Schacht und Maschine eingeklemmt wurde.
Dabei erlitt er Verletzungen.

    Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte X. am 3. Mai 1988 wegen
fahrlässiger Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde zu einer
Busse von Fr. 200.--.

    Gegen dieses Urteil führt X. eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit
den Anträgen, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zu
seiner Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Bundesgericht
weist die Beschwerde ab

Auszug aus den Erwägungen:

                  aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Nach den Feststellungen der Vorinstanz spielte sich der
Unfall wie folgt ab: Der Beschwerdeführer hatte den Auftrag, den
Vorplatz des im Rohbau fertiggestellten Gebäudes mit einer Kiesschicht
zu versehen. Um mit dem Bagger auf diesen Vorplatz zu gelangen, musste
er vorerst einen Bauschutthügel beseitigen, der sich rechts neben dem
Unfallschacht befand. Während dieser Arbeit konnte er beobachten, wie
der Lehrling Y. am fraglichen Schacht seinen Arbeitsplatz einzurichten
begann und sich, offenbar um Material zu holen, wieder entfernte. Nachdem
der Beschwerdeführer am Schacht vorbeigefahren war, bewegte er, ohne
sich zu vergewissern, ob sich der Lehrling erneut beim Schacht befinde,
das Fahrzeug um ca. einen Meter zurück, so dass er wieder sehr nahe beim
Schacht zu stehen kam. Er nahm an, wegen der Höhe des Baggeraufbaus würde
er bei einer Drehung den Schacht nicht berühren. An den Lehrling dachte
er in diesem Moment nicht. Beim Abdrehen der vollen Baggerschaufel nach
rechts drückte der linke hintere Teil des sich drehenden Baggeroberteils
den Lehrling gegen den Schacht.

    Die Vorinstanz ging in rechtlicher Hinsicht sinngemäss davon aus,
Vorbereitungsarbeiten zur Erstellung eines Vorplatzes fielen unter
Art. 229 StGB. Spezielle Vorschriften seien in den Richtlinien der SUVA
für die Benützung von Erdbewegungsmaschinen enthalten. Diese Richtlinien
enthielten aber ausser dem Hinweis auf die Anwendbarkeit des SVG keine
Vorschriften, die für den vorliegenden Fall von Bedeutung seien. Nebst
schriftlich festgelegten seien jedoch auch alle nach dem Stand des
Erfahrungswissens unbestrittenen Regeln zu beachten, insbesondere die
Pflicht zur Überwachung der Gefahr, die durch die Maschine und ihre
spezielle Funktion auf dem Bauplatz geschaffen werde. Dieser Pflicht habe
der Beschwerdeführer nicht hinreichend Rechnung getragen, da er sich beim
fraglichen Rückfahrmanöver nicht vergewissert habe, dass sich niemand in
unmittelbarer Nähe des Baggers aufhalte.

    b) Der Beschwerdeführer macht demgegenüber geltend, Art. 229 StGB sei
nicht anwendbar, da keine Verletzung der Regeln der Baukunde vorliege;
vielmehr sei eine Tätigkeit zu beurteilen, die unter die Herrschaft des
SVG falle, "respektive unter Art. 17 VRV, welcher unbestrittenermassen
verletzt wurde".

Erwägung 2

    2.- Wer bei der Ausführung eines Bauwerkes die anerkannten Regeln der
Baukunde ausser acht lässt und dadurch Leib und Leben von Mitmenschen
gefährdet, wird gemäss Art. 229 StGB wegen Gefährdung durch Verletzung
der Regeln der Baukunde bestraft; nach Abs. 2 der Bestimmung ist auch
die fahrlässige Tatbegehung strafbar.

    a) Zunächst ist festzuhalten, dass das Verhalten des Beschwerdeführers
entgegen seiner Behauptung jedenfalls nicht unter das SVG fällt. Denn
dieses Gesetz gilt nur für den Verkehr auf öffentlichen Strassen
(Art. 1 SVG). Im vorliegenden Fall wurde keine Baumaschine auf der
Strasse bewegt, und es geht nicht einmal um eine Baustelle auf oder im
unmittelbaren Bereich einer Strasse. Deshalb käme eine Verurteilung des
Beschwerdeführers wegen Verletzung von Art. 17 VRV von vornherein nicht
in Betracht. Ob die Regeln des Strassenverkehrsrechts gegebenenfalls
analog heranzuziehen sind, wenn es um die Beurteilung der Frage geht,
ob der Führer einer Baumaschine bei der Ausführung eines Bauwerkes die
anerkannten Regeln der Baukunde beachtet hat, wird weiter unten (E. 2c)
zu prüfen sein.

    b) Wie das Bundesgericht unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien
bereits in BGE 90 IV 249 erkannt hat, ist der Begriff des Bauwerkes
gemäss Art. 229 StGB in einem umfassenden Sinne zu verstehen. Bauwerk
ist danach jede bauliche oder technische Anlage, die mit Grund und
Boden verbunden ist. Gemeint sind namentlich alle Arten von Hoch- und
Tiefbauten, wie Häuser, Bahnen, Strassen, Kanäle und dergleichen, aber
auch blosse Teile solcher Bauten, sofern sie mit diesen oder mit dem
Erdboden fest verbunden sind. Auch in der Literatur wird die Auffassung
vertreten, der Begriff des Bauwerkes sei weit zu fassen (FELIX BENDEL,
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei der Verletzung der Regeln
der Baukunde, Diss. Genf 1960, S. 31 ff. mit Hinweisen; STRATENWERTH,
Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II, 3. A. Bern 1984, S. 120;
FRANZ RIKLIN, Die strafrechtlichen Risiken beim Bauen, Baurechtstagung
1987, S. 26). Die zitierte Entscheidung des Bundesgerichts ist denn auch
auf keine Kritik gestossen (vgl. SCHULTZ, ZBJV 102/1966 S. 66). Im Lichte
dieser Rechtsprechung kann es nicht zweifelhaft sein, dass vorliegend
Art. 229 StGB prinzipiell Anwendung findet. Es handelte sich um Bauarbeiten
auf dem Vorplatz eines im Rohbau fertiggestellten Gebäudes mit zahlreichen,
für einen Bauplatz typischen Merkmalen (Einsatz eines Baggers, Wegschaufeln
von Bauschutt, Arbeit an einem Frischwasserkontrollschacht).

    c) Der Beschwerdeführer macht geltend, ihm könne höchstens
unsorgfältiges Rückwärtsfahren im Sinne von Art. 17 VRV vorgeworfen werden,
worin aber keine Verletzung der Regeln der Baukunde liege.

    Wie in E. 2a bereits dargelegt, kommt eine direkte Anwendung der
Bestimmungen des Strassenverkehrsrechts und insbesondere von Art. 17
VRV nicht in Frage. Dies schliesst jedoch nicht aus, dass im Rahmen der
anerkannten Regeln der Baukunde beim Einsatz von Baumaschinen analog auf
Überlegungen zurückgegriffen werden kann, die im Strassenverkehrsrecht
entwickelt wurden. Geht man von einem weiten Begriff des Bauwerkes aus und
bezieht man insbesondere unter den Begriff der Ausführung eines Bauwerkes
alle Arbeiten im Zusammenhang mit dem Bauwerk ein, für den vorliegenden
Fall also alle Arbeiten im Zusammenhang mit dem Vorplatz, dann fallen
auch sämtliche Manöver mit einer Baumaschine unter Art. 229 StGB. Bei
der Frage, welche Sorgfaltspflichten der Baggerführer in concreto zu
beachten hat, ist deshalb - gegebenenfalls modifiziert im Hinblick auf
die besonderen Umstände eines Bauplatzes - auch Rückgriff auf Regeln zu
nehmen, die im Strassenverkehrsrecht entwickelt wurden. Denn letztlich
sind diese Regeln auf einen allgemeinen, über das Strassenverkehrsrecht
hinaus gültigen Grundsatz zurückzuführen, wonach der für ein gefährliches
Fahrzeug Verantwortliche alles vorzukehren hat, dass aus dem Einsatz
des Fahrzeuges kein Unglück entsteht. Die beim Rückwärtsfahren zu
beobachtenden Vorsichtspflichten müssen deshalb prinzipiell auch beim
Einsatz eines Baggers auf einem Bauplatz jedenfalls dann beobachtet
werden, wenn der Baggerführer damit rechnen muss, dass sich hinter seinem
Fahrzeug Menschen befinden. Die Vorinstanz hat für das Bundesgericht
verbindlich festgestellt, dass der Beschwerdeführer bereits bei den
Vorbereitungsarbeiten für den Baggereinsatz habe beobachten können,
wie der Lehrling Y. am Schacht seinen Arbeitsplatz einzurichten begonnen
habe. Es als pflichtwidrig zu betrachten, dass der Beschwerdeführer mit
dem Bagger ca. einen Meter zurückfuhr und eine Schwenkung vornahm, ohne
sich zu vergewissern, ob sich Y. beim Schacht befinde, verletzt deshalb
Bundesrecht nicht. Zu Recht nimmt die Vorinstanz an, der Beschwerdeführer
hätte entweder den Lehrling für die Dauer der Arbeiten von seinem
Arbeitsplatz beim Schacht wegweisen oder aber sich beim Rückfahrmanöver
und insbesondere vor dem Abschwenken durch einen Blick zurück über dessen
Abwesenheit vergewissern müssen.

    Zwar trifft es zu, dass sich der vorliegende Fall von BGE 90 IV
246 dadurch unterscheidet, dass beim heute zu beurteilenden Sachverhalt
durch den Bagger nicht eine Anlage beschädigt wurde, die mit Grund und
Boden verbunden war, sondern einzig ein unvorsichtiges Manöver mit einer
Baumaschine vorgenommen wurde. Wenn aber alle Bauarbeiten auf einem
Bauplatz in den Schutzbereich von Art. 229 StGB einbezogen werden, kann
es nicht darauf ankommen, ob das Bauwerk selbst beeinträchtigt wurde (was
z.B. für die Anwendung von Art. 227 StGB relevant wäre). Entscheidend ist
vielmehr, dass Art. 229 StGB Leib und Leben aller Menschen schützen will,
die im Zusammenhang mit einem Bau betroffen werden können, insbesondere
aber alle am Bau beteiligten Mitarbeiter (vgl. STRATENWERTH, aaO,
S. 121). Ob diese direkt durch ein Werkzeug oder eine Baumaschine gefährdet
werden oder nur indirekt dadurch, dass das unsachgemässe Vorgehen wie in
BGE 90 IV 246 eine Explosion bewirkt, ist für die Anwendung von Art. 229
StGB unerheblich.

    Allerdings kann man sich fragen, ob Art. 229 StGB, insbesondere in der
Form der fahrlässigen Begehung, nur bautypische Gefahren erfassen soll, und
Gefährdungen, wie sie überall unabhängig von einem Bau vorkommen können,
nicht unter Art. 229 StGB fallen würden. Die Frage braucht hier nicht
abschliessend beantwortet zu werden. Denn es steht fest, dass Y. nicht nur
vom abdrehenden Bagger erfasst wurde, sondern dass er überdies zwischen
dem im Bau befindlichen Schacht und der Maschine eingeklemmt wurde. Darin
ist aber die Realisierung einer bautypischen Gefahr zu erblicken.

Erwägung 3

    3.- Die übrigen Strafbarkeitsvoraussetzungen sind unstrittig
erfüllt. Die Beschwerde ist somit abzuweisen.