Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IV 244



115 IV 244

54. Urteil des Kassationshofes vom 15. November 1989 i.S. S. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 35 Abs. 1, 44 Abs. 1 und 34 Abs. 3 und 4 SVG; Art. 8 Abs. 3 und
36 Abs. 5 VRV; Fahren in parallelen Kolonnen, Rechtsvorbeifahren.

    1. Ein Fahren in parallelen Kolonnen ist bei dichtem Verkehr, d.h. bei
längerem Nebeneinanderfahren von mehreren sich in gleicher Fahrtrichtung
bewegenden Fahrzeugreihen gegeben (E. 3a).

    2. Abgrenzung zwischen Rechtsvorbeifahren, Rechtsüberholen und
Spurwechsel nach Art. 44 Abs. 1 SVG (E. 3b).

Sachverhalt

    A.- Mit Strafbefehl vom 2. September 1988 des Bezirksamtes Zofingen
wurde C. S. wegen Widerhandlung gegen Art. 34 Abs. 3 und 4, Art. 35 Abs. 1
bis 3, Art. 44 Abs. 1 SVG und Art. 36 Abs. 5 VRV in Verbindung mit Art.
90 Ziff. 1 und 2 SVG zu einer Busse von Fr. 350.-- verurteilt. Es
wird ihm ungenügender Abstand beim Hintereinanderfahren bzw. zu nahes
Aufschliessen auf der Autobahn vorgeworfen sowie verbotenes Rechtsüberholen
auf der Autobahn mit Behinderung, indem er beim Wiederausschwenken auf die
Überholspur den auf der Überholspur fahrenden PW von B. von F. behinderte
und diesen gegen die Mittelleitplanke abdrängte.

    Gegen diesen Strafbefehl erhob C. S. Einsprache. Das Bezirksgericht
Zofingen bestätigte den Strafbefehl.

    Eine dagegen eingereichte Berufung des Verurteilten wies das
Obergericht Aargau am 20. April 1989 ab.

    B.- Gegen dieses Urteil führt C. S. beim Bundesgericht
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, den angefochtenen Entscheid
aufzuheben.

    Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau haben
auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz lehnte die Anwendbarkeit von Art. 36 Abs.  5 VRV
(in der Fassung vor der Revision vom 25. Januar 1989; neu Art. 36 Abs. 5
lit. a VRV) ab, wonach auf Autobahnen beim Verkehr in parallelen Kolonnen
rechts an anderen Fahrzeugen vorbeigefahren werden darf. Sie ging davon
aus, es habe "flüssiger Verkehr auf beiden Fahrbahnen" geherrscht, und
führte an, auf der Autobahn könne erfahrungsgemäss nur dann Verkehr in
parallelen Kolonnen im Sinne dieser Bestimmung entstehen, wenn es zum
Beispiel zu einem Stau vor einem Hindernis (Baustelle, Übergang von der
3spurigen in die 2spurige Autobahn) komme, welcher dazu führe, dass sich
der Verkehr nur noch im Schritttempo bewege oder ganz zum Stillstand komme.

    Der Beschwerdeführer wendet ein, mit dieser Interpretation des Begriffs
"paralleler Kolonnenverkehr" habe die Vorinstanz gegen Bundesrecht
verstossen.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 35 Abs. 1 SVG ist links zu überholen, woraus
ein Verbot des Rechtsüberholens folgt. Ein Überholen liegt nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung vor, wenn ein schnelleres Fahrzeug ein
in gleicher Richtung langsamer vorausfahrendes einholt, an ihm vorbeifährt
und vor ihm die Fahrt fortsetzt, wobei weder das Ausschwenken noch das
Wiedereinbiegen eine notwendige Voraussetzung des Überholens bildet
(BGE 114 IV 56 E. 1 mit Hinweisen).

    Eine Ausnahme vom Verbot des Rechtsüberholens sieht Art. 8 Abs. 3
Satz 1 VRV allgemein und Art. 36 Abs. 5 (neu lit. a) VRV besonders auf
Autobahnen "beim Fahren in parallelen Kolonnen" vor, jedoch lediglich
in der Weise, dass bloss das Rechtsvorbeifahren an anderen Fahrzeugen
gestattet ist. Das Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen
ist gemäss Art. 8 Abs. 3 Satz 2 VRV ausdrücklich untersagt. Ein
Ausschwenken für sich allein oder ein Einbiegen für sich allein sind
hingegen gemäss Art. 44 Abs. 1 SVG wiederum gestattet; danach darf der
Führer auf Strassen, die für den Verkehr in gleicher Richtung in mehrere
Fahrstreifen unterteilt sind, seinen Streifen verlassen, allerdings nur
wenn er dadurch den übrigen Verkehr nicht gefährdet.

Erwägung 3

    3.- Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass beim Fahren in
parallelen Kolonnen auf Autobahnen in keinem Falle durch Ausschwenken und
Wiedereinbiegen rechts überholt werden darf, blosses Rechtsvorbeifahren
an anderen Fahrzeugen und der Wechsel des Fahrstreifens, wenn dies ohne
Behinderung des übrigen Verkehrs möglich ist, hingegen gestattet ist.

    a) Ein Fahren in parallelen Kolonnen ist nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung jedenfalls "bei dichten Kolonnen auf beiden Fahrspuren"
anzunehmen (BGE 98 IV 318). Vorausgesetzt ist somit dichter Verkehr auf
den Fahrspuren der entsprechenden Fahrtrichtung (Art. 8 Abs. 2 VRV;
BUSSY/RUSCONI, Code suisse de la circulation routière, N. 2.1.1. zu
Art. 44 SVG). R. SCHAFFHAUSER (Grundriss des schweizerischen
Strassenverkehrsrechts, Band 1, N. 547 S. 202) empfiehlt in Anlehnung
an LÜDKES/MAIER/ WAGNER N6 zu § 7 StVO/BRD auf eine "natürliche
Betrachtung" abzustellen, wonach Kolonnenverkehr vorliege bei "längerem
Nebeneinanderfahren von mehreren sich in gleicher Richtung bewegenden
Fahrzeugreihen". Dem ist als nähere Umschreibung dichten Kolonnenverkehrs
auf beiden Fahrspuren grundsätzlich zuzustimmen.

    Wenn das Obergericht Aargau die Annahme von Verkehr in parallelen
Kolonnen ablehnte, weil zwar Verkehr auf beiden Fahrbahnen herrschte,
dieser aber flüssig war und sich nicht nur noch im Schrittempo bewegte
oder ganz zum Stillstand gekommen war, so ist diese Begründung jedenfalls
bundesrechtswidrig. Allein die Feststellung, es habe flüssiger Verkehr
auf beiden Fahrbahnen geherrscht, sagt zuwenig über die Dichte des
Verkehrs, d.h. der Fahrzeugreihen, und die Grösse allfälliger Lücken
aus. Es mangelt daher an einer genügenden Sachverhaltsfeststellung
(Art. 277 BStP), weshalb die Vorinstanz die streitige Frage nach den
vorstehenden Kriterien neu zu beurteilen hat, ausser es läge entsprechend
den folgenden Ausführungen ein ohnehin verbotenes Überholmanöver durch
Ausschwenken und Wiedereinbiegen vor.

    b) Nicht blosses Vorbeifahren, sondern ein Überholen durch Ausschwenken
nach rechts und Wiedereinbiegen nach links liegt jedenfalls dann vor, wenn
das Ausschwenken, das Vorbeifahren an einem oder bloss wenigen Fahrzeugen
und das anschliessende Wiedereinbiegen in einem Zuge erfolgt. Dies
wird vor allem dort zutreffen, wo ein Fahrzeuglenker die Lücken in den
parallelen Kolonnen so ausnützt, das er nur um zu überholen kurz auf
der rechten Fahrbahn fährt und gleich wieder nach links einbiegt. Wie
ausgeführt, ist dieses Verhalten auch bei parallelem Kolonnenverkehr
untersagt (BGE 103 IV 198; 98 IV 317). Der Lenker verstösst in diesem
Falle gegen das Verbot des Rechtsüberholens nach Art. 35 Abs. 1 SVG (und
nicht, wie die Vorinstanz und der Beschwerdeführer anzunehmen scheinen,
gegen Art. 36 Abs. 5 VRV, wo lediglich eine Ausnahme von diesem Verbot
vorgesehen ist). Missachtet der Fahrzeugführer dabei zusätzlich seine
Vorsichtspflichten, gelangen die Absätze 2 und 3 von Art. 35 SVG analog
(vgl. R. HUG, Die Verkehrsregeln über das Überholen und Vorbeifahren und
ihr strafrechtlicher Schutz, Diss. Zürich 1984, S. 35) zur Anwendung.

    Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz kann auch
hier nicht nachgeprüft werden, ob sich der Beschwerdeführer ein verbotenes
Rechtsüberholen in diesem Sinne zu Schulden kommen liess oder nicht. Es
wird nicht festgestellt, wie sich die Vorgänge in den entscheidenden
Punkten abspielten und es ist auch nicht klar, ob das Überholen der
Verkehrsteilnehmer W. und von F. oder nur des einen von beiden durch den
Beschwerdeführer nach Art. 35 Abs. 1-3 SVG geahndet wurde. Die Vorinstanz
hat daher auch darüber neu zu befinden.

    Soweit der Vorfall mit dem Fahrzeuglenker von F., bei welchem dieser
behindert wurde, auch darunter fallen soll, ist festzuhalten, dass eine
Anwendung sowohl von Art. 35 Abs. 1-3 SVG als auch des Artikels 44 Abs. 1
SVG bundesrechtswidrig wäre. Es kann nicht gleichzeitig ein verbotenes
Überholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen sowie ein blosser
verbotener Spurwechsel vorliegen. Möglich ist allerdings eine Bestrafung
des Rechtsvorbeifahrens mangels parallelem Kolonnenverkehr nach Art. 35
Abs. 1 SVG und des anschliessenden Wechselns von der rechten auf die linke
Fahrspur unter Gefährdung des übrigen Verkehrs nach Art. 44 Abs. 1 SVG.
Dort, wo ein wiederholter Spurwechsel vorliegt, Ausschwenken, Vorbeifahren
und Wiedereinbiegen jedoch nicht als in einem Zuge erfolgt betrachtet
werden können, kann schliesslich, wenn das Rechtsvorbeifahren aufgrund von
Art. 36 Abs. 5 VRV erlaubt ist, auch eine blosse Ahndung gemäss Art. 44
Abs. 1 SVG - und/oder gegebenenfalls nach Art. 34 Abs. 3 und 4 SVG -
erfolgen; dies dürfte sogar die naheliegendste Bestimmung sein, die auf
ständige Spurwechsel in parallelem Kolonnenverkehr anzuwenden ist, wenn
der übrige Verkehr dadurch gefährdet wird und keine anderen Vorschriften
verletzt wurden, wobei sich vom Unrechtsgehalt her kaum ein Unterschied
zu einem verbotenen Rechtsüberholen ergibt.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das
Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 20. April 1989 aufgehoben
und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.