Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IV 148



115 IV 148

33. Urteil des Kassationshofes vom 26. Mai 1989 i.S. B. gegen
Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 29 und 93 Ziff. 2 SVG, Art. 59a VRV, Art. 83a BAV; Abgaswartung,
Pflichten des Fahrzeuglenkers.

    Art. 59a Abs. 3 VRV regelt die Pflichten des Fahrzeuglenkers
abschliessend. Dieser hat das Abgas-Wartungsdokument mitzuführen und es
den Kontrollorganen auf Verlangen vorzuweisen, während der Fahrzeughalter
für die Abgaswartung gemäss Abs. 1 verantwortlich ist (E. 2).

    Nach Ablauf der Abgaswartungsfrist befindet sich ein Fahrzeug nur
dann in vorschriftswidrigem Zustand (Art. 93 Ziff. 2 SVG), wenn es den
massgebenden Bau- und Ausrüstungsvorschriften nicht (mehr) entspricht
(E. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 4. März 1988 lenkte B. den PW Fiat Uno ihres Vaters, als
sie angehalten und kontrolliert wurde. Dabei stellte sich heraus, dass
der letzte Abgastest vom 24. Februar 1987 datierte und somit ab 1. März
1988 nicht mehr gültig war. Der am 10. März 1988 durchgeführte Abgastest
verlief ohne Beanstandungen.

    Die 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern verurteilte
B. am 20. Oktober 1988 wegen Führens eines Fahrzeuges, das nicht den
Vorschriften entsprach, zu Fr. 50.-- Busse.

    B. führt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, der angefochtene
Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Neuentscheidung an das
Obergericht zurückzuweisen.

    Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt in seiner
Vernehmlassung Abweisung der Beschwerde, während das Bundesamt für
Polizeiwesen sinngemäss für eine Gutheissung eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz ging davon aus, Fahrzeuge dürften nur
in betriebssicherem und vorschriftsgemässem Zustand verkehren
(Art. 29 SVG). Der von der Beschwerdeführerin gelenkte PW habe den
Abgaswartungsvorschriften nicht entsprochen (Art. 59a VRV und 83a
und b BAV). Wer aber ein Fahrzeug führe, von dem er wisse oder bei
pflichtgemässer Aufmerksamkeit wissen könne, dass es nicht den Vorschriften
entspreche, sei gemäss Art. 93 Ziff. 2 Abs. 1 SVG zu bestrafen.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 59a Abs. 1 VRV ist der Halter verpflichtet, diejenigen
Teile des Fahrzeuges, die auf die Abgasemissionswerte einen Einfluss
ausüben, mindestens alle 12 Monate warten zu lassen, und gemäss
Absatz 2 ist er dafür verantwortlich, dass für sein Fahrzeug ein
Abgas-Wartungsdokument mit den vorgeschriebenen Eintragungen vorhanden
ist. Der Lenker muss das Abgas- Wartungsdokument mitführen und den
Kontrollorganen auf Verlangen vorweisen (Abs. 3).

    Bereits der Verordnungstext bringt eine klare Trennung zwischen
der Verantwortlichkeit des Halters und derjenigen des Lenkers zum
Ausdruck. Diese Trennung entsprach dem Willen des Bundesrates, als
er mit Verordnungsänderung vom 13. November 1985 die Abgaswartung
einführte. Er beschränkte die Pflicht des Lenkers bewusst darauf, das
Abgaswartungsdokument mitzuführen und den Kontrollorganen auf Verlangen
vorzuweisen. Dies zeigt sich auch in der systematischen Einordnung der
neuen Bestimmung in die VRV. So ist die Abgaswartung nicht im Titel
"1. Betriebssicherheit", der sich mit den Pflichten der Fahrzeugführer
bezüglich des vorschriftsgemässen Zustandes des Fahrzeuges befasst,
sondern für sich unter dem Titel "1.a Abgasemissionen. Abgaswartung des
Fahrzeugs" geregelt.

    Die Vorinstanz lastete der Beschwerdeführerin als Lenkerin an,
dass sie ein Fahrzeug führte, an dem die Abgaswartung nicht fristgerecht
durchgeführt worden war. Da diese Pflicht nach dem oben Gesagten lediglich
dem Halter obliegt, widerspricht der vorinstanzliche Entscheid Bundesrecht.

Erwägung 3

    3.- Weiter ist die Frage zu prüfen, ob ein nicht rechtzeitig
gewartetes Fahrzeug (Art. 59a Abs. 1 VRV) sich in vorschriftswidrigem
Zustand befindet.

    a) Nach Art. 93 Ziff. 2 SVG wird bestraft, wer ein Fahrzeug führt,
von dem er weiss oder bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit wissen kann,
dass es den Vorschriften nicht entspricht. Diese Bestimmung bezieht
sich auf Art. 29 SVG, wonach Fahrzeuge nur in betriebssicherem und
vorschriftsgemässem Zustand verkehren dürfen; diese müssen so beschaffen
und unterhalten sein, dass die Verkehrsregeln befolgt werden können und
dass Führer, Mitfahrende und andere Strassenbenützer nicht gefährdet und
die Strassen nicht beschädigt werden. Gemäss Art. 85 Abs. 1 BAV gilt ein
Fahrzeug auch dann als nicht vorschriftsgemäss, wenn dauernd, zeitweilig
oder für bestimmte Fälle vorgeschriebene Teile, inbegriffen Breite-,
Geschwindigkeits- oder Landeszeichen, fehlen oder den Vorschriften
nicht entsprechen und wenn dauernd oder zeitweilig untersagte Teile,
wie Reifen mit Metallstiften, vorhanden sind oder bewilligungspflichtige
ohne Bewilligung angebracht wurden.

    Daraus ergibt sich, dass sich ein Fahrzeug immer dann in
vorschriftswidrigem Zustand (Art. 93 Ziff. 2 SVG) befindet, wenn
das Fahrzeug den massgebenden Bau- und Ausrüstungsvorschriften nicht
entspricht.

    b) Die Vorinstanz vertritt die Auffassung, ein Fahrzeug, bei dem die
Abgaswartung nicht fristgerecht durchgeführt worden sei, befinde sich
mit Fristablauf in einem vorschriftswidrigen Zustand im Sinne von Art. 93
Ziff. 2 SVG.

    Dies trifft nicht zu. Auch nach Ablauf der Abgaswartungsfrist
befindet sich das Fahrzeug nur dann in einem vorschriftswidrigen Zustand,
wenn es den massgebenden Bau- und Ausrüstungsvorschriften nicht (mehr)
entspricht. Dieser Zustand tritt aber nicht durch Fristablauf ein,
sondern dadurch, dass z.B. ein abgasrelevanter Teil defekt wird. Aus
Art. 83a BAV, der die bei der Abgaswartung vorgeschriebenen Arbeiten
auflistet, ist denn auch ersichtlich, dass die Wartung nur, wenn
dies notwendig ist, die Instandstellung oder den Ersatz der für die
Abgasemissionen massgeblichen Teile beinhaltet. Ansonsten beschränkt sich
die vorgeschriebene Abgaswartung auf die Kontrolle und Einstellung der
für die Abgasemissionen massgeblichen Teile sowie eine Abgasmessung im
Leerlauf. Daher kann von einem vorschriftswidrigen Zustand des Fahrzeuges -
trotz Versäumen der Wartungsfrist - von vornherein keine Rede sein, wenn
die Überprüfung des Fahrzeuges ergibt, dass keine Instandstellungsarbeiten
ausgeführt werden müssen.

    c) Die Vorinstanz stellte für den Kassationshof verbindlich fest
(Art. 277bis Abs. 1 BStP), die am 10. März 1988 durchgeführte Abgaswartung
habe zu keinen Beanstandungen Anlass gegeben. Daraus ist zu schliessen,
dass keine Instandstellungsarbeiten notwendig waren und sich das Fahrzeug
somit im fraglichen Zeitpunkt in vorschriftsgemässem Zustand befand. Da
aus den oben genannten Gründen vom Versäumen der Abgaswartungsfrist allein
nicht auf den vorschriftswidrigen Zustand eines Fahrzeuges geschlossen
werden kann, ist der objektive Tatbestand von Art. 93 Ziff. 2 erster Satz
SVG vorliegend nicht erfüllt. Deshalb ist der angefochtene Entscheid
aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie
die Beschwerdeführerin vom Führen eines Fahrzeugs in vorschriftswidrigem
Zustand freispreche.