Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IV 139



115 IV 139

31. Urteil des Kassationshofes vom 23. Mai 1989 i.S. B. gegen
Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 36 Abs. 2 SVG, Art. 14 Abs. 1 und 15 Abs. 2 VRV, neu Art. 24
Abs. 4 SSV; Vortrittsrecht im Kreisverkehr.

    Die Signale "Kein Vortritt" mit der Zusatztafel "Kreisvortritt"
sowie "Kein Vortritt" mit dem neuen Zeichen "Kreisverkehr" bedeuten,
dass Linksvortritt gilt.

Sachverhalt

    A.- Am 6. Dezember 1987 kam es auf der als Kreisel ausgestalteten
Kreuzung Jungfraustrasse/Stockhornstrasse/Pestalozzistrasse in Thun zu
einer Kollision mit Sachschaden zwischen zwei Personenwagen. Die in den
Kreisel einmündenden Strassen waren mit dem Signal "Kein Vortritt" und der
Zusatztafel "Kreisvortritt" signalisiert. Im Kreisel mit einem Durchmesser
von zirka 16 m befand sich eine provisorische Verkehrsteilerinsel mit
den Signalen "Hindernis rechts umfahren". Auf der Pestalozzistrasse
fuhr A. in Richtung Stadtzentrum auf den Kreisel zu und hielt bei der
Wartelinie an. Sie sah von rechts das Fahrzeug von B. herannahen, fuhr
dann im ersten Gang an und beschleunigte, um geradeaus über die Kreuzung
zu fahren. B. mündete von der Jungfraustrasse, ohne anzuhalten, aber mit
geringer Geschwindigkeit in den Kreisel ein. Im Kreisel kam es dann zur
Kollision zwischen den beiden Fahrzeugen, wobei der Personenwagen der
A. gegen die linke Seite des Personenwagens des B. stiess.

    Der Gerichtspräsident 2 von Thun verurteilte B. wegen Missachtens
des signalisierten Vortrittsrechts zu einer Busse von Fr. 150.--. Eine
dagegen eingereichte Appellation wies das Obergericht des Kantons Bern
am 23. August 1988 ab.

    B. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Freisprechung an
das Obergericht zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Weder das SVG noch die VRV kennen eine besondere Bestimmung für den
Kreisverkehr. Erst mit der Revision der SSV vom 25. Januar 1989 durch den
Bundesrat, die am 1. Mai 1989 in Kraft trat, ist ein Signal "Kreisverkehr"
eingeführt worden, welches bei kreisförmigen Plätzen die Richtung anzeigt,
die der Verkehr im Kreis einzuhalten hat, unter dem Signal "Kein Vortritt"
steht und in Verbindung mit diesem dem Führer anzeigt, dass er "den im
Kreis befindlichen Fahrzeugen" den Vortritt lassen muss (neu Art. 24
Abs. 4).

    Die neue Regelung findet auf den vorliegenden Fall noch keine
Anwendung. Dazu wird gleichwohl Stellung bezogen, um klarzustellen, dass
unter der neuen Regelung in der zitierten Bestimmung der SSV gleich zu
entscheiden wäre und der zu fällende Entscheid daher auch für künftige
Fälle Geltung beanspruchen kann.

Erwägung 2

    2.- Unter Kreisverkehr ist die Verkehrsabwicklung über einen als
Kreisel bezeichneten kreisförmigen Platz zu verstehen. Im Kreisel, der eine
besondere Art einer Strassenverzweigung darstellt, wickelt sich der Verkehr
im Gegenuhrzeigersinn um einen Mittelpunkt ab. Das Signal "Kein Vortritt"
mit der Zusatztafel "Kreisvortritt" auf allen in den Kreisel einmündenden
Strassen, wie es in unserem Falle verwendet wurde - oder nach der neuen
Regelung die Signalisation "Kein Vortritt" und "Kreisverkehr" -, bedeutet,
nachdem die Fahrtrichtung im Kreisel bei unserem Rechtsverkehr nur links
herum, d.h. im Gegenuhrzeigersinn verlaufen kann, dass Linksvortritt gilt;
die Fahrzeuge im Kreisel, denen aufgrund der angebrachten Signalisation der
Vortritt zustehen soll, können nur von links kommen. Die Verkehrsteilnehmer
ausserhalb des Kreisels, an die sich die erwähnten Signale richten, sind
somit verpflichtet, den von links herannahenden Fahrzeugen den Vortritt
zu gewähren.

    a) Vortrittsregeln besagen, welches von zwei Fahrzeugen eine
Verzweigungsfläche zuerst befahren darf, wenn eine gleichzeitige Benützung
derselben, ohne sich gegenseitig zu behindern, nicht möglich ist (und
nicht ein Fall des Hinter- oder Nebeneinanderfahrens vorliegt). Der
Vortrittsverpflichtete muss "vor Beginn der Verzweigung" halten (Art. 14
Abs. 1 VRV) und dem Berechtigten steht das Vortrittsrecht grundsätzlich auf
der ganzen Verzweigungsfläche, die der Schnittfläche der zusammentreffenden
Fahrbahnen entspricht, zu (BGE 105 IV 341, 102 IV 259 und 98 IV 115;
SCHAFFHAUSER, Grundriss des Strassenverkehrsrechts I, N. 651 und 666).

    b) Aus dieser Umschreibung des Begriffs des Vortrittsrechts in
Literatur und Judikatur ergibt sich, dass es entgegen der Meinung des
Beschwerdeführers für die Vortrittsberechtigung bzw. die Wartepflicht des
Belasteten nicht darauf ankommen kann, welcher Verkehrsteilnehmer zuerst
die Verzweigungsfläche erreicht. Entscheidend ist im Gegenteil allein, ob
der Belastete die Verzweigungsfläche vor dem Berechtigten befahren kann,
ohne diesen zu behindern.

    Demzufolge hat der in einen Kreisel einmündende Verkehrsteilnehmer
jedem von links herannahenden Fahrzeuglenker den Vortritt zu gewähren,
den er auf der Verzweigungsfläche behindern würde, wenn er nicht warten
würde; dies gleichgültig darum, ob der andere Verkehrsteilnehmer die
Kreiselfahrbahn befährt oder von einer Zufahrtsstrasse links von ihm in
den Kreisel einmündet und sei dies vor, gleichzeitig oder auch nach ihm.

    c) Eine solche Regelung steht entgegen der Auffassung von BUSSY/RUSCONI
(2. Aufl., LCR 36, N. 3.2.3) nicht in Widerspruch zu Art. 15 Abs. 2
VRV, wonach unter zwei vortrittsbelasteten Strassen, die in eine
vortrittsberechtigte einmünden, Rechtsvortritt gilt. Aufgrund der
Bedeutung, die der Signalisation im Kreisverkehr nach dem Gesagten
beizumessen ist, und weil diese in Art. 36 Abs. 2 Satz 3 SVG
vorbehalten ist und damit vorgeht, stellt die Kreiselfahrbahn nicht
eine vortrittsberechtigte Strasse dar, bei der beide einmündenden
Zufahrtsstrassen unter sich aufgrund des Signals "Kein Vortritt"
ebenfalls vortrittsbelastet waren, wenn nicht Abs. 2 von Art. 15 VRV
gelten würde. Im Kreisverkehr besteht infolge der unter dem erwähnten
Signal in unserem Falle angebracht gewesenen Zusatztafel "Kreisvortritt"
oder des in Zukunft dort stehenden Signals "Kreisverkehr" unter den
Zufahrtsstrassen eine Vortrittsregelung, nämlich der Linksvortritt,
so dass für eine Anwendung von Art. 15 Abs. 2 VRV kein Raum besteht.

    Auch mit dem neuen Art. 24 Abs. 4 SSV ist die Regelung
vereinbar. Dessen Wortlaut ist allerdings nicht glücklich formuliert. Der
Verordnungsgeber hatte offensichtlich nur den grossen, eigentlichen Kreisel
im Auge, bei welchem sich die Frage des Vortrittsrechts unter den in
genügendem Abstand einmündenden Strassen in der Regel nicht stellt. Eine
neue Art von Vortrittsrecht in Abweichung vom entsprechenden Begriff des
SVG und von Doktrin und Praxis dazu wollte und konnte mit der in einer
blossen Verordnung enthaltenen Vorschrift nicht geschaffen werden. Daher
steht nichts entgegen, die Umschreibung, "den im Kreis befindlichen
Fahrzeugen" sei der Vortritt zu lassen, gemäss dem Sinn und Zweck des
Vortrittsrechts so auszulegen, wie dies vorstehend (lit. b) erfolgte.

    d) Der sich aus der Signalisation und deren Auslegung ergebende
Linksvortritt im Kreisverkehr gegenüber allen und nicht nur den im Kreis
befindlichen Verkehrsteilnehmern entspricht allein den Erfordernissen
eines flüssigen Verkehrsablaufs, dem der Kreisverkehr dienen will, sowie
der Rechts- und Verkehrssicherheit.

    Gegenüber den Fahrzeugen, die sich bereits auf der Kreisfahrbahn
befinden, gilt in jedem Falle in Abweichung von der allgemeinen
Rechtsvortrittsregel der Linksvortritt. Würde unter in den Kreisel
Einmündenden Rechtsvortritt zur Anwendung gebracht, musste der
Fahrzeuglenker im Kreisverkehr gleichzeitig sowohl nach links als auch nach
rechts beobachten, um seinen Vorsichtspflichten als Vortrittsbelasteter
nachzukommen, womit er überfordert wäre. Dies führte dazu, dass bereits
beim kleinsten Verkehrsaufkommen in jedem Falle vor dem Befahren des
Kreisels ein Sicherheitshalt eingeschaltet werden müsste. Gerade dies
will mit dem Kreisverkehr jedoch verhindert werden.

    Richtete sich die Vortrittsberechtigung im Kreisverkehr ausschliesslich
danach, welcher Verkehrsteilnehmer sich vor dem anderen im Kreisel befand,
würde damit nicht nur auf ein neues und ungewohntes, sondern auch auf ein
für den Automobilisten selber und den Richter schwierig zu beurteilendes
Kriterium abgestellt. Dies wäre der Rechts- und Verkehrssicherheit
abträglich.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer geht in der Beschwerdebegründung davon
aus, beide Fahrzeuge hätten sich bereits im Kreisel befunden, weshalb
sich die Frage des Vortrittsrechts gar nicht stelle. Dies trifft nicht
zu. Die Vorinstanz kam nach dem oben Gesagten zu Recht zum Schluss, das
Fahrzeug der Kollisionsgegnerin auf der Pestalozzistrasse sei von links
in den Kreisel eingefahren und daher gegenüber dem Beschwerdeführer
vortrittsberechtigt gewesen, und zwar unabhängig davon, welcher der
beiden Verkehrsteilnehmer zuerst in den Kreisel eingemündet sei. Der
Beschwerdeführer hätte, wie im angefochtenen Entscheid zutreffend
festgehalten wurde, seine Fahrweise darauf einstellen müssen, das
andere Fahrzeug in seiner Weiterfahrt nicht zu behindern, was bei
aufmerksamer Beobachtung ohne weiteres möglich gewesen wäre. Dass der
Beschwerdeführer das auf der linken Zufahrt herannahende Fahrzeug innerhalb
der Schnittfläche der beiden, den Beteiligten zur Verfügung gestandenen
Fahrbahnen in seiner Weiterfahrt behinderte und damit dessen Vortrittsrecht
missachtete, ist offensichtlich. Die genaue Abgrenzung der massgeblichen
Verzweigungsfläche im Kreisverkehr kann hier daher offenbleiben.

    Die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Missachtung des
Vortrittsrechts verletzt demzufolge kein Bundesrecht.