Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 67



115 II 67

12. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. Januar 1989
i.S. Bank C. gegen Bank E. (Berufung) Regeste

    Unwiderrufliches, bestätigtes Dokumenten-Akkreditiv (Einheitliche
Richtlinien und Gebräuche für Dokumenten-Akkreditive, Revision 1974;
Art. 2 ZGB).

    1. Internationales Privatrecht: Auf die Beziehungen zwischen der
bestätigenden Bank und dem Begünstigten ist das Recht am Sitz dieser Bank
anwendbar (E. 1).

    2. Grundsätze der Dokumentenstrenge und der Abstraktheit der
Akkreditiv-Verpflichtung (E. 2a). Bei rechtsmissbräuchlichem Verhalten
der bestätigenden Bank kann davon abgewichen werden (E. 2b, e).

Sachverhalt

    A.- Im Auftrag der Firma A. mit Sitz in Amman ersuchte die Bank B.,
Amman, am 12. September 1983 die Bank C. in Zürich, das zugunsten der Firma
D. mit Sitz in Beirut eröffnete, unwiderrufliche Dokumenten-Akkreditiv
Nr. 360/83 zu bestätigen. Am 26. September 1983 erklärte die Bank
C. der Begünstigten gegenüber, der alle Mitteilungen über die Zürcher
Niederlassung der Bank E. zugestellt werden sollten, die Bestätigung
des Akkreditivs.

    Beim Grundgeschäft ging es um die Lieferung von australischen Schafen
und Rindern, welche die D. als Zwischenhändlerin der A. verkaufte. Eine
erste Teillieferung von 7500 Schafen wurde am 2. Oktober 1983 im
jordanischen Bestimmungshafen gelöscht. Am 24. Oktober verlangte die Bank
E. unter Beilegung verschiedener Dokumente von der Bank C. die Gutschrift
von $ 337'500.--. Diese rügte Abweichungen von den Akkreditivbedingungen,
unter anderem das Fehlen des von der Bank B. auszustellenden "receipt
from our rep (who will be appointed later) signed and proving delivery
of goods".

    Eine weitere Teillieferung, die am 29. Oktober 1983 gelöscht wurde,
umfasste 42 360 Schafe und 399 Stiere zum Preise von $ 2'139'717.15. Als
Antwort auf die Zahlungsaufforderung vom 31. Oktober rügte die Bank
C. wiederum das Fehlen des "receipt" und machte ferner geltend, das
Versicherungszertifikat decke textlich zweimal die gleiche Ware. Am
16. Dezember 1983 ersuchte die Bank C. die Bank F., New York, als
von der Bank B. bezeichnete Korrespondenzbank um Remboursierung unter
dem Akkreditiv für den Betrag von $ 2'477'217.15. Die New Yorker Bank
zahlte nicht, weil ihr die Bank B. in der Zwischenzeit die Erlaubnis
dazu entzogen hatte. Auf Anfrage teilte die Bank B. der C. sodann mit,
sie betrachte das Akkreditiv als aufgehoben. Darauf verweigerte die C. der
Begünstigten gegenüber die Zahlung.

    B.- Nachdem Verhandlungen zwischen der C. und der Bank E. zu keinem
Ergebnis geführt hatten, liess sich diese am 14. November 1984 den Anspruch
der Firma D. auf Auszahlung des Akkreditivbetrages abtreten.

    Die Bank E. erhob im Mai 1985 beim Handelsgericht des Kantons Zürich
Klage gegen die Bank C., mit der sie die Zahlung von $ 2'477'275.--
nebst 12% Zins seit 17. Dezember 1983 verlangte. Die Beklagte erklärte
der Bank B. den Streit. Die Litisdenunziatin nahm am Verfahren nicht teil.

    Die von der Beklagten erhobene Einrede der fehlenden Aktivlegitimation
wurde mit Vor-Urteil vom 25. April 1986 abgewiesen. Die Beklagte hatte
zur Begründung der Einrede im wesentlichen geltend gemacht, ihr gegenüber
sei der Eindruck erweckt worden, die Firma D. sei eine Gesellschaft mit
Sitz oder Niederlassung in Zürich. Mit Urteil vom 29. März 1988 hiess
das Handelsgericht sodann die Klage gut.

    C.- Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Berufung eingereicht, die
vom Bundesgericht abgewiesen wird, soweit darauf eingetreten werden kann.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz geht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des
Bundesgerichtes davon aus, dass die Streitsache nach schweizerischem Recht
zu beurteilen sei. Diese Frage ist im Berufungsverfahren von Amtes wegen
zu prüfen (BGE 107 II 485 E. 1). Dabei wird das streitige Rechtsverhältnis
nach der lex fori, d.h. nach schweizerischem Recht qualifiziert (BGE 111
II 278 E. 1c mit Hinweisen).

    Gemäss der Praxis des Bundesgerichts unterstehen Akkreditive dem
Recht am Sitz der Akkreditivbank, da diese die für das Vertragsverhältnis
charakteristische Leistung erbringt (BGE 87 II 237; SCHÖNENBERGER/JÄGGI,
Allgemeine Einleitung, N. 309). Das gilt bezüglich der Anweisung, welche
dem Akkreditiv zugrunde liegt und internationalprivatrechtlich gleich
beurteilt wird, sowohl für das Verhältnis des Angewiesenen zum Anweisenden
wie auch zum Begünstigten (BGE 100 II 209). In Fällen wie dem vorliegenden,
in denen das unwiderrufliche Akkreditiv von einer Korrespondenzbank
bestätigt wird, stellt sich indes hinsichtlich des Verhältnisses zum
Begünstigten die Frage, ob der Sitz der eröffnenden oder der bestätigenden
Bank massgebend sein soll. Dabei ist von Bedeutung, dass die bestätigende
Bank gemäss Art. 3 lit. b der hier aufgrund einer vertraglichen
Vereinbarung anwendbaren "Einheitlichen Richtlinien und Gebräuche für
Dokumenten-Akkreditive" (ERGDA), Revision 1974, mit der Bestätigung ein
selbständiges Zahlungsversprechen gegenüber dem Begünstigten abgibt,
das demjenigen der eröffnenden Bank entspricht. Der Begünstigte kann
sich zur Erfüllung seiner Ansprüche wahlweise an die eröffnende oder an
die bestätigende Bank halten. Mit der Bestätigung entsteht ein zweites
Akkreditiv, an dem die eröffnende Bank als Anweisende und die bestätigende
Bank als Angewiesene beteiligt ist. Anweisungsempfänger ist bei beiden
Akkreditiven der Begünstigte (HEINER SCHÄRRER, Die Rechtsstellung des
Begünstigten im Dokumenten-Akkreditiv, Diss. Bern 1980, S. 116 ff.;
URBAN SLONGO, Die Zahlung unter Vorbehalt im Akkreditiv-Geschäft,
Diss. Bern 1979, S. 23 f.; EISEMANN/EBERTH, Das Dokumenten-Akkreditiv
im Internationalen Handelsverkehr, 2. Auflage, S. 81 ff.; BGE 78 II 49:
zu den ERGDA von 1933). Die charakteristische Leistung wird auch hier vom
Angewiesenen erbracht, weshalb im Verhältnis zum Begünstigen das Recht
am Sitz der bestätigenden Bank zur Anwendung kommt, falls er diese und
nicht die eröffnende Bank in Anspruch nimmt.

    Auf die Streitsache ist somit schweizerisches Recht anwendbar.

Erwägung 2

    2.- Das Handelsgericht hält die Weigerung der Beklagten, ihrer
Akkreditiv-Verpflichtung gegenüber der Firma D. mit Hinweis auf das
Fehlen des "receipt" nachzukommen, für rechtsmissbräuchlich, weil ihr
spätestens am 16. November 1983 bekannt gewesen sei, dass der Zweck des
"receipt", nämlich der Nachweis der Ablieferung der Tiere an die Firma
A., erfüllt gewesen sei. Das Beharren auf der Einreichung des "receipt"
stelle deshalb eine unnütze Rechtsausübung dar, die keinen Schutz verdiene.

    Nach Auffassung der Beklagten verstösst das Handelsgericht damit gegen
den Grundsatz, dass eine Vertragspartei ihre Leistung nur zu erbringen
hat, wenn alle gültig vereinbarten Bedingungen erfüllt worden sind. Sie
beruft sich in diesem Zusammenhang auf das Prinzip der Dokumentenstrenge,
welches beim Fehlen einer im Akkreditiv genannten Bedingung gebiete,
dass die Anspruchsberechtigung des Akkreditivbegünstigten gegenüber der
bestätigenden Bank ohne weiteres verneint werde.

    a) Der Grundsatz der Dokumenten- oder Akkreditivstrenge betrifft
die Prüfung der Dokumente und kommt in erster Linie im Verhältnis
zwischen der zur Aufnahme der Dokumente befugten Bank und dem
Akkreditiv-Auftraggeber zur Anwendung; er gilt aber entsprechend auch
für das Verhältnis zwischen der Bank und dem Begünstigten (C.-W. CANARIS
in Grosskomm. HGB, 4. Auflage, 10. Lieferung: Bankvertragsrecht, Erster
Teil, Rn. 993). Der Grundsatz bedeutet, dass die eingereichten Dokumente
von der Bank nur auf ihre formelle Ordnungsmässigkeit, d.h. auf die
Übereinstimmung mit den Akkreditivbedingungen, nicht aber auf ihre
materielle, inhaltliche Richtigkeit zu prüfen sind. Die Bank darf nur
gegen solche Dokumente Zahlung leisten, die sich nach dieser Prüfung als
akkreditivgerecht erweisen. Zudem haben Dokumenten- und Warengeschäft,
von der Bank her gesehen, nichts miteinander zu tun (Abstraktheit der
Akkreditiv- Verpflichtung: BGE 100 II 150 E. 4a). Selbst beim Nachweis
vollständiger und ordnungsgemässer Erfüllung des Warengeschäfts dürfen
nicht akkreditivgerechte Dokumente grundsätzlich nicht aufgenommen
werden. Umgekehrt ist es für die Bank in der Regel auch nicht statthaft,
die Aufnahme akkreditivgerechter Dokumente abzulehnen, wenn sie vermutet,
dass in den Dokumenten enthaltene Angaben objektiv nicht zutreffen
(ZAHN/EBERDING/ EHRLICH, Zahlung und Zahlungssicherung im Aussenhandel,
6. Auflage, Rn. 2/215 f.; SCHÄRRER, aaO, S. 89 f.; EISEMANN/ EBERTH,
aaO, S. 148 sowie S. 150 ff.; ferner SLONGO, aaO, S. 36 ff.; HARTMANN,
Der Akkreditiveröffnungsauftrag, S. 98 f.; vgl. ferner Art. 7 und 8 ERGDA).

    b) Aus den Grundsätzen der Dokumentenstrenge und der Abstraktheit
der Akkreditiv-Verpflichtung ergibt sich jedoch nicht, dass das Verbot
des Rechtsmissbrauchs auf das Verhältnis zwischen der Beklagten und
der Begünstigten von vornherein nicht angewendet werden darf. In der
Lehre wird zwar auf die grosse Bedeutung der beiden Grundsätze für
das Dokumenten-Akkreditiv hingewiesen und ein Abweichen gestützt auf
das Verbot des Rechtsmissbrauchs nur mit Zurückhaltung befürwortet. Die
Meinung, dass eine Einschränkung wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens
der Bank oder des Begünstigten ganz allgemein ausgeschlossen wäre, wird
dagegen kaum vertreten. Auch die von der Beklagten zitierten Autoren
halten in Ausnahmefällen, wo das Beharren auf der strikten Einhaltung der
Akkreditivbedingungen oder die Nichtberücksichtigung des Grundgeschäftes
als wider Treu und Glauben beurteilt werden muss, ein Abweichen von den
erwähnten Grundsätzen für gerechtfertigt (SCHÄRRER, aaO, S. 96 und S. 129
ff.; ZAHN/EBERDING/EHRLICH, aaO, Rn. 2/337 ff.). Gleicher Ansicht ist
CANARIS (a. a. O., Rn. 945 und 1015 f.), und auch das Bundesgericht hat
in BGE 100 II 151 hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der Bank und
dem Begünstigten die Berufung auf rechtsmissbräuchliches Verhalten nicht
ausgeschlossen. Die beiden Grundsätze stehen somit einer Anwendung von
Art. 2 ZGB nicht entgegen.
   (...)

    e) Das Festhalten der Beklagten an der Beibringung des "receipt",
obschon ihr bekannt war, dass dessen Zweck erfüllt war, stellt
einen mit Treu und Glauben unvereinbaren Versuch dar, eine rein
formale Rechtsposition auszunutzen (vgl. CANARIS, aaO, Rn. 945). Die
Vorinstanz beurteilte das Verhalten der Beklagten somit zu Recht als
rechtsmissbräuchlich.

Erwägung 3

    3.- Bezüglich der zweiten Teillieferung war im kantonalen Verfahren
streitig, ob die Beklagte die Zahlung mit der Begründung verweigern durfte,
das Versicherungszertifikat weise einen Mangel auf, weil es textlich
zweimal die gleiche Ware decke. Das Handelsgericht erklärt den Einwand
für unbegründet, wobei es zwei voneinander unabhängige, selbständige
Begründungen aufführt. Nach der einen handelt es sich um eine unbedeutende
Abweichung ("minor discrepancy"), die gemäss den Akkreditivbedingungen
die Beklagte nicht zur Verweigerung der Zahlung berechtigte. Nach
der anderen stand die Zahlungsverpflichtung der Beklagten damit unter
einer Resolutivbedingung, die nicht eingetreten sei, oder unter einer
Suspensivbedingung, deren Eintritt die Beklagte wider Treu und Glauben
verhindert habe. Da sich die Beklagte mit der Berufung lediglich zu dieser
zweiten Alternativbegründung äussert, kann nach ständiger Rechtsprechung
auf ihre Rüge nicht eingetreten werden (BGE 111 II 397/8 und 399).