Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 490



115 II 490

87. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 16. November 1989 i.S.
Heinz S. gegen V. AG und B. AG (Berufung) Regeste

    Art. 66 lit. a PatG; Begriff der Nachahmung einer Erfindung.

    Keine Nachahmung liegt vor, wenn die beanstandete Ausführungsform nicht
am Erfindungsgedanken teilnimmt, sondern in den Bereich des freien Standes
der Technik gehört, weil sie nicht über die Bereicherung der Technik
hinausgeht, die bei Anwendung durchschnittlichen Fachkönnens möglich ist.

Sachverhalt

    A.- Heinz S. ist Inhaber eines Schweizer Patentes, das am 14.  Juli
1966 unter Beanspruchung der Priorität eines deutschen Patentes vom 22.
Juli 1965 angemeldet und am 15. Juli 1968 erteilt worden ist. Das Patent
betrifft ein Verfahren und eine Vorrichtung zur fortlaufenden Herstellung
von auf beiden Seiten mit einer dünnen, biegsamen Folie kaschierten
Platten aus Polyurethan-Hartschaum.

    Die V. AG stellt kaschierte Platten aus Polyurethan-Hartschaum her,
die sie über die B. AG vertreibt.

    Im Juni 1986 klagte S. beim Handelsgericht des Kantons Zürich gegen die
V. AG und die B. AG auf Feststellung von Patentverletzungen, Herstellungs-
und Benützungsverboten sowie Schadenersatz oder Herausgabe des Gewinnes.

    Das Handelsgericht wies die Klage am 2. März 1989 ab. Der Kläger hat
gegen dieses Urteil Berufung eingelegt, die vom Bundesgericht abgewiesen
wird.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Eine Patentverletzung begeht, wer die patentierte Erfindung
widerrechtlich benützt, wobei als Benützung auch die Nachahmung gilt
(Art. 66 lit. a PatG). Eine Nachahmung liegt vor, falls in dem mit der
Erfindung zu vergleichenden Verfahren oder Erzeugnis zwar nicht alle
Merkmale verwirklicht sind, welche die Erfindung nach Wortlaut oder
Sinn des Patentanspruchs kennzeichnen, es aber bloss in untergeordneten
Punkten von ihrer technischen Lehre abweicht (BGE 98 II 331 E. 3c mit
Hinweisen). Untergeordnet ist die Abweichung dann, wenn sie nicht auf
einem neuen erfinderischen Gedanken beruht, sondern dem durchschnittlich
gut ausgebildeten Fachmann durch die in der Patentbeschreibung dargelegte
Lehre nahegelegt wird (BGE 97 II 88; BALASS, Nachmachung, Nachahmung,
Abhängige Erfindung, in: Kernprobleme des Patentrechts, S. 295 ff., 303).

    Der Zweck des Nachahmungsverbots besteht darin, dem Erfinder Schutz
zu gewähren, soweit er die Technik bereichert hat, und zu vermeiden,
dass Dritte seine Lösung in abgeänderter Form nachbilden (MATTER,
Aktuelle Fragen aus dem Gebiet des Patent- und des Patentprozessrechtes,
ZSR 63/1944, S. 78a f.). Daraus folgt der Grundsatz, dass sich der
Schutzbereich des Patentes auf die tatsächlich erfolgte Bereicherung
der Technik beschränkt und all das nicht erfasst, was im Zeitpunkt der
Anmeldung oder Priorität zum Stand der Technik gehörte (BGE 98 II 331
E. 3c; BLUM/PEDRAZZINI, Das schweizerische Patentrecht, Bd. III, 2. Aufl.,
N. 8d zu Art. 51 und N. 9 zu Art. 66 PatG).

    b) Zum Stand der Technik gehört auch deren naheliegende
Bereicherung. Ein Erzeugnis oder Verfahren stellt daher keine
patentfähige Erfindung dar, falls die damit erzielte Bereicherung der
Technik jedem durchschnittlich gut ausgebildeten Fachmann möglich wäre
(Art. 1 Abs. 2 PatG, Art. 1 Abs. 1 aPatG). Der qualitative Abstand zum
vorbekannten Stand der Technik ist jedoch nicht nur für den Begriff der
Patentfähigkeit, sondern auch für denjenigen der Patentverletzung von
Bedeutung (BGE vom 3. Juli 1984 E. 4, publ. in GRUR Int. 1986 S. 213
ff.). Eine Nachahmung liegt deshalb nur dann vor, wenn die beanstandete
Ausführungsform am patentierten Erfindungsgedanken teilnimmt und ihrerseits
den Erfindungsbegriff erfüllt. Geht diese Form dagegen nicht über die
Bereicherung hinaus, die bei Anwendung durchschnittlichen Fachkönnens
möglich ist, gehört sie in den Bereich des freien Standes der Technik
(BALASS, aaO, S. 306). Die der Nachahmung beschuldigte Partei kann daher
nicht nur einwenden, die von ihr gebrauchte Ausführungsform sei durch
den Stand der Technik bedingt, sondern auch, sie stelle mit Rücksicht
auf diesen keine Erfindung dar (vgl. für das deutsche Recht BGHZ 98 S. 12
ff., 22).

    c) Zunächst muss somit durch Auslegung ermittelt werden, ob sich
aus der unstreitig massgeblichen Vorveröffentlichung von B. das als
Nachahmung angegriffene Verfahren ergibt. Zu prüfen ist dabei, was ein
Fachmann mit durchschnittlichem Wissensstand der Veröffentlichung zu
entnehmen vermochte, und darauf abzustellen, ob der Stand der Technik
geeignet war, die zu beurteilende Ausführungsform ihrem Inhalt nach
als technische Lehre kundzutun (BLUM/PEDRAZZINI, aaO, Bd. I, N. 6
und N. 24 zu Art. 7 PatG). Folgerichtig stehen - gleich wie bei der
Auslegung des Patentanspruchs - nicht vor allem sprachliche, sondern
technische Elemente und Gesichtspunkte im Vordergrund (TROLLER, Begriff
der patentfähigen Erfindung und Auslegung des Patentanspruchs, in:
Gedenkschrift für Schönherr, S. 73 ff., 77). Die Auslegung hat aber nach
objektiven Kriterien, nach dem Vertrauensgrundsatz zu erfolgen (BGE 107
II 369 E. 2). Massgebend sind sodann allein die Verhältnisse im Anmelde-
oder Prioritätszeitpunkt; die Vorveröffentlichung darf deshalb nicht
rückblickend nach einem Vergleich mit der patentierten Erfindung oder
dem als patentverletzend behaupteten Verfahren ausgelegt werden.

    Ergibt die Auslegung keine technische Übereinstimmung, so muss
untersucht werden, ob die angegriffene Lösung der vorveröffentlichten
nahelag. Diese Frage darf nicht mit jener der Neuheit vermengt oder
verwechselt werden. Das Erfordernis der Neuheit stellt auf das Wissen
des Durchschnittsfachmannes, das Kriterium der erfinderischen Tätigkeit,
unter welches der Begriff des Naheliegens fällt, dagegen auf dessen
Fähigkeiten ab. Zur Frage der Neuheit gehört lediglich, ob der Fachmann
sämtliche Merkmale einer technischen Lösung schon einer Vorveröffentlichung
oder sonstwie dem Stand der Technik entnehmen konnte, nicht auch, ob
er in der Lage war, sie mit seinen Fähigkeiten nach der vorbekannten
Technik selbst zu entwickeln. Das ist eine Frage der schöpferischen
Tätigkeit, der Erfindungsqualität. Fehlt sie, lag die Lösung somit dem
Stand der Technik nahe, so stellt diese für sich allein keine Erfindung
und bei entsprechender Teilübernahme der patentierten Lösung auch keine
Patentverletzung dar. Da im übrigen Naheliegen gleich wie Offenkundigkeit
Rechtsbegriffe sind, kann das Bundesgericht grundsätzlich frei überprüfen,
ob ein von der Vorinstanz festgestellter Sachverhalt darunter fällt
(BGE 68 II 396). Allerdings misst es praxisgemäss in technischen und
anderen Spezialgebieten den Anschauungen der beigezogenen Fachleute,
auch der kantonalen Fachrichter, zu solchen Fragen grosse Bedeutung bei
(BGE 100 II 149).