Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 464



115 II 464

83. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 19. Dezember 1989
i.S. X. Treuhand AG gegen Y. (Berufung) Regeste

    Art. 404 Abs. 1 OR.

    Das jederzeitige Widerrufsrecht im Auftragsverhältnis ist zwingender
Natur und darf vertraglich weder wegbedungen noch beschränkt werden;
Bestätigung der Rechtsprechung (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Die X. Treuhand AG und Y. schlossen am 20. August 1984 einen
"Beratungsvertrag" ab, worin Y. sich im wesentlichen zur Erstellung von
Jahresrechnungen, zu Betriebsanalysen und zur Entwicklung und Einführung
neuer Betriebsmodelle verpflichtete. Am 9. November 1984 kündigte die
X. Treuhand AG den Vertrag fristlos. Dem widersetzte sich Y., indem er
sich auf den Standpunkt stellte, eine Kündigung sei nach dem Vertrag
frühestens auf Ende März 1985 möglich. Seine Tätigkeit wurde nach der
Kündigungserklärung nicht mehr beansprucht.

    B.- Eine Klage des Y. auf Bezahlung von Fr. 39'808.-- nebst Zins
wurde vom Amtsgericht Luzern-Land mit Urteil vom 14. Juli 1987 abgewiesen,
auf Appellation des Klägers aber am 19. Dezember 1985 von der I. Kammer
des Obergerichts des Kantons Luzern im Umfang von Fr. 34'681.60 nebst
Zins gutgeheissen.

    C.- Das Bundesgericht heisst die von der Beklagten eingereichte
Berufung teilweise gut und weist die Streitsache zu neuer Entscheidung
an die Vorinstanz zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Beklagte macht in der Berufung geltend, sie sei nach Art. 107
Abs. 2 OR, d.h. aus Verzugsrecht, vom Beratervertrag zurückgetreten.
Den Feststellungen des Obergerichts im angefochtenen Urteil ist nicht
zu entnehmen, dass sie entsprechende Vorbringen bereits im kantonalen
Verfahren angebracht hätte. Insbesondere reicht die Feststellung,
die Beklagte habe aus wichtigen Gründen die Kündigung des Vertrages
mit sofortiger Wirkung beansprucht, für die Annahme der Ausübung eines
Gestaltungsrechts nach Art. 107 OR nicht aus. Die Beklagte beruft sich auch
nicht auf ein offensichtliches Versehen der Vorinstanz (Art. 63 Abs. 2
OG) oder darauf, dass im kantonalen Verfahren vorgebrachte Behauptungen
unberücksichtigt geblieben, die vorinstanzlichen Feststellungen mithin
zu ergänzen seien (Art. 64 OG; BGE 111 II 473 E. 1c mit Hinweisen). Das
eine oder das andere aber wäre erforderlich, sollen die Vorbringen
der Beklagten nicht als neu und damit als unzulässig gelten (Art. 55
Abs. 1 lit. c OG). Darüber hilft auch der Grundsatz der Rechtsanwendung
von Amtes wegen nicht hinweg. Dieser entbindet die Parteien nicht
von ihrer Behauptungslast. Unter der Herrschaft der Dispositions-
und der Verhandlungsmaxime ist es vielmehr deren Sache, die geltend
gemachten Ansprüche zu benennen sowie den Sachverhalt darzulegen und zu
beweisen; dem Richter obliegt einzig, die zutreffenden Rechtssätze auf
den behaupteten und festgestellten Sachverhalt zur Anwendung zu bringen
(GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 156).
Ein Rechtssatz kann daher nicht von Amtes wegen angewendet werden, wenn
sein Tatbestand nicht einmal behauptet, geschweige denn bewiesen ist
(aaO, Anm. 9). Der Grundsatz der Rechtsanwendung von Amtes wegen schützt
nicht vor dem Verlust eines materiellen Anspruchs durch unsorgfältige
Prozessführung.

    Auf die verzugsrechtlichen Einwände der Beklagten ist daher nicht
einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Die Parteien haben im Beratervertrag ein gegenseitiges
Kündigungsrecht auf Quartalsende mit einer Kündigungsfrist von drei
Monaten vereinbart (Ziff. 2 Abs. 1). Darüber hinaus stand der Beklagten
gemäss Vertrag eine fristlose Auflösungsbefugnis für den Fall zu, dass
der Kläger gewisse Arbeiten aus von ihm selbst zu verantwortenden Gründen
nicht termingerecht ausführen sollte (Ziff. 2 Abs. 2).

    Das Obergericht hat die Rechtsnatur des von den Parteien geschlossenen
Vertrages unter verschiedenen Qualifikationsgesichtspunkten geprüft und ist
zum Ergebnis gelangt, er sei entweder den Bestimmungen über den einfachen
Auftrag oder denjenigen über den Arbeitsvertrag zu unterstellen. Von
dieser Alternative gehen übereinstimmend auch die Parteien aus. Im Hinblick
auf Art. 55 Abs. 1 lit. b OG kann sich daher auch die bundesgerichtliche
Rechtskontrolle auf diese beiden Vertragstypen beschränken.

    Die Frage, ob ein Auftrag oder ein Arbeitsvertrag vorliegt, hat
das Obergericht offengelassen, da es die von den Parteien getroffenen
Kündigungsmodalitäten als mit beiden Typen vereinbar erachtet hat. Die
Beklagte erblickt darin eine Verletzung von Art. 404 Abs. 1 OR.

    a) Art. 404 Abs. 1 OR bestimmt, dass der Auftrag von jedem Teil
jederzeit widerrufen oder gekündigt werden kann. Die Rechtfertigung
dieser Regel ist darin zu erblicken, dass der Beauftragte regelmässig
eine ausgesprochene Vertrauensstellung einnimmt, es aber keinen Sinn hat,
den Vertrag noch aufrechterhalten zu wollen, wenn das Vertrauensverhältnis
zwischen den Parteien zerstört ist (BGE 104 II 115 f. E. 4).

    Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist das jederzeitige
Auflösungsrecht zwingend und beschlägt sowohl reine Auftragsverhältnisse
als auch gemischte Verträge, für welche hinsichtlich der zeitlichen
Bindung der Parteien die Bestimmungen des Auftragsrechtes als sachgerecht
erscheinen (BGE 110 II 382 E. 2; 106 II 159 E. b; 104 II 115 f. E. 4 mit
Hinweisen). In BGE 109 II 467 E. 3e hat das Bundesgericht allerdings die
Frage offengelassen, ob der zwingende Charakter von Art. 404 Abs. 1 OR
sämtliche Auftragsverhältnisse schlechthin erfasse oder auf typische,
namentlich unentgeltliche oder höchstpersönliche Aufträge zu beschränken
sei, mit der Folge, dass atypische Aufträge einer anderen, insbesondere
einer parteiautonomen Beendigungsordnung zugänglich seien. Dies entspricht
zwar einer weitverbreiteten Auffassung in der Literatur (vgl. z.B. JÄGGI,
SJZ 69/1973, S. 304 f.; BUCHER, ZSR 102/1983 II, S. 322 ff.; GAUCH,
Baurecht 1984, S. 51; derselbe, Der Werkvertrag, 3. Aufl. 1985, Nr. 58),
wird von anderen Autoren aber weiterhin und - wie im folgenden zu zeigen
ist - mit Recht abgelehnt (GAUTSCHI, N. 10 zu Art. 404 OR; HOFSTETTER, SPR
VII/2, S. 52 ff.; MERZ, ZBJV 121/1985, S. 216; derselbe, Die Qualifikation
des Architektenvertrages, in Innominatverträge, Festschrift Schluep,
S. 213).

    aa) Art. 404 OR ist in die Gesamtordnung des Auftragsrechtes
integriert; diese aber regelt sowohl entgeltliche wie unentgeltliche
(Art. 394 Abs. 3 OR), höchstpersönliche wie andere (Art. 399 OR)
Auftragsverhältnisse und unterstellt sie alle einem einheitlichen
Beendigungssystem (Art. 404 ff. OR). Der klare Wortlaut des Gesetzes
lässt eine Differenzierung nicht zu (MERZ, Festschrift Schluep, aaO).

    bb) Eine Unterscheidung nach der Vergütungspflicht liefe zudem einer
gefestigten Praxis zuwider. Das Bundesgericht hat den zwingenden Charakter
von Art. 404 Abs. 1 OR stets ohne Rücksicht darauf bejaht, dass die zu
beurteilenden Streitsachen entgeltliche Auftragsverhältnisse betrafen (vgl.
z.B. BGE 110 II 380 ff.; 106 II 157 ff.; 98 II 305 ff.). Eine Abwendung
von dieser konstanten Praxis wäre mit dem Gebot der Rechtssicherheit
nicht zu vereinbaren.

    cc) Der Begriff der Höchstpersönlichkeit ist kein taugliches
Abgrenzungskriterium. Einerseits ist er nicht Ausdruck eines besonderen
Vertrauensverhältnisses, indem ein solches durchaus auch bei befugter
Auftragserfüllung durch Hilfspersonen oder Substituten gegeben sein
kann, anderseits erlaubt er keine Abgrenzung nach systematisch
klaren Grundsätzen, sondern ist ausgesprochen am Einzelfall
orientiert. Ob beispielsweise bei Inanspruchnahme eines Arzt- oder
eines Anwaltskollektivs, einer industriell organisierten und auf eine
weitgehend anonyme Vielzahl von Fachkräften abgestützten Architekten-
oder Ingenieurunternehmung ein höchstpersönliches Auftrags- und
Vertrauensverhältnis begründet wird, lässt sich kaum nach einheitlichen
Gesichtspunkten beurteilen und bietet Auslegungsschwierigkeiten, die sich
mit der bisherigen, dem klaren Gesetzeswortlaut folgenden Rechtsprechung
vermeiden lassen.

    dd) Von der Frage der Abgrenzung zwischen typischen und atypischen
Auftragsverhältnissen ist diejenige nach der Begrenzung der Reichweite
des Auftragsrechtes als solchem zu unterscheiden. Dabei geht es nicht
um die dispositive oder zwingende Natur einzelner auftragsrechtlicher
Bestimmungen, insbesondere von Art. 404 Abs. 1 OR, sondern um die
Anwendbarkeit des Auftragsrechts überhaupt. Geprüft wird, auf welche
Dienstleistungsverträge das Auftragsrecht Anwendung findet und inwieweit
gemischte Verträge mit auftragsrechtlichem Einschlag nach den von Lehre
und Rechtsprechung entwickelten Kriterien (vgl. SCHLUEP, SPR VII/2,
S. 800 ff.) dem Auftragsrecht zu unterstellen sind (vgl. BGE 115 II 111
E. c). Gelangt jedoch Auftragsrecht auf die Beendigung eines Vertrages zur
Anwendung, besteht keine Veranlassung, von der bisherigen Rechtsprechung
abzuweichen und den zwingenden Charakter von Art. 404 Abs. 1 OR in
Zweifel zu ziehen. Es bleibt somit dabei, dass das freie Widerrufsrecht
im Auftragsverhältnis vertraglich weder wegbedungen noch beschränkt werden
darf (BGE 104 II 116; 98 II 307 mit Hinweisen).

    b) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz wäre deshalb eine Berufung
des Klägers auf die vertraglich vereinbarten Kündigungsmodalitäten
ausgeschlossen, wenn es sich bei dem mit der Beklagten geschlossenen
Beratervertrag um ein Auftrags- oder um ein gemischtes Vertragsverhältnis
handelte, das in bezug auf seine Beendigung dem Auftragsrecht untersteht.

    c) Welchen gesetzlichen Bestimmungen ein Vertrag zu unterstellen ist,
ergibt sich aus seinem Inhalt. Dieser ist durch Auslegung zu ermitteln,
wobei in erster Linie auf den übereinstimmenden tatsächlichen Willen
der Parteien abzustellen ist (Art. 18 Abs. 1 OR). Da die Vorinstanz
die vertraglichen Kündigungsmodalitäten sowohl nach den Bestimmungen
über den Arbeitsvertrag als auch nach denjenigen über den einfachen
Auftrag als zulässig erachtete, konnte sie darauf verzichten, die
tatbeständlichen Grundlagen der Zuordnung zum einen oder zum andern dieser
Vertragstypen näher zu klären; ebensowenig brauchte sie zu prüfen, ob
das auftragsrechtliche Widerrufsrecht allenfalls rechtsmissbräuchlich
ausgeübt worden war. Ist aber nach dem Gesagten die Rechtsauffassung
der Vorinstanz mit dem zwingenden Charakter des Art. 404 Abs. 1 OR
nicht zu vereinbaren, bedarf der Sachverhalt entsprechender Ergänzung.
Diese kann vom Bundesgericht nicht selbst vorgenommen werden. In teilweiser
Gutheissung der Berufung ist daher der angefochtene Entscheid aufzuheben
und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 64
Abs. 1 OG).