Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 460



115 II 460

82. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 20. Dezember 1989
i.S. W. und E. S. gegen K. AG (Berufung) Regeste

    Werkvertrag; angemessene Herabsetzung des Werklohns bei
unverhältnismässiger Kostenüberschreitung (Art. 374 und 375 Abs. 2 OR,
Art. 4 ZGB).

    Im Regelfall gilt eine Kostenüberschreitung um 10% nicht als
unverhältnismässig und ist der Werkpreis bloss um die Hälfte der Summe,
welche diese Toleranzgrenze übersteigt, herabzusetzen. Umstände, welche
ein Abweichen von dieser Regel rechtfertigen. Überprüfungsbefugnis des
Bundesgerichts.

Sachverhalt

    A.- Gestützt auf einen Vertrag vom 21. Mai 1982 erstellte die K. AG
für die Ehegatten S. ein Einfamilienhaus. Am 21. Oktober 1983 legte sie
die Bauabrechnung über Gesamtkosten von Fr. 764'933.70 vor. Die Eheleute
S., welche während der Bauausführung Akontozahlungen von insgesamt
Fr. 654'197.65 geleistet hatten, weigerten sich, die Restforderung von
Fr. 110'736.05 zu bezahlen; sie beriefen sich auf eine von ihnen nicht
zu vertretende Kostenüberschreitung.

    B.- Am 26. April 1984 belangte die K. AG die Ehegatten S. solidarisch
auf Fr. 110'736.05 nebst Zins. Das Kantonsgericht Obwalden schützte
die Klage am 18. Mai 1988 im Betrage von Fr. 86'366.10 nebst Zins. Mit
Urteil vom 21. Juni 1989 wies das Obergericht des Kantons Obwalden eine
Appellation der Ehegatten S. ab, hiess dagegen eine Anschlussappellation
der K. AG teilweise gut, hob das Urteil des Kantonsgerichts auf und
schützte die Klage im Umfange von Fr. 97'488.35 nebst Zins.

    C.- Die Beklagten haben beim Bundesgericht Berufung eingelegt. Das
Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit es darauf eintritt, und
bestätigt das angefochtene Urteil.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Wird ein ungefährer Kostenansatz, der subjektive Geschäftsgrundlage
bildet, unverhältnismässig überschritten, so hat der Besteller bei
Bauten, die auf seinem Grund errichtet werden, Anspruch auf angemessene
Herabsetzung des nach Art. 374 OR bestimmten Werklohnes (Art. 375 Abs. 2
OR). Die Regelung beruht auf dem Gedanken des Grundlagenirrtums (BGE 109
II 336 mit Hinweisen).

    a) Das Kantonsgericht ermittelt im Vergleich zur äquivalenten
Abrechnungssumme von Fr. 639'933.70 eine Kostenüberschreitung von rund 19%.
Davon erachtet es 10% als Toleranzgrenze, welche zu Lasten der Besteller
geht, und auferlegt das Risiko für die restlichen 9% je zur Hälfte den
Parteien.

    Das Obergericht kürzt die approximativ ermittelten Anlagekosten von Fr.
659'306.05 um den Landpreis von Fr. 125'000.-- sowie die im Zeitpunkt der
Schätzung bereits aufgelaufenen Kosten von Fr. 72'406.05 und geht somit
von einem ungefähren Kostenansatz von Fr. 461'900.-- aus. Diesen erhöht
es um den vom Kantonsgericht ermittelten Saldo der Mehr- und Minderkosten
von Fr. 3'142.80 auf Fr. 465'042.80. Im Vergleich zur entsprechenden
Abrechnungssumme von Fr. 567'527.-- stellt es eine Überschreitung von
rund 22% fest, welche es mit einer Toleranzgrenze von 20% den Bestellern
und darüber hinaus der Unternehmerin zuordnet.

    Die Beklagten erachten die Annahme einer Toleranzgrenze von 20%
als Verletzung von Bundesrecht. Im konkreten Fall sei diese Grenze bei
höchstens 10% anzusetzen.

    b) Durch die Ausübung des Gestaltungsrechts des Bestellers nach
Art. 375 Abs. 2 OR kann der geschuldete Werkpreis angemessen herabgesetzt
werden. Welcher Herabsetzungsbetrag angemessen ist, hat der Richter nach
seinem Ermessen (Art. 4 ZGB) zu entscheiden (GAUCH, Der Werkvertrag,
3. Auflage, S. 193 Rz. 673; derselbe, Die Vergütung von Bauleistungen,
Baurechtstagung Freiburg 1987, S. 1 ff., 16 f.; TERCIER, La partie spéciale
du Code des obligations, S. 351 Rz. 2703 und 2707). Das Bundesgericht
ist in der Überprüfung der Anwendung von Art. 375 Abs. 2 OR frei, es
übt dabei aber Zurückhaltung. Es schreitet unter anderem nur ein, wenn
Umstände ausser Betracht geblieben sind, die zwingend hätten beachtet
werden müssen. Es greift ausserdem in Ermessensentscheide ein, wenn sich
diese als offensichtlich unbillig erweisen (BGE 109 II 391 mit Hinweisen).

    Lehre und Rechtsprechung nehmen bei der Anwendung von Art. 375 Abs. 2
OR als Faustregel eine Toleranzgrenze von 10% an, in welchem Umfange die
Überschreitung eines ungefähren Kostenansatzes noch nicht als übermässig
erscheine (Nachweise bei GAUCH, Werkvertrag, S. 195 Rz. 678; TERCIER, aaO,
S. 351 Rz. 2703). Ferner wird im Normalfall der Werkpreis gemäss Art. 374
OR um die Hälfte der Summe, welche diese Toleranzgrenze übersteigt,
herabgesetzt (GAUCH, Werkvertrag, S. 193 f. Rz. 673; TERCIER, aaO,
S. 351 Rz. 2707). Ein mathematisch starrer Schematismus ist allerdings
abzulehnen, andernfalls dem Gebot von Art. 4 ZGB, nach Recht und Billigkeit
zu entscheiden, nicht mehr entsprochen würde. Massgebend bleiben somit
stets die Umstände des Einzelfalls. Von den genannten Richtlinien ist
daher insbesondere abzuweichen, wenn die Gesamtumstände eine andere
Würdigung nahelegen (GAUCH, Werkvertrag, S. 195 Rz. 678; TERCIER, aaO,
S. 351 Rz. 2703, je mit Hinweisen).

    c) Als besondere Umstände berücksichtigt das Obergericht, dass der
ungefähre Kostenansatz nicht aufgrund einer detaillierten Kostenberechnung,
sondern bloss aufgrund einer approximativen, im wesentlichen kubischen
Berechnung ermittelt wurde und der Erstbeklagte als Elektrounternehmer um
die erhöhte Ungenauigkeit einer solchen Schätzung wissen musste. Gestützt
darauf nimmt das Obergericht eine Toleranzgrenze von 20% an; die darüber
hinausgehende Kostenüberschreitung lastet es dagegen vollumfänglich der
Klägerin an und verzichtet auf eine Risikoteilung in diesem Bereich. Diese
Ermessensausübung ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden. Es ist in den
Fachkreisen allgemein bekannt, dass die Kosten umso genauer erfasst werden
können, je weiter die Projektierungs- und Bauarbeiten fortgeschritten sind
und je mehr konkrete Angaben aufgrund der Offerten und Arbeitsvergebungen
vorliegen. Demgegenüber lässt die kubische Berechnung anhand eines
Volumen-Einheitspreises lediglich eine grobe Schätzung nach allgemeinen
Erfahrungswerten zu. Die geltende SIA-Ordnung 102 misst denn solchen
Berechnungen lediglich einen Genauigkeitsgrad von 20-25% bei (Ziff. 4.1.4
und 4.2.2; SCHUMACHER, Die Haftung des Architekten aus Vertrag, in: Das
Architektenrecht, S. 105 ff., 178 Rz. 617 ff.). Diese Überlegungen sind
auch bei einem Totalunternehmervertrag zu beachten, zumal die Parteien
nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz die SIA-Ordnung 102
als Vertragsbestandteil erklärt haben. Weiter ist zu berücksichtigen,
dass der Erstbeklagte fachkundig ist, die Parteien auf einen detaillierten
Kostenvoranschlag vor Baubeginn verzichtet und zudem ausschliesslich die
Bestimmung des Werkpreises aufgrund einer offenen Abrechnung vereinbart
haben. Beurteilt sich letztlich aber aufgrund der Geschäftsgrundlage und
des Grundlagenirrtums, ob und inwieweit der Besteller mit Überschreitungen
rechnen muss, ist den Beklagten entgegenzuhalten, dass sie jedenfalls nicht
von einem erhöhten Genauigkeitsgrad des approximativen Kostenansatzes
ausgehen durften. Aus den Feststellungen der Vorinstanz sowie aus
ihren Vorbringen vor Bundesgericht ist auch nicht zu entnehmen, dass
die Beklagten auf die Kostenzusammenstellung vom 18. Oktober 1982, welche
bereits Fr. 776'918.-- auswies, ablehnend reagiert hätten. In Würdigung all
dieser Umstände ist daher eine Toleranzgrenze von 20% durchaus vertretbar
und der angefochtene Entscheid somit bundesrechtskonform. Das Ergebnis
rechtfertigt sich umso mehr, als das Obergericht die Baukosten jenseits
der Toleranzgrenze voll der Klägerin angelastet und auf die sonst übliche
Risikoteilung verzichtet hat.