Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 451



115 II 451

79. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 24. Oktober 1989
i.S. A. AG gegen Firma F. (Berufung) Regeste

    Kaufvertrag; Selbsthilfeverkauf bei Annahmeverzug des Käufers.

    Der Verkäufer ist weder gemäss Art. 93 Abs. 1 OR noch aufgrund
einer Sondervorschrift des Kaufvertragsrechts zur Vornahme eines
Selbsthilfeverkaufs verpflichtet. Eine solche Pflicht kann sich dagegen
aus dem Gebot des Handelns nach Treu und Glauben oder unmittelbar aus dem
Vertragsverhältnis ergeben, setzt aber voraus, dass die Unterlassung des
Selbsthilfeverkaufs einem Rechtsmissbrauch gleichkäme.

Sachverhalt

    A.- Die A. AG mit Sitz im Kanton Thurgau handelt mit Stoffen.
Sie unterhielt seit 1985 Geschäftsbeziehungen zur italienischen Firma F.,
die eine Weberei betreibt.

    Mit Schreiben vom 22. Januar und 3. Februar 1987 teilte die A. AG
der F. mit, sie annulliere alle Aufträge und werde keine Ware mehr
entgegennehmen. Davon betroffen waren Stoffsendungen, für welche die F. mit
Rechnungen vom 21. November und 19. Dezember 1986 sowie vom 13. Januar
1987 die Zahlung von insgesamt DM 173'256.01 verlangt hatte. Vorher hatte
sie der A. AG zwei Auftragsbestätigungen vom 3. Juli und 18. Dezember
1986 zukommen lassen, auf welche diese nicht geantwortet hatte. Eine
Mahnung vom 5. März 1987, die Rechnungen zu begleichen, blieb ohne Erfolg.

    Im Juni 1987 reichte die F. beim Bezirksgericht Münchwilen Klage
ein. Mit Urteil vom 14. Januar 1988 verpflichtete das Bezirksgericht
die A. AG zur Zahlung von Fr. 143'802.-- nebst Zins. Auf Appellation der
Beklagten wurde dieses Urteil am 8. September 1988 vom Obergericht des
Kantons Thurgau bestätigt.

    Das Bundesgericht weist die von der Beklagten gegen das Urteil des
Obergerichts erhobene Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Unbegründet ist schliesslich auch der Vorwurf, die Klägerin habe
ihre Pflicht zur Schadenminderung verletzt, weil sie nicht nach Art. 93
Abs. 1 OR vorgegangen sei und die Stoffe nicht sofort habe öffentlich
verkaufen lassen. Aus dieser Bestimmung ergibt sich lediglich das Recht,
nicht aber die Pflicht des Sachleistungsschuldners zur Vornahme eines
Selbsthilfeverkaufes. Eine solche Pflicht lässt sich auch nicht aus
einer Sondervorschrift des Kaufvertragsrechts ableiten. In der Lehre ist
allerdings anerkannt, dass der Schuldner ausnahmsweise gehalten ist, die
Sache verkaufen zu lassen. Diese Pflicht gründet nach der einen Auffassung
auf dem Gebot des Handelns nach Treu und Glauben (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 3
zu Art. 93 OR; BUCHER, OR Allg. Teil, 2. Aufl., S. 322 Fn. 16 uns S. 323);
nach der anderen ergibt sie sich unmittelbar aus dem Vertragsverhältnis
(VON TUHR/ESCHER, Allg. Teil OR, Bd. II, S. 82 Fn. 57; ENGEL, Traité des
obligations en droit suisse, S. 449). Wie WEBER (N. 8 zu Art. 93 OR)
jedoch zutreffend hervorhebt, bejahen alle Autoren eine Verpflichtung zum
Verkauf nur dann, wenn vorauszusehen ist, dass andernfalls eine erhebliche
Schädigung des Gläubigers eintreten würde, d.h. die Unterlassung des
Schuldners einem Rechtsmissbrauch gleichkäme. Dafür fehlen im vorliegenden
Fall aber jegliche Anhaltspunkte. Dass die Stoffe angeblich modebedingten
Nachfrageschwankungen unterliegen, reicht jedenfalls unter Berücksichtigung
des klar vertragswidrigen Verhaltens der Beklagten für sich allein
nicht aus, den Verzicht der Klägerin auf einen Selbsthilfeverkauf als
rechtsmissbräuchlich erscheinen zu lassen.