Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 317



115 II 317

58. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 4. Juli 1989 i.S. X.
gegen X. (Berufung) Regeste

    Art. 156 Abs. 1 und 274 Abs. 1 ZGB; Zuteilung der Kinder bei Scheidung
der Eltern.

    Auch wenn die Mutter durch ihren Wegzug mit den Kindern absichtlich
eine grosse räumliche Distanz zum Vater geschaffen hat und damit die
Beziehung zwischen ihm und den Kindern behindert, rechtfertigt es sich
nicht, die Kinder zwischen den Eltern aufzuteilen. Kinder geschiedener
Eltern sollen vielmehr nach Möglichkeit nicht getrennt werden.

Sachverhalt

    A.- M. X. und U. Y. heirateten im Oktober 1974. Ihrer Ehe entsprossen
drei Kinder, nämlich André, geboren 1976, Monika, geboren 1978, und
Sandra, geboren 1979. Der Ehemann ist als Mittelschullehrer tätig,
während die Ehefrau, die ebenfalls ausgebildete Lehrerin ist, heute
keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgeht. Die Ehefrau verliess Mitte 1984
mit den drei Kindern den Ehemann, blieb aber zunächst in der Schweiz. Im
April 1987 übersiedelte sie jedoch mit den Kindern nach Norddeutschland,
wo alle vier heute noch wohnen.

    B.- In Gutheissung der Klage der Ehefrau und der Widerklage des
Ehemannes schied das Bezirksgericht mit Urteil vom 25. November 1987 die
Ehe der Parteien. Es teilte den Knaben André dem Vater und die beiden
Mädchen der Mutter zu und wies die zuständigen Vormundschaftsbehörden
in der Schweiz und in Deutschland an, geeignete Massnahmen im Sinne
von Art. 307 Abs. 1 ZGB zu treffen, insbesondere die Besuchs- und
Ferienregelung zwischen Eltern und Kindern zu überwachen.

    Die Klägerin reichte gegen dieses Urteil beim Obergericht
Appellation ein, mit welcher sie die Unterstellung des Sohnes André
unter ihre elterliche Gewalt und die Verpflichtung des Beklagten zu
Unterhaltsleistungen auch für dieses Kind verlangte. Der Beklagte,
der zunächst lediglich die Abweisung der klägerischen Begehren
beantragt hatte, erhob ungefähr acht Monate nach Eingang der
Appellation Anschlussappellation mit dem Begehren um Zuteilung aller
Kinder an ihn. Eventualiter verlangte er, dass der Kindsmutter das
Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen werde und an ihrer Stelle das
zuständige Jugendamt in der BRD als Aufenthaltsbestimmungspfleger
einzusetzen sei.

    Mit Urteil vom 12. Januar 1989 hiess das Obergericht die Appellation
gut und trat auf die Anschlussappellation wegen Verspätung nicht ein. Es
änderte das erstinstanzliche Urteil insofern ab, als es alle drei Kinder
unter die elterliche Gewalt der Klägerin stellte und die zuständige
deutsche Kreisjugendbehörde mit der Überwachung der Ferienregelung
betraute, wobei es dem Beklagten ein Ferienrecht von sieben Wochen
pro Jahr einräumte. Im weitern hat es in Abänderung der Vereinbarung
der Parteien den Beklagten verpflichtet, an den Unterhalt der Kinder
monatliche indexierte Beiträge von je Fr. 450.--/Fr. 500.--/Fr. 550.--,
abgestuft nach dem Alter der Kinder, zu leisten.

    C.- Der Beklagte legt beim Bundesgericht Berufung ein mit den Anträgen,
das Urteil des Obergerichts sei hinsichtlich der Zuteilung des Kindes
André aufzuheben und dieses Kind sei unter seine elterliche Gewalt zu
stellen; ferner sei die obergerichtliche Änderung der Vereinbarung der
Parteien über die Nebenfolgen der Scheidung aufzuheben und die durch das
Bezirksgericht genehmigte Vereinbarung zu bestätigen.

    Die Klägerin beantragt die Bestätigung des obergerichtlichen Urteils.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Scheidungsrichter hat gemäss Art. 156 ZGB über die Gestaltung
der Elternrechte und der persönlichen Beziehungen der Eltern zu den
Kindern die nötigen Verfügungen zu treffen. Nach ständiger Rechtsprechung
hat bei der Entscheidung, welchem Elternteil die Erziehung und Sorge für
die Kinder übertragen werden soll, stets das Wohl der Kinder Vorrang vor
allen andern Überlegungen, insbesondere vor den Wünschen der Eltern (BGE
112 II 382; 114 II 201 E. 3; BÜHLER/SPÜHLER, N 64 f. zu Art. 156 ZGB). Ist
die Erziehungsfähigkeit beider Eltern zu bejahen, entspricht es in aller
Regel dem Kindeswohl kleinerer Kinder am besten, wenn sie demjenigen
Elternteil zugeteilt werden, welcher in der Lage ist, die Kinder - vor
allem Kleinkinder und im obligatorischen Schulalter stehende Kinder -
weitgehend persönlich zu betreuen (BGE 112 II 382 E. 3 und 111 II 227
E. 2). Ferner ist zu beachten, dass Geschwister nach Möglichkeit nicht
getrennt werden sollen, gilt es doch, die Vorteile der Koedukation in einer
Familiengemeinschaft und das infolge der Scheidung der Eltern besonders
schutzwürdige Zusammengehörigkeitsgefühl der Kinder nicht ohne zwingende
Gründe zu gefährden (HINDERLING, Das Schweizerische Ehescheidungsrecht,
Zusatzband, S. 97; BÜHLER/SPÜHLER, N 101 zu Art. 156 ZGB). In allen
Fällen ist unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände diejenige Lösung
zu treffen, welche die für eine harmonische Entfaltung der Kinder in
körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht notwendige Stabilität
der Verhältnisse gewährleistet (BGE 111 II 227 mit Hinweisen; 114 II 201
E. 3). Das Bundesgericht belässt nach ständiger Praxis dem kantonalen
Sachrichter bei der Beurteilung dieser schwierigen Fragen einen grossen
Ermessensspielraum, in welchen es nur eingreift, wenn die Vorinstanz
bei ihrer Entscheidung Umstände berücksichtigt hat, die nach dem Sinn
des Gesetzes keine Rolle spielen dürfen, oder wenn sie wesentliche
Gesichtspunkte ausser acht gelassen hat (BÜHLER/SPÜHLER, N 62 zu Art. 156
ZGB; BGE 112 II 382; 111 II 227 und zahlreiche frühere Entscheide).

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall hat die Klägerin mit ihrem Wegzug im Jahre
1987 nach Norddeutschland eine grosse örtliche Distanz der Kinder zu
ihrem Vater geschaffen und - offenbar grundlos - auch sonst versucht,
die Beziehung zwischen ihren Kindern und deren Vater zu behindern, wenn
nicht gar zu verunmöglichen. Sie hat damit gegen Art. 274 Abs. 1 ZGB
verstossen, wonach Mutter und Vater alles zu unterlassen haben, was das
Verhältnis des Kindes zum andern Elternteil beeinträchtigt. Es ist daher
nicht zu beanstanden, wenn der Beklagte aus diesem Grunde Zweifel an der
erzieherischen Fähigkeit seiner geschiedenen Ehefrau äussert.

    In der neueren Literatur wird bei der Frage der Zuteilung der Kinder -
neben den anderen wesentlichen Grundsätzen - mit Recht besonderes Gewicht
auf das Beziehungsgeflecht auch in der Nachscheidungsfamilie gelegt und
auf die überragende Bedeutung hingewiesen, welcher der Aufrechterhaltung
der Beziehungen der Kinder zu beiden Elternteilen auch nach der Scheidung
zukommt (BÜHLER/SPÜHLER, N 93 zu Art. 156 ZGB mit Hinweis auf BGE 53 II
194; WILHELM FELDER, Kinderpsychiatrische Aspekte der Kindszuteilung,
SJZ 85/1989, S. 185 ff., insbes. S. 188; INGEBORG SCHWENZER, Vom Status
zur Realbeziehung, Familienrecht im Wandel, Freiburg i. Br. 1987,
S. 111). Dementsprechend hat das Bundesgericht in BGE 115 II 206 ff. der
Zuteilung eines ebenfalls im Jahre 1976 geborenen Kindes an die Mutter
zugestimmt, obwohl dieses seit der elterlichen Trennung beim Vater gelebt
und zu diesem ausserordentlich starke Bindungen entwickelt hatte. Doch
war der Sohn wegen des Verhaltens des Vaters, der die in Art. 273 und 274
Abs. 1 ZGB ausdrücklich festgehaltenen elterlichen Pflichten in flagranter
Weise verletzt hatte, in schwerste Loyalitätskonflikte geraten. Die Mutter
wies mehr Einsicht auf als der Vater, welcher den Scheidungsschock nicht
zu verarbeiten vermochte. Da sie die Beziehungen des Sohnes und der
Tochter zu ihrem Vater weniger negativ beeinflusste, als dies umgekehrt
geschah, wurde ihr auch die bessere Erziehungsfähigkeit attestiert. Die
für eine gesunde Entwicklung der Kinder unabdingbare Normalisierung der
persönlichen Beziehungen zum andern Elternteil schien aller Voraussicht
nach am ehesten bei der Zuteilung der Kinder an die Mutter gewährleistet.

    Unter diesem Gesichtspunkt ist der Kampf des Beklagten um seine Kinder,
vor allem aber um seinen Sohn, wohl verständlich. Dennoch unterscheidet
sich der vorliegend zu beurteilende Fall von dem oben dargelegten in
wesentlicher Hinsicht und stehen dem Begehren des Beklagten gewichtige
Gründe entgegen. Es steht fest, dass nicht nur der Sohn André, sondern auch
seine beiden jüngeren Schwestern seit der Trennung der Eltern mit ihrer
Mutter zusammenleben. Eine Zuteilung aller drei Kinder an den Vater kommt
nicht in Frage, einmal aus den von der Vorinstanz angeführten Gründen,
dann aber auch aus prozessualen Gründen, weil der Beklagte diesen Antrag
fallengelassen hat. Zudem würde - wie sich aus den Akten ergibt - die
Wegnahme der jüngsten Tochter von der Mutter für dieses Kind schwere
traumatische Folgen zeitigen. Aber auch eine Trennung der Geschwister
fällt ausser Betracht, nachdem die vom Beklagten zugunsten dieser Lösung
angeführten Gründe eine Abweichung vom Grundsatz, dass Geschwister nach
der Scheidung der Eltern in aller Regel zusammenbleiben sollen, nicht zu
rechtfertigen vermögen. Da sich die drei Kinder in ihrem gegenwärtigen
häuslichen, schulischen und natürlichen Umfeld wohl fühlen, besteht kein
Anlass, André aus diesem Umfeld herauszureissen und erneut in die Schweiz
zu verpflanzen. Dazu kommt, dass der Beklagte nach seiner eigenen Zugabe
mit einer Frau zusammenlebt, die ihrerseits Kinder hat. André wäre somit
gezwungen, seinen Vater mit fremden Kindern zu teilen. Das könnte zu
neuen schweren Problemen für das Kind führen, das mit der Trennung von
seiner Familie und dem Neuanfang wohl eindeutig überfordert wäre. Dass
der Beklagte trotzdem darauf beharrt, wenigstens den Sohn unter seiner
elterlichen Gewalt zu haben, zeugt nicht von grossem Verständnis für die
Bedürfnisse dieses Kindes; ganz abgesehen davon, dass auch nicht viel
Anlass zur Annahme besteht, er werde zu einem ausgedehnten Besuchsrecht
der Klägerin ohne Schwierigkeiten Hand bieten.

    Nach dem Ausgeführten spricht keineswegs nur gerade die "normative
Kraft des Faktischen" für die Lösung des Obergerichts. Es können vielmehr
gute Gründe für die Zuteilung aller drei Kinder an die Klägerin angeführt
werden. Dem Obergericht kann somit keine Verletzung von Art. 156 ZGB zur
Last gelegt werden. Die Berufung erweist sich demnach als unbegründet,
soweit auf sie angesichts der zahlreichen neuen Vorbringen in der
Berufungsschrift überhaupt eingetreten werden kann.