Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 232



115 II 232

39. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 26. September 1989 i.S.
Frau A. gegen B. Immobilien AG (Berufung) Regeste

    Sittenwidriger Vertragsinhalt (Art. 20 Abs. 1 OR); Rechtsmissbrauch
(Art. 2 Abs. 2 ZGB).

    Begriff der Sittenwidrigkeit im Sinne von Art. 20 Abs. 1 OR
(E. 4a). Die Verabredung einer Vergütung für den Rückzug von nicht
aussichtslosen Baurekursen ist nicht sittenwidrig (E. 4b). Eine
Wertdisparität von Leistung und Gegenleistung begründet für sich
allein keine Sittenwidrigkeit (E. 4c). Ein solches Ungleichgewicht der
Vertragsleistungen lässt sich auch nicht über das Rechtsmissbrauchsverbot
(Art. 2 Abs. 2 ZGB) korrigieren (E. 4d).

Sachverhalt

    A.- Im Jahre 1982 erhob Frau A. als Nachbarin baupolizeiliche
Einsprache gegen ein Baugesuch der B. Immobilien AG in Rorschach und auf
erteilte Baubewilligung hin Rekurs. Im selben Zusammenhang rekurrierte
sie gegen eine Erlaubnis zum vorzeitigen Baubeginn und gegen eine weitere,
von ihr als Verfügung gewertete Äusserung des Stadtrats von Rorschach.

    Am 10. Februar 1983 unterzeichneten die Parteien eine Vereinbarung,
mit welcher Frau A. ihre Zustimmung zum umstrittenen Bauvorhaben gab und
sich verpflichtete, die hängigen Rekurse zurückzuziehen; zugleich erklärte
sie sich auch mit einem auf einen späteren Zeitpunkt vorgesehenen weiteren
Projekt einverstanden und verzichtete im voraus auf Einsprache gegen
ein entsprechendes Baugesuch. Als Gegenleistung liess sie sich von der
B. Immobilien AG einerseits die Einräumung einer Dienstbarkeit, wonach
deren Grundstück ausschliesslich zu Wohnzwecken oder nicht störenden
Gewerbezwecken benützt werden durfte, und anderseits eine Entschädigung
von Fr. 84'000.-- versprechen, wovon Fr. 50'000.-- grundpfändlich
gesichert und in jährlichen Raten von mindestens Fr. 5'000.-- bezahlt,
Fr. 34'000.-- beim Abschluss des Pfandvertrages auf dem Grundbuchamt
hinterlegt und 10 Tage nach Abschreibung der Rekurse an den Anwalt der
Frau A. bezahlt werden sollten. Schliesslich verpflichteten sich beide
Parteien, sich ein gegenseitiges Fuss- und Fahrwegrecht einzuräumen,
das die Einrichtung von Parkplätzen auf der an die gemeinsame Grenze
anschliessenden Hoffläche ermöglichen sollte.

    In der Folge liessen die Parteien die verabredeten dinglichen Rechte
im Grundbuch eintragen, bezahlte die B. Immobilien AG die Fr. 34'000.--
an den Anwalt der Frau A. und zog diese die hängigen Rekurse zurück. Die
B. Immobilien AG führte nach Massgabe der damit rechtskräftigen
Baubewilligung ihr Bauvorhaben aus.

    B.- Mit Klage vom 22. Mai 1984 verlangte die B. Immobilien AG
unter Berufung auf Nichtigkeit, eventuell einseitige Unverbindlichkeit
der Vereinbarung vom 10. Februar 1983 die Löschung der gestützt
darauf erfolgten grundbuchlichen Eintragungen, die Rückerstattung der
bereits bezahlten Fr. 34'000.-- nebst Zins sowie die Feststellung einer
Schadenersatzpflicht der Beklagten aus rechtswidrigen Baueinsprachen und
Rekursen. Sie berief sich unter anderem darauf, die genannte Vereinbarung
sei sittenwidrig (Art. 20 Abs. 1 OR).

    Das Bezirksgericht Rorschach wies die Klage am 27. August 1987 ab.

    Auf Berufung der Klägerin erklärte das Kantonsgericht St. Gallen mit
Urteil vom 15. Juni 1988 die Vereinbarung einer Entschädigung in der
Höhe von Fr. 34'000.-- als gültig, im Mehrbetrag aber als nichtig und
wies die Klage im übrigen ab.

    C.- Die Beklagte hat gegen das Urteil des Kantonsgerichts
eidgenössische Berufung eingelegt, mit der sie Aufhebung des angefochtenen
Entscheides und Abweisung der Klage beantragt. Die Klägerin hat sich
der Berufung mit den Anträgen angeschlossen, das angefochtene Urteil
aufzuheben und die Klage gutzuheissen.

    Das Bundesgericht weist in Gutheissung der Berufung die Klage ab. Die
Anschlussberufung weist es ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Das Kantonsgericht geht davon aus, der Inhalt der Vereinbarung sei
als solcher zwar durchaus rechtmässig, doch könne sich Widerrechtlichkeit
über die inhaltliche Ausgestaltung einer Vereinbarung hinaus auch daraus
ergeben, dass ihr Abschluss selbst die Folge eines Verhaltens gegen Treu
und Glauben darstelle. Ob letzteres vorliege, prüft das Kantonsgericht
unter den Gesichtspunkten der Aussichtslosigkeit und der Zweckwidrigkeit
der baupolizeilichen Opposition, der Ausbeutung einer Notlage und der
Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung. Dabei gelangt es zum Ergebnis,
dass sich die Beklagte im Baupolizeiverfahren weder trölerisch noch
anderweitig missbräuchlich verhalten, dass ihr Hauptrekurs gegen die
Baubewilligung nicht aussichtslos gewesen sei und dass sie auch keine
Notlage der Klägerin ausgenützt habe. Hingegen ist das Kantonsgericht
der Auffassung, die Beklagte habe sich in rechtsmissbräuchlicher Weise
eine übersetzte Entschädigung versprechen lassen, da die vereinbarten
Fr. 84'000.-- im wesentlichen eine Beteiligung am nachbarlichen Vorteil und
nur untergeordnet einen Ausgleich des durch die Baubewilligung bewirkten
Nachteils beinhaltet hätten. Die Vereinbarung sei deshalb zufolge
Teilnichtigkeit dahingehend zu korrigieren, dass die Entschädigung auf
das zulässige und von den Parteien bei Kenntnis der Teilnichtigkeit
mutmasslich vereinbarte Mass herabgesetzt werde. In Würdigung aller
Umstände erachtet das Kantonsgericht dabei eine Entschädigung von Fr.
34'000.-- als angemessen.

    Die Beklagte wendet sich in ihrer Berufung sowohl gegen die
tatsächliche Annahme als auch gegen die rechtliche Relevanz eines
Missverhältnisses von Leistung und Gegenleistung und weist den Vorwurf
eines treuwidrigen Vertragsschlusses von sich.

    Die Klägerin gibt dagegen die gesamte Vereinbarung als sittenwidrig
aus, da es der Beklagten allein um eine Teilhabe an ihrem Bauvorhaben
gegangen sei.

    a) Sittenwidrig im Sinne von Art. 20 Abs. 1 OR sind Verträge, die
gegen die herrschende Moral, d.h. gegen das allgemeine Anstandsgefühl
oder gegen die der Gesamtrechtsordnung immanenten ethischen Prinzipien und
Wertmassstäbe verstossen (GAUCH/SCHLUEP, Schweizerisches Obligationenrecht,
Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1987, Nr. 518; BUCHER, Schweizerisches
Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1988, S. 255 f.). Ein solcher
Verstoss kann einerseits in der vereinbarten Leistung oder in dem damit
angestrebten mittelbaren Zweck oder Erfolg liegen, sich anderseits aber
auch daraus ergeben, dass eine notwendig unentgeltliche Leistung mit
einer geldwerten Gegenleistung verknüpft wird.

    b) Die von den Parteien verabredeten Leistungen - Zustimmung zu
einem bekämpften Bauprojekt, Verzicht auf Opposition gegen ein in seinen
Grundzügen bekanntes weiteres Bauvorhaben, Begründung von Dienstbarkeiten
- sind klarerweise nicht sittenwidrig, noch wurde damit mittelbar ein
sittenwidriger Zweck oder Erfolg angestrebt. Fragen kann sich daher nur
noch, ob in sittenwidriger Weise eine Bindung mit einem materiellen Vor-
oder Nachteil verknüpft wurde.

    Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz zu den nach
kantonalem Baurecht zu beurteilenden Prozesschancen war der Hauptrekurs
der Beklagten gegen das Bauvorhaben der Klägerin nicht aussichtslos,
mithin durchaus geeignet, schutzwürdige Interessen der Opponentin zu
wahren. Ob dies auch für den Rekurs gegen die Teilbaubewilligung zutraf,
bleibt im Gesamtzusammenhang ohne Bedeutung; unter dem Gesichtspunkt der
Sittlichkeit ist der Beklagten jedenfalls nicht zum Vorwurf zu erheben,
dass sie in der Verfolgung legitimer Interessen die ihr zustehenden
Rechtsmittel ausschöpfte, insbesondere um präjudizielle Teilwirkungen zu
verhindern. War ihre Opposition nicht aussichtslos, durfte die Beklagte
selbst bei objektiver Betrachtungsweise damit rechnen, das missliebige
Bauvorhaben verhindern und die Klägerin zu einem für sie günstigeren
Projekt veranlassen zu können. Solche Chancen und Vorteile können durchaus
geldwerter Natur sein; dass sich die Beklagte für den Verzicht darauf
eine Entschädigung versprechen liess, verstösst deshalb nicht gegen die
guten Sitten, und die vereinbarte Vergütung stellt insbesondere auch kein
sittenwidriges Schweigegeld dar (dazu BGE 76 II 362 ff.).

    c) Eine Sittenwidrigkeit könnte auch das von der Klägerin behauptete
Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung nicht begründen. Eine
Wertdisparität der Vertragsleistungen zu verbieten, ist gerade nicht
Ziel der erwähnten Grundwerte unserer Rechtsordnung; dieser Problemkreis
wird vielmehr abschliessend vom Übervorteilungstatbestand des Art. 21
OR erfasst, wonach ein offenbares Missverhältnis zwischen Leistung
und Gegenleistung ausnahmsweise dann die einseitige Unverbindlichkeit
des Vertrages zur Folge hat, wenn die eine Partei dessen Abschluss
durch Ausbeutung der Notlage, der Unerfahrenheit oder des Leichtsinns
der andern herbeigeführt hat (BUCHER, aaO, S. 258 f.; MERZ, N. 193 zu
Art. 2 ZGB; MERZ, Vertrag und Vertragsschluss, S. 58 ff., insbes. S. 61;
HAUSHEER, Die Allgemeinverbindlicherklärung von Kollektivverträgen als
gesetzgeberisches Gestaltungsmittel, in ZSR 95/1976 II, S. 271; abweichend
VON TUHR/PETER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts,
Bd. I, S. 260). Damit bleibt für die Beurteilung des vorliegenden
Rechtsstreites auch belanglos, ob die Parteien den durch den Vergleich
bewirkten Vorteil für die Klägerin oder den von der Beklagten hingenommenen
Nachteil zum Ausgangspunkt für die Berechnung der Entschädigung nahmen.

    d) Ist somit der angefochtene Entscheid in der Ablehnung einer
allgemeinen Widerrechtlichkeit bzw. Sittenwidrigkeit nicht zu beanstanden,
die Anschlussberufung also abzuweisen, so ist der Vorinstanz dagegen nicht
zu folgen, wenn sie das von ihr angenommene Missverhältnis von Leistung und
Gegenleistung über das Rechtsmissbrauchsverbot korrigieren will. Art. 2
ZGB richtet - im Unterschied zu Art. 19/20 OR und Art. 27 ZGB - keine
Schranke der rechtsgeschäftlichen Freiheit auf (MERZ, N. 103 zu Art. 2
ZGB; DESCHENAUX, in SPR Bd. II, S. 156; ERNST ZELLER, Treu und Glauben
und Rechtsmissbrauch, Diss. Zürich 1980, S. 256); weder der Grundsatz
von Treu und Glauben noch das Rechtsmissbrauchsverbot ist dazu da,
einer allgemeinen Vertragsgerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Der
ebenfalls aus Art. 2 ZGB fliessende Grundsatz der Vertragstreue erlaubt im
Gegenteil nur dort einen Vertrag als nichtig bzw. einseitig unverbindlich
zu erklären, wo dessen Inhalt Grundwerten der Rechtsordnung widerspricht
(Art. 19/20 OR), die Willensbildung mangelhaft war (Art. 23 ff. OR) oder
zusätzlich zu einem offenbaren Missverhältnis der Vertragsleistungen auch
die subjektiven Voraussetzungen der Übervorteilung gegeben sind (Art. 21
OR). Solange letzteres nicht der Fall ist, bleibt den Vertragsschliessenden
- als Ausfluss der Vertragsfreiheit (Art. 19 Abs. 1 OR) - unbenommen,
ein beliebiges Ungleichgewicht der Leistungen zu vereinbaren; umgekehrt
liegt in der Berufung auf diese Freiheit auch kein Rechtsmissbrauch im
Sinne von Art. 2 Abs. 2 ZGB (vgl. SPIRO, in ZBJV 88/1956, S. 521).

    Das Rechtsmissbrauchsverbot gibt somit entgegen der Auffassung
der Vorinstanz keine Handhabe, die nach Massgabe der Art. 19 und 20 OR
gültig vereinbarte Entschädigung für den Rückzug der Baurekurse und den
Verzicht auf weitere Baueinsprachen auf ein vom Richter festgelegtes Mass
herabzusetzen; die Berufung ist deshalb gutzuheissen.