Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 206



115 II 206

35. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 22. Mai 1989 i.S. X.
gegen X. (Berufung) Regeste

    Art. 156 Abs. 1 und 274 Abs. 1 ZGB; Zuteilung der Kinder im Falle
der Scheidung.

    Der Abschluss einer Scheidungskonvention hindert eine Partei nicht
daran, dem Richter deren Nichtgenehmigung zu beantragen.

    Sind die Voraussetzungen für die Kinderzuteilung bei beiden Eltern in
gleicher Weise gegeben, behindert aber der eine Elternteil die Beziehungen
der Kinder zum andern Elternteil, so verletzt er seine elterlichen
Pflichten. Seine Erziehungsfähigkeit ist deshalb als schlechter zu
beurteilen als diejenige des andern Elternteils, welcher die Kinder nicht
negativ beeinflusst.

Sachverhalt

    A.- A. X. und M. Y. gingen im Jahre 1971 miteinander die Ehe ein,
welcher die beiden Kinder Claudia, geboren 1972, und Marcel, geboren 1976,
entsprossen. Die Ehefrau erhob im April 1986 beim Bezirksgericht Klage
auf Scheidung der Ehe. Gleichzeitig beantragte sie die Zuweisung der
elterlichen Gewalt über die beiden Kinder an sie. Der Ehemann widersetzte
sich zunächst dem Scheidungsbegehren.

    Als vorsorgliche Massnahme während des Scheidungsverfahrens wurden die
beiden Kinder vorerst dem Vater zur Pflege und Erziehung zugesprochen. In
der Folge einigten sich die Parteien auf ein gemeinsames Scheidungsbegehren
und schlossen im November 1987 auch eine Vereinbarung über die Nebenfolgen
der Scheidung, wonach die Kinder unter die elterliche Gewalt des Beklagten
zu stellen seien. Sollte aber eines der Kinder oder beide je den Wunsch
haben, mit der Klägerin zusammenzuleben, so werde der Beklagte diesen
Wunsch respektieren und sich auch der Übertragung der elterlichen Gewalt
nicht widersetzen. Im übrigen einigten sich die Parteien auch über ein
ausgedehntes Besuchs- und Ferienrecht der Klägerin und darüber, dass sie
an den Unterhalt der Kinder je Fr. 250.-- im Monat leisten solle.

    Anlässlich der Hauptverhandlung vor Bezirksgericht stellte die Klägerin
indessen den Antrag, dass die Vereinbarung über die Nebenfolgen nicht zu
genehmigen sei, dass vielmehr die Kinder Claudia und Marcel unter ihre
Obhut zu stellen seien und der Beklagte, dem ein grosszügiges Besuchs-
und Ferienrecht einzuräumen sei, an den Unterhalt der Kinder monatliche
Beiträge von je Fr. 600.-- zu bezahlen habe. Der Beklagte widersetzte
sich diesem Antrag.

    B.- Das Bezirksgericht schied mit Urteil vom 15. März 1988 die Ehe
der Parteien, unterstellte die beiden Kinder der elterlichen Gewalt
des Vaters, ordnete aber für die Überwachung des Besuchsrechts eine
Erziehungsbeistandschaft im Sinne von Art. 308 Abs. 2 ZGB an und genehmigte
die übrigen Punkte der Konvention.

    Das Obergericht des Kantons Thurgau hiess am 13. Dezember 1988 die
Berufung der Klägerin gut und sprach die beiden Kinder Claudia und
Marcel der Mutter zu unter Anordnung einer Erziehungsbeistandschaft
gemäss Art. 308 Abs. 2 ZGB. Es räumte dem Beklagten das Recht ein, die
beiden Kinder jedes zweite Wochenende zu sich auf Besuch und vier Wochen
pro Jahr mit sich in die Ferien zu nehmen. Ferner verpflichtete ihn das
Obergericht, für die beiden Kinder monatliche indexierte Unterhaltsbeiträge
von je Fr. 600.-- zu bezahlen.

    C.- Der Beklagte legt beim Bundesgericht Berufung ein mit dem
Begehren, in Abänderung des Urteils des Obergerichts sei die elterliche
Gewalt über Claudia und Marcel auf ihn zu übertragen. Dazu verlangt er
eine entsprechende Änderung der Besuchs- und Ferienregelung sowie der
Unterhaltsbeitragspflicht. Eventualiter beantragt er, dass zur genauen
Abklärung der Lebensverhältnisse der Kinder ein aktualisiertes Gutachten
zu erstellen und ein Bericht der zuständigen Vormundschaftsbehörde
einzuholen sei.

    Die Klägerin und das Obergericht schliessen auf Abweisung der Berufung.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab und bestätigt das angefochtene
Urteil.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Das Obergericht hat sich intensiv mit der Frage der Kinderzuteilung
auseinandergesetzt. Es hat nicht verkannt, dass die Klägerin sich vorerst
damit einverstanden erklärt hatte, dass die aus dem Kleinkindesalter
herausgewachsenen Kinder der elterlichen Gewalt des Beklagten unterstellt
werden. Das Obergericht hat aber auch zu Recht festgehalten, dass der
Abschluss einer Scheidungskonvention die Parteien nicht daran hindert,
dem Richter deren Nichtgenehmigung zu beantragen. Soweit diese beantragte
Nichtgenehmigung die Belange der Kinder betrifft, ist der Richter von
Bundesrechts wegen verpflichtet, den geltend gemachten Gründen besonders
sorgfältig nachzugehen und von Amtes wegen zu prüfen, welche Lösung sich
im Interesse der Kinder aufdrängt. Das gilt gleicherweise für den erst-
wie den zweitinstanzlichen Richter. Dass das Bezirksgericht in der Frage
der Kinderzuteilung die Parteivereinbarung genehmigt hat, ist insofern
ohne Belang, als das Obergericht in seiner eigenen Entscheidung frei ist
und selbst umfassend zu prüfen hat, ob die endgültige Zuteilung der beiden
Kinder an den Vater oder aber an die Mutter zu erfolgen hat.

    a) Massgebend ist bei der Prüfung dieser Frage das Kindeswohl. Die
Interessen der Eltern haben in den Hintergrund zu treten, und völlig
ausser Betracht zu bleiben haben vor allem emotionale Widerstände des einen
Ehegatten gegenüber dem die Scheidung begehrenden andern Ehegatten. Nachdem
die Kinder sich in einem Alter befinden, in welchem sie an sich auf
beide Eltern - ohne Vorgabe des einen oder andern - angewiesen sind,
kann es entgegen der Auffassung des Obergerichts auch nicht mehr auf die
mütterliche Vorgabe ankommen, welcher in den Entscheiden BGE 108 II 370
und 109 II 194 noch eine vorrangige Bedeutung zugekommen ist. Die neueste
Rechtsprechung geht vielmehr davon aus, dass zumindest bei nicht mehr
ganz kleinen Kindern grundsätzlich - bei gleichen Voraussetzungen und bei
gleicher Erziehungsfähigkeit - beide Eltern gleicherweise in den Genuss
der elterlichen Gewalt gelangen können (BGE 114 II 203). Den Vorrang
besitzt nach dieser Rechtsprechung jener Elternteil, welcher nach den
gesamten Umständen die bessere Gewähr dafür bietet, dass sich die Kinder
in geistig-psychischer, körperlicher und sozialer Hinsicht altersgerecht
optimal entfalten können. Steht fest, dass diese Voraussetzungen und
sodann die Möglichkeit, die Kinder persönlich zu betreuen, auf seiten
beider Eltern ungefähr in gleicher Weise gegeben sind, ist dem Moment
der örtlichen und familiären Stabilität und - je nach Alter der Kinder -
allenfalls ihrem eindeutigen Wunsch Rechnung zu tragen.

    b) Angesichts dieser von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
aufgestellten Grundsätze lässt sich der Entscheid des Obergerichts im
Ergebnis in keiner Weise beanstanden. Die Vorinstanz hat die gesamten
Umstände grundsätzlich zutreffend gewürdigt. Da in erzieherischer,
wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht gleichwertige Voraussetzungen
gegeben waren, hat sie letztlich entscheidend auf das beigezogene Gutachten
und damit auf die Tatsache abgestellt, dass die Parteien noch unfähig
zu einfachsten Kooperationsleistungen seien und die Entscheidungsgewalt
weitgehend einfach ihren Kindern überlassen hätten. Das hatte zur Folge,
dass vor allem der kleine Marcel wegen des Verhaltens seines Vaters
in schwere Loyalitätskonflikte geriet. Das Gutachten, das auf einer
dreieinhalb Jahre dauernden Beobachtung der Verhältnisse beruht, lässt nach
der Feststellung im angefochtenen Entscheid keinen Zweifel darüber offen,
dass das Kindeswohl unter den gegebenen Voraussetzungen deshalb nicht
gewährleistet ist, weil der Beklagte die in Art. 273 und 274 Abs. 1 ZGB
ausdrücklich festgehaltenen elterlichen Pflichten in flagranter Weise
verletzt. Er sei es, welcher der Mutter-Kind-Beziehung Steine in den
Weg lege und zwar offenkundig aus egoistischen Motiven, nämlich um an
der Klägerin für die Scheidung, der er sich anfänglich widersetzt hat,
Rache zu nehmen. Dass diese aus dem Gutachten gezogene Schlussfolgerung
richtig ist, untermauert das Obergericht noch mit der Aussage eines Zeugen,
eine Aussage, die vom Beklagten nicht in Frage gestellt worden ist.

    Das Obergericht hält fest, dass sich der Beklagte nicht nur
widerrechtlich im Sinne des Kindesrechts verhält, sondern dass er, indem
er die Gefühle seiner Kinder zum Spielball seiner "Strafaktion" gegen
die Klägerin mache, auf die Kinder sogar einen ausgesprochen schädlichen
Einfluss ausübe. Der Beklagte stelle die bei ihm wohnenden Kinder faktisch
vor die Alternative, sich für ihn oder die Klägerin zu entscheiden,
wodurch er den Widerstand der Kinder gegen die Mutter auslöse. Es fehle
ihm ganz offensichtlich am Willen, sich auch nur zu einer minimalen
Zusammenarbeit in Fragen des persönlichen Verkehrs zwischen Eltern und
Kindern, geschweige denn in Erziehungsfragen bewegen zu lassen. Dass sich
die Klägerin dabei nachsichtig zeige, geschehe offenkundig in der Absicht,
die bestehende Konfliktsituation nicht zusätzlich und namentlich zu Lasten
der Kinder zu verschärfen.

    Die Vorinstanz schliesst völlig zu Recht aus diesem Verhalten der
Klägerin, dass bei ihr mehr Einsicht vorhanden ist als auf seiten
des Beklagten. Es ist ihr damit die bessere Erziehungsfähigkeit
zu attestieren. In Übernahme der Schlussfolgerungen der Gutachterin
hält das Obergericht in diesem Zusammenhang dafür, dass die Klägerin
die Beziehungen der Kinder zu ihrem Vater weniger negativ beeinflussen
würde, als dies umgekehrt geschieht. Bei einer Gewaltzuweisung an die
Mutter würden die Kinder von den Schuldgefühlen gegenüber beiden Eltern
befreit, und die Beziehung zur Mutter könnte sich entkrampfen, weil die
Kinder weniger Angst haben müssten, wenn sie die Mutter auch gern haben;
besonders Marcel könnte seine übermässige Loyalität zum Vater aufgeben und
zu beiden Eltern eine gleichwertige Beziehung aufbauen. Das Obergericht
ist mit Recht der Ansicht, dass die Normalisierung der persönlichen
Beziehungen zwischen Eltern und Kindern für eine gesunde Entwicklung
der Kinder unabdingbar ist. Diese Normalisierung kann nun aber nach der
verbindlichen Feststellung im angefochtenen Urteil nur durch Unterstellung
von Marcel und Claudia unter die elterliche Gewalt der Klägerin erreicht
werden. Eine Umplazierung der Kinder drängt sich daher für das Obergericht
geradezu auf, auch wenn damit nicht sämtliche Probleme, zumindest mit
Bezug auf den Sohn Marcel, gelöst sind.

    c) Das Obergericht hat mit diesem Entscheid nicht nur kein Bundesrecht
verletzt, sondern offensichtlich im wohlverstandenen Interesse der
beiden Kinder entschieden. Es hält zutreffend fest, dass es unter
dem Gesichtspunkt des Kindeswohls nicht zu verantworten wäre, eine
gleichsam programmierte Schädigung von Marcel in Kauf zu nehmen. Nach der
Feststellung der Vorinstanz lässt sich die Umplazierung der Kinder an einen
nur wenige Kilometer entfernten Ort aber auch unter dem Gesichtspunkt
der auf seiten der Klägerin zweifellos vorhandenen und wohl besseren
erzieherischen Fähigkeiten sowie ihrer Bereitschaft zur Kindererziehung
und -betreuung verantworten.