Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 160



115 II 160

28. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 9. Mai 1989
i.S. A. gegen R. Corporation (Berufung) Regeste

    Art. 761 OR. Aktienrechtliche Verantwortlichkeit; örtliche
Zuständigkeit.

    Massgebend für den Gerichtsstand ist der statutarische Sitz der
Gesellschaft, in deren Namen und Interesse die angeblich schädigende
Handlung erfolgt ist. Dabei ist vom formellrechtlich sanktionierten
Tatbestand auszugehen und auf den Zeitpunkt der Klageerhebung abzustellen.

Sachverhalt

    A.- Am 25. April 1983 bestätigte das Kantonsgericht der W. AG einen
Nachlassvertrag mit teilweiser Vermögensabtretung. Die W. AG überliess
darin den Gläubigern einen Teil ihres Vermögens zur Liquidation
und Verteilung nach den Vorschriften über den Nachlassvertrag mit
Vermögensabtretung, bot die Schaffung eines Genussscheinkapitals an und
erklärte sich mit einer Herabsetzung ihres Grundkapitals einverstanden. Die
Liquidation der den Gläubigern überlassenen Vermögenswerte sollte
formell auf die ebenfalls zur Liquidationsmasse gehörende "S. Holding AG"
übertragen und deren Aktien treuhänderisch der Liquidatorin übereignet
werden. Alsdann sollte die "S. Holding AG" nach Änderung ihrer Firma in
"S.-Abwicklungsgesellschaft" und ihres Zwecks gegenüber Dritten als
Veräusserin auftreten, intern jedoch für Rechnung aller beteiligten
Gläubiger handeln.

    Gegenstand der Vermögensabtretung sollen auch
Verantwortlichkeitsansprüche aus Aktienrecht, darunter solche gegen A.,
Verwaltungsrat der W. AG in der Zeit vom 13. Januar 1966 bis zum 19. Mai
1982, gebildet haben. Die Liquidatorin trat diese Ansprüche am 20. August
1985 an die mit mehr als 13 Mio. Fr. in der fünften Klasse kollozierte
R. Corporation ab.

    Die W. AG setzte ihr Grundkapital herab und führte ihre Geschäfte mit
den verbliebenen Mitteln fort. Am 18. Mai 1983 verlegte sie ihren Sitz
nach Pfäffikon, am 13. April 1984 nach Luzern, am 21. November 1986 nach
Zug und am 24. Dezember 1986 wiederum nach Luzern.

    B.- Mit Klage vom 14. September 1987 belangte die R. Corporation A. vor
dem Amtsgericht Luzern-Stadt aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit für
Fr. 500'000.-- nebst Zins und unter Beanspruchung eines Nachklagerechts.

    Auf Bestreitung des A. hin beschränkte das Amtsgericht das Verfahren
vorerst auf die Frage seiner örtlichen Zuständigkeit, bejahte diese
mit Urteil vom 26. August 1988 aus Art. 761 OR und verpflichtete den
Beklagten, sich auf die Klage einzulassen.

    Das Obergericht des Kantons Luzern, I. Kammer, wies am 9. November
1988 einen Rekurs des A. ab und bestätigte den erstinstanzlichen Entscheid.

    C.- A. hat Berufung eingelegt. Er beantragt dem Bundesgericht,
das vorinstanzliche Urteil aufzuheben, festzustellen, dass er nicht
gehalten sei, einlässlich zu antworten, und demzufolge auf die Klage
nicht einzutreten.

    Die R. Corporation schliesst auf Abweisung der Berufung und Bestätigung
des angefochtenen Entscheides.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Die aktienrechtliche Verantwortlichkeitsklage kann beim Richter
am Sitz der Gesellschaft angebracht werden (Art. 761 OR).

    Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, d.h. nach
Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen ausgelegt
werden. Eine historisch orientierte Auslegung ist für sich allein nicht
entscheidend. Anderseits vermag aber nur sie die Regelungsabsicht des
Gesetzgebers aufzuzeigen, welche wiederum zusammen mit den zu ihrer
Verfolgung getroffenen Wertentscheidungen verbindliche Richtschnur des
Richters bleibt, auch wenn er das Gesetz mittels teleologischer Auslegung
oder Rechtsfortbildung veränderten Umständen anpasst oder es ergänzt
(BGE 114 Ia 196 E. bb).

    b) Art. 761 OR wurde durch die Aktienrechtsreform des Jahres 1936
in das Gesetz eingefügt und trat am 1. Juli 1937 in Kraft. Während sich
in den unmittelbar vorangegangenen Beratungen zum Bundesgesetz über die
Banken und Sparkassen die Auffassung des Ständerates noch durchzusetzen
vermocht hatte, die vom Nationalrat befürwortete Einführung eines
besonderen Gerichtsstandes für Verantwortlichkeitsklagen verstosse
gegen die Gerichtsstandsgarantie des Art. 59 BV, wurde sie in der
Aktienrechtsreform nach zähem Ringen im Differenzbereinigungsverfahren
schliesslich aufgegeben, was ermöglichte, dass mit Art. 761 OR ein
einheitlicher Gerichtsstand für die aktienrechtliche Verantwortlichkeit
geschaffen werden konnte (BGE 97 II 408). Nach dem gegenwärtigen Stand
der Arbeiten soll die Norm auch von der laufenden Aktienrechtsrevision
unangetastet bleiben (Botschaft des Bundesrates vom 23. Februar 1983
über die Revision des Aktienrechts, BBl 1983 II 745 ff.; Amtl.Bull. NR
1985 S. 1789, SR 1988 S. 526).

    Im Nationalrat wurde die letztlich durchgedrungene Auffassung
im wesentlichen mit den Argumenten gestützt, es gelte zu vermeiden,
dass dieselbe Verantwortlichkeitsfrage Gegenstand mehrerer Prozesse
vor verschiedenen Gerichten und damit divergierender Urteile bilden
könne (Sten.Bull. NR 1934 S. 346, Votum Scherer), dass dem Gläubiger
nicht zuzumuten sei, gegen mehrere Mitglieder einer Verwaltung vor
verschiedenen Gerichten Recht zu nehmen (Sten.Bull. NR 1936 S. 778,
Votum Scherer) und dass andernorts der Bundesgesetzgeber ebenfalls in
Abweichung von Art. 59 BV einen einheitlichen Gerichtsstand normiert habe,
insbesondere in den Haftpflichtbestimmungen des Strassenverkehrsrechtes
(Sten.Bull. NR 1936 S. 778, Votum Aeby). Der Ständerat schloss sich
schliesslich auch der Überlegung an, dass durch das Bundesgericht eine
einheitliche Rechtsprechung in solchen Fällen als garantiert erscheine,
so dass die Garantie des Wohnsitzgerichtsstandes für die erste Instanz
etwas an Bedeutung verloren habe (Sten.Bull. SR 1936 S. 203, Votum Keller).

    Regelungsabsicht des Gesetzgebers war demnach die Ermöglichung eines
einheitlichen Gerichtsstandes für die aktienrechtliche Verantwortlichkeit,
zur Vermeidung einerseits von Mehrfachprozessen über identische
Sachverhalte anderseits von widersprüchlichen Entscheiden. Darüber
hinaus begründet Art. 761 OR einen schweizerischen Gerichtsstand für
Ansprüche gegen Beklagte mit Wohnsitz im Ausland (BÜRGI/NORDMANN, N. 2
zu Art. 761 OR; FORSTMOSER, Die aktienrechtliche Verantwortlichkeit
[Verantwortlichkeit], 2. Aufl., S. 181 Rz. 563). Dabei ist der
bundesrechtliche Gerichtsstand kein ausschliesslicher; dem Kläger bleibt
vielmehr unbenommen, alle oder einzelne der aus aktienrechtlicher
Verantwortlichkeit ins Recht gefassten Personen am ordentlichen
Gerichtsstand nach Art. 59 BV zu belangen (FORSTMOSER, aaO, Rz. 566 mit
Hinweisen). Die Frage einer Vereinbarkeit von Art. 761 OR mit Art. 59 BV
stellt sich für das Bundesgericht nicht (Art. 113 Abs. 3 BV).

    c) Einheitsgerichtsstand ist jener am Sitz der Gesellschaft. Dabei
bedarf keiner weiteren Erörterung, dass darunter diejenige Gesellschaft
zu verstehen ist, gegenüber deren Prospektaufleger (Art. 752 OR), Gründer
(Art. 753 OR), mit der Verwaltung, Geschäftsführung und Kontrolle betrauten
Personen (Art. 754 Abs. 1 OR) oder Liquidatoren (Art. 754 Abs. 2 OR)
Verantwortlichkeitsansprüche geltend gemacht werden. Ausser Betracht
fällt eine zur Sanierung gegründete Auffanggesellschaft; massgebend
bleiben die Verhältnisse der sanierten, wenn auch ganz oder teilweise
liquidierten Gesellschaft. Ausschlaggebend ist sodann der statutarische
Sitz der Gesellschaft (Art. 626 Ziff. 1 OR), nicht etwa die blosse Zweig-
oder Geschäftsniederlassung (FORSTMOSER, Schweizerisches Aktienrecht I/1
[Aktienrecht], S. 101 ff., 104 Rz. 123). Ebensowenig begründet nach dem
klaren Gesetzeswortlaut die Wahl eines besonderen Liquidationsdomizils
den bundesrechtlichen Gerichtsstand.

    Die W. AG schloss mit ihren Gläubigern einen Nachlassvertrag
mit teilweiser Vermögensabtretung ab. Das Gesellschaftsvermögen wurde
demzufolge nur teilweise liquidiert, die Gemeinschuldnerin bestand weiter
und führte insbesondere ihre Geschäftstätigkeit mit den ihr verbliebenen
Aktiven fort. Im Rahmen dieser Tätigkeit verlegte sie mehrmals ihren Sitz,
zuletzt nach Luzern. Ob diese Sitzverlegungen trotz nachlassvertraglicher
Teilliquidation formell- und materiellrechtlich zulässig waren und ob sie
namentlich nur zufolge des unterlassenen Liquidationszusatzes zur Firma
(Art. 316d Abs. 2 SchKG) möglich wurden, ist im vorliegenden Verfahren
nicht zu prüfen. Dazu hätten gegebenenfalls die Anfechtungsklage nach
Art. 706 OR, die Anzeige oder die Registerbeschwerden nach Art. 3 bis
5 HRegV oder das Einspracheverfahren nach Art. 32 HRegV offen gestanden
(dazu PATRY SPR VIII/1 S. 127). Der mit einer Verantwortlichkeitsklage
befasste Richter hat demgegenüber vom formellrechtlich sanktionierten
Tatbestand auszugehen.

    Der Beklagte hält der Auslegung der Vorinstanz entgegen, sie
knüpfe zu formalistisch an den Gesetzeswortlaut an und ermögliche
zweckwidrig einen Gerichtsstand, welcher zur streitigen Forderung keine
Beziehung aufweise. Dabei übersieht er, dass mit Art. 761 OR bewusst
ein Einheitsgerichtsstand für alle Verantwortlichkeitsklagen geschaffen
wurde, wobei diese Einheit allein an den formellen Tatbestand des
Gesellschaftssitzes anknüpft. Damit wird zwangsläufig in Kauf genommen,
dass nicht zu allen dort geltend zu machenden Forderungen auch eine
sachliche Beziehung besteht. Entscheidend für die Begründung der
Zuständigkeit ist einzig, dass Verantwortlichkeitsklagen gestützt auf
Art. 754 ff. OR erhoben werden und zwar unbesehen darum, ob Ersatz für
Gesellschafts-, Aktionärs- oder Gläubigerschaden beansprucht wird, aus
welcher Verantwortung die Ansprüche abgeleitet und ob sie ausserhalb
oder im Nachgang zu einem Konkurs oder einem Liquidationsvergleich
geltend gemacht werden. Am Sitz der Gesellschaft muss sich daher
beispielsweise auch der Gründer einklagen lassen, selbst wenn die
ihm vorgeworfene Tätigkeit sich fernab von diesem zwischenzeitlich
begründeten Sitz abgespielt hat. Aus dem Gesetz ergibt sich zwingend,
dass der Gerichtsstand an den formellen Sitz und nicht etwa an den Ort
der deliktischen Handlung oder der Konkurseröffnung anknüpft. Dabei
besteht kein Grund, vom Gesetzeswortlaut abzuweichen. Das wäre
nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nur zulässig, wenn der
an sich klare Wortlaut den vernünftigen Sinn der Bestimmung nicht
wirklich wiedergäbe oder ihm gar zuwiderliefe (BGE 112 II 170 E. b
mit Hinweisen). Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Die
erwähnten Anknüpfungstatbestände würden vielmehr den Intentionen des
Einheitsgerichtsstandes geradezu zuwiderlaufen, müssen verschiedene unter
die aktienrechtliche Verantwortung gestellte Tätigkeiten doch nicht von ein
und demselben "Deliktsort" ausgehen und vermöchte der Konkursort für alle
ausserhalb eines Konkursverfahrens geltend gemachten Ansprüche ohnehin
keinen Gerichtsstand abzugeben. Gleiches gilt für die Bestätigung des
Nachlassvertrages. Mithin ist unverändert vom Gesetzeswortlaut auszugehen.
Dabei ist dem Beklagten schliesslich entgegenzuhalten, dass mit Art. 761
OR bewusst eine Abweichung von der Garantie des Wohnsitzgerichtsstandes
in Kauf genommen und dem Beklagten zugemutet wurde, sich auch am Sitz
der Gesellschaft auf die Klage einzulassen. Der bundesgerichtliche
Gerichtsstand will den Kläger, nicht den Beklagten privilegieren.

    Der Beklagte macht weiter geltend, nach richtiger Auslegung sei beim
Nachlassvertrag mit bloss teilweiser Vermögensabtretung nicht auf den Sitz
der fortbestehenden Gesellschaft, sondern auf denjenigen der gesonderten
Liquidationsmasse abzustellen. Auch dieser Auffassung ist bereits die
Vorinstanz überzeugend entgegengetreten. Der Gesetzeswortlaut ist klar,
der Begriff des Gesellschaftssitzes nicht auslegungsbedürftig. Die
möglichen Modalitäten einer Teilliquidation sind äusserst vielfältig und
wickeln sich nicht nach einheitlichem Konzept ab. Die Nachlassmasse ist
in der Regel wohl betreibungs- und prozessfähig und damit in bestimmtem
Umfange auch handlungsfähig; doch wird sie im allgemeinen nicht in
Gesellschaftsform gekleidet und verfügt nicht über einen Sitz im Sinne
des Gesetzes. Von Fällen der hier nicht interessierenden Unternehmens-
und Gesellschaftsteilung abgesehen wird durch die Teilliquidation kein
Tatbestand geschaffen, welcher einen Anknüpfungspunkt im Sinne von Art. 761
OR abzugeben vermöchte. Insbesondere bestanden auch im vorliegenden
Fall nach Bestätigung des Nachlassvertrages nicht zwei Gesellschaften
nebeneinander, welche aus derselben juristischen Person hervorgegangen
waren und von denen eine in Liquidation trat, die andere dagegen die
ursprüngliche Geschäftstätigkeit fortsetzte. Zu Gunsten der Gläubiger
wurde lediglich ein Teil des Gesellschaftsvermögens ausgesondert und
verwertet. Ein Gesellschaftssitz wurde nicht begründet, damit ebensowenig
ein Gerichtsstand im Sinne von Art. 761 OR. Es bleibt somit dabei, dass
im allgemeinen - und auch im vorliegenden Fall - als Gesellschaftssitz
im Sinne von Art. 761 OR ausschliesslich jener der Aktiengesellschaft
zu gelten hat, in deren Namen und Interesse die angeblich schädigende
Handlung erfolgt ist.

    d) Schliesslich macht der Beklagte geltend, massgebender
Gesellschaftssitz sei nicht derjenige im Zeitpunkt der Klageanhebung,
sondern derjenige im Zeitpunkt der Konkurseröffnung bzw. der Bestätigung
des Nachlassvertrages.

    Entgegen der Auffassung des Beklagten hat die Vorinstanz in dieser
Richtung keine Gesetzeslücke angenommen, sondern das Gesetz ausgelegt
und lediglich festgehalten, selbst bei Annahme einer Lücke würde sich im
Ergebnis nichts ändern.

    Nach dem Wortlaut des Gesetzes kann die Verantwortlichkeitsklage
am Sitz der Gesellschaft angebracht werden. Bereits das primäre
Auslegungselement deutet somit darauf hin, dass auf den Zeitpunkt der
Klageanhebung abzustellen ist. Das entspricht im übrigen allgemeinen
zivilprozessualen Grundsätzen, welche auch im Bereich der bundesrechtlichen
Gerichtsstände auf der Maxime beruhen, dass die Prozessvoraussetzungen
im Zeitpunkt der Begründung der Rechtshängigkeit gegeben sein müssen
(BGE 96 I 148 E. a; 91 II 322 E. 1). Wäre auf den Zeitpunkt der
schädigenden Handlung abzustellen, hätte dies im Gesetzeswortlaut
seinen Niederschlag finden müssen. Allgemein vom Zeitpunkt der
Konkurseröffnung oder der Nachlassbetätigung auszugehen, verbietet
sich sodann bereits deshalb, weil Verantwortlichkeitsansprüche auch
ausserhalb eines Konkurses oder eines Liquidationsvergleiches geltend
gemacht werden können. Auch solche Ansprüche aber sind nach Massgabe
der zivilrechtlichen Bestimmungen abtretungsfähig und können alsdann
vom Zessionar ausserhalb einer Liquidation geltend gemacht werden. Im
übrigen würde entgegen der Auffassung des Beklagten selbst der von ihm
befürwortete Anknüpfungszeitpunkt nicht zwingend eine sachliche Beziehung
des Gerichtsstandes zur schädigenden Handlung schaffen, da der Sitz
der Gesellschaft auch in jenem Zeitpunkt von Zufälligkeiten abhängen
kann. Der angefochtene Entscheid ist daher auch in dieser Hinsicht
bundesrechtskonform ergangen.