Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 156



115 II 156

27. Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. Mai 1989 i.S. M. gegen X.
Versicherungsgesellschaft (Berufung) Regeste

    Art. 47 OR. Genugtuung zugunsten von Angehörigen.

    Verneinung eines Genugtuungsanspruchs des Vaters eines durch
Selbstunfall der Mutter getöteten Kleinkindes insbesondere mit Rücksicht
auf die eheliche Solidarität im gemeinsamen Leiden (E. 2). Beachtlichkeit
dieses Umstandes gegenüber dem Haftpflichtversicherer des Fahrzeughalters
(E. 1 und E. 2a).

Sachverhalt

    A.- Mit einem geliehenen Personenwagen verursachte die Ehefrau
von M. am 23. Oktober 1985 bei der Ausführung eines Überholmanövers in
Ottenbach einen Selbstunfall, bei dem sie schwer und ihr sechs Monate
altes Kind tödlich verletzt wurde.

    B.- Als Vater des getöteten Kindes klagte M. am 10. November 1987
beim Handelsgericht des Kantons Zürich gegen den Haftpflichtversicherer
des Fahrzeughalters, die X. Versicherungsgesellschaft, auf Zahlung von Fr.
25'000.-- Genugtuung nebst Zins. Am 26. August 1988 wies das Handelsgericht
die Klage ab.

    C.- Der Kläger führt gegen dieses Urteil Berufung und beantragt dessen
Aufhebung sowie die Gutheissung der Klage, eventuell die Rückweisung
der Sache an die Vorinstanz. Die Beklagte schliesst auf Abweisung der
Berufung. Das Bundesgericht weist diese ab aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                         Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Für Personen- und Sachschäden aus dem Betrieb eines Motorfahrzeugs
haftet dessen Halter kausal und auch ohne Verschulden des Lenkers (Art. 58
Abs. 1 SVG). Trifft den Lenker ein Verschulden, ist der Halter dafür
wie für eigenes Verschulden verantwortlich (Art. 58 Abs. 4 SVG). Das
vor Handelsgericht behauptete Eigenverschulden des Halters ist im
Berufungsverfahren nicht zu berücksichtigen, da nach dem verbindlichen
Beweisergebnis der Vorinstanz (Art. 63 Abs. 2 OG) ein natürlicher
Kausalzusammenhang zwischen der angeblich unterbliebenen Arretierung der
Rücksitzlehne und dem Tod des Kindes ausgeschlossen ist (BGE 109 II 469
E. 4c); ob und inwieweit die gefälligkeitshalber erfolgte Überlassung
des Autos (Art. 305 OR) den Halter entlastet hätte, kann offenbleiben.

    Gleich wie beim Schadenersatz richtet sich die Zusprechung von
Genugtuung aus Motorfahrzeughaftpflicht nach den Grundsätzen von Art. 41
ff. OR (Art. 62 Abs. 1 SVG). Gemäss Art. 47 OR kann der Richter unter
Würdigung der besonderen Umstände, mithin nach Recht und Billigkeit
(Art. 4 ZGB), den Angehörigen eines Getöteten eine angemessene Geldsumme
als Genugtuung zusprechen. Bei der Beurteilung der Frage, ob besondere
Umstände eine Genugtuung rechtfertigen, steht dem Richter ein weites
Ermessen zu (TERCIER, L'évolution récente de la réparation du tort moral
..., in SJZ 80/1984 S. 56).

    Wie im vorliegenden Fall geschehen, kann der Geschädigte
aufgrund von Art. 65 Abs. 1 SVG statt den Halter unmittelbar dessen
Haftpflichtversicherer belangen. Das gesetzliche Forderungsrecht hat
zur Folge, dass der Versicherer unter den gleichen Voraussetzungen und
im gleichen Umfang haftet wie der Halter. Da dieser kausal, der Lenker
aber nur für Verschulden gemäss Art. 41 OR haftet, trifft die vom Kläger
kritisierte Annahme der Vorinstanz, die Haftung der Versicherung könne
nicht weiter gehen als die des Lenkers, so allgemein nicht zu. Im
angefochtenen Urteil kommt ihr indessen lediglich die zutreffende
Bedeutung zu, dass auch von der Beklagten als Versicherung des Halters
keine Genugtuung verlangt werden kann, wenn es im Verhältnis zwischen
dem Kläger und seiner Ehefrau als Fahrzeuglenkerin an den nach Art. 47
OR vorausgesetzten Umständen fehlt. Art. 58 SVG hat bloss zur Folge,
dass der mit dem Lenker nicht identische Halter ausser für die von ihm
selbst verursachten sowie die objektiven Umstände auch für solche Umstände
einzustehen hat, die ausschliesslich vom schädigenden Lenker verursacht
worden sind. Vermöchten jedoch diese Umstände bei gegebenem Verschulden
keinen Genugtuungsanspruch gegen den Lenker zu begründen, können sie auch
nicht Anspruchsgrundlage gegenüber dem Halter sein; dieser kann sich als
mit dem Lenker solidarisch haftender Schuldner (Art. 60 Abs. 1 SVG) auf das
Fehlen eines gemeinsamen Entstehungsgrundes (Art. 145 Abs. 1 OR) berufen.

Erwägung 2

    2.- Da der Halter kausal haftet, ist für die Zusprechung von Genugtuung
nicht erforderlich, dass die besonderen Umstände nach Art. 47 OR dem
Schädiger oder Haftpflichtigen zum Verschulden gereichen (BGE 110 II
165 f. E. 2c mit Hinweis; OFTINGER, Haftpflichtrecht Allgemeiner Teil,
S. 295; OFTINGER/STARK, Haftpflichtrecht Besonderer Teil, Bd. II/2, S. 275
Rz. 624; BREHM, N. 18 und 20 zu Art. 47 OR; TERCIER, Die Genugtuung, in:
Strassenverkehrsrechts-Tagung 1988, S. 11; PETER STEIN, Die Genugtuung,
4. A. 1987, S. 5). Die Genugtuung bezweckt denn auch nicht die Bestrafung
(BREHM, N. 36 und 44 ff. zu Art. 47 OR; STEIN, aaO S. 3), sondern
ausschliesslich den Ausgleich für erlittene Unbill, indem das Wohlbefinden
anderweitig gesteigert oder dessen Beeinträchtigung erträglicher gestaltet
wird (BGE 102 II 22; OFTINGER, aaO S. 290 f.; BREHM, N. 6 ff. zu Art. 47
OR; TERCIER, Die Genugtuung, S. 3 f.). Ob und in welcher Höhe Genugtuung
zuzusprechen ist, hängt demnach entscheidend von der Schwere der Unbill
und der Aussicht ab, dass die Zahlung eines Geldbetrags den körperlichen
oder seelischen Schmerz spürbar lindern wird. Wieweit das Verschulden den
Schmerz vergrössern kann und deshalb trotz des nichtpönalen Charakters
der Genugtuung selbst bei reiner Kausalhaftung mitzuberücksichtigen
ist (BGE 112 II 133 und 110 II 166, je mit Hinweisen; BREHM, N. 33-37,
73, 75 zu Art. 47 OR; TERCIER, Die Genugtuung, S. 16 f.; KLAUS HÜTTE,
Genugtuungsrecht im Wandel, SJZ 84/1988 S. 170 f.), braucht vorliegend
nicht untersucht zu werden.

    a) Nach den vorinstanzlichen Feststellungen sind der Kläger und seine
Ehefrau durch den Tod des gemeinsamen Kindes schwer betroffen. Aus Treue
zu seiner Frau habe der Kläger ihr gegenüber eine Genugtuungsforderung
nicht einmal in Betracht gezogen und wäre damit angesichts des seelischen
Schmerzes der Mutter und der einem Geldausgleich entgegenstehenden
Solidarität der Ehegatten im gemeinsamen Leiden auch nicht durchgedrungen.

    Dass sich unter diesen Umständen keine Genugtuung rechtfertigt,
entspricht der Lehre und Rechtsprechung. Was Ehegatten an gemeinsamen
Schmerz erlitten haben, soll nicht zu gegenseitigen Genugtuungsforderungen
führen; dem steht das eigene Leid des belangten Partners (BREHM, N. 40 zu
Art. 47 OR; ROBERT GEISSELER, Haftpflicht und Versicherung im revidierten
SVG, Diss. Freiburg 1980, S. 146) wie überhaupt die Zurückhaltung entgegen,
mit der solche Forderungen unter Ehegatten und Verwandten zugelassen
werden (OFTINGER, aaO S. 298; BREHM, N. 116 zu Art. 47 OR; TERCIER,
L'évolution récente, aaO; TERCIER, Die Genugtuung, S. 12; GEISSELER,
aaO). Zurückhaltung ist erst recht geboten, wenn der Betroffene dem
Schädiger verziehen hat (BGE 63 II 219; OFTINGER, aaO; BREHM, N. 39
zu Art. 47 OR; zum Ganzen auch HÜTTE, Die Genugtuung bei Tötung und
Körperverletzung, 2. A., Ziff. 1.5, 1.7, 2.2.2). Zurückhaltung bedeutet
jedoch keinen Ausschluss von Genugtuungsansprüchen unter Ehegatten
und Angehörigen schlechthin (so etwa STEIN, aaO S. 3; a.A. HÜTTE, SJZ
84/1988 S. 173 f., im Falle eines Kindes, dessen tödlicher Unfall vom
einen Elternteil verursacht worden ist).

    Zurückhaltung drängt sich namentlich deshalb auf, weil enge und
dauerhafte Beziehungen nicht durch richterliches Eingreifen gefährdet
werden sollen. Diese Gefahr wird nicht schon dadurch beseitigt, dass
die Genugtuung ihrer Funktion nach Ausgleich und nicht Strafe ist. Der
Ausgleich wirkt sich für den Verpflichteten als Belastung aus und wird von
ihm zwangsläufig als Strafe empfunden. Im Schutz der Gemeinschaft liegt
sodann ein weiterer Grund gegen die Auffassung des Klägers, wonach die
ehelichen Beziehungen die Genugtuung nur gegenüber seiner Ehefrau, jedoch
nicht gegenüber dem Halter und dessen Versicherung ausschlössen. Hätten
diese Genugtuung zu leisten, weil es ihnen verwehrt wäre, der Anwendung
von Art. 47 OR die ehelichen Beziehungen entgegenzuhalten, könnte die
nach Art. 41 OR als Solidarschuldnerin haftende Ehefrau (Art. 60 Abs. 1
SVG) auf dem Regressweg belangt werden. Auch deshalb muss der Halter und
dessen Versicherer die Genugtuung aus in der Beziehung des Geschädigten
zum Schadensverursacher liegenden Gründen verweigern dürfen (vgl. BGE 63
II 220 sowie den in SJZ 77/1981 S. 286 f. wiedergegebenen Entscheid der
freiburgischen Cour d'appel; zur Stellung der Versicherung OFTINGER,
aaO S. 299).

    b) Im Rahmen von Art. 47 OR hat die Vorinstanz entgegen der Auffassung
des Klägers zu Recht (BREHM, N. 117 zu Art. 47 OR; GEISSELER, aaO S. 147)
zusätzlich berücksichtigt, dass eine dem Kläger zugesprochene Genugtuung
voraussichtlich auch der Ehefrau zugute gekommen wäre, die dann aus dem
allein von ihr verursachten Unfall Nutzen gezogen hätte. Über die vom
Kläger aufgeworfene Frage, ob und inwieweit er bessergestellt gewesen
wäre, wenn der Tod des Kindes zum Scheitern der Ehe geführt hätte, kann
nur gemutmasst werden, so dass darauf nicht einzugehen ist.