Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IB 411



115 Ib 411

58. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
29. November 1989 i.S. G. gegen Schweizerische Eidgenossenschaft
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Zuständigkeit zur Beurteilung von Entschädigungsbegehren für materielle
Enteignung.

    Über Entschädigungsansprüche aus materieller Enteignung haben die
Eidgenössischen Schätzungskommissionen nur zu entscheiden, wenn dies in
der Bundesgesetzgebung ausdrücklich vorgesehen ist (E. 2). Besteht keine
derartige Kompetenznorm und ist auch kein kantonaler Richter zuständig,
so sind solche Begehren als Streitigkeiten über ausservertragliche
Entschädigungen im Sinne von Art. 116 lit. c OG vom Bundesgericht als
einziger Instanz zu beurteilen (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Die Eheleute G. sind Eigentümer eines rund 60 ha umfassenden
Schlossgutes in B. Im August 1982 brannte eines ihrer Ökonomiegebäude,
ein Kälbermaststall, vollständig nieder. G. ersuchte hierauf um Bewilligung
für den Wiederaufbau eines Stalles für 250 Mastkälber. Dieses Gesuch wurde
vom Bundesamt für Landwirtschaft abgewiesen, weil die Zahl der vorhandenen
Tiere den nach der Landwirtschaftsgesetzgebung zulässigen Höchstbestand
überschreite. Hiegegen erhobene Beschwerden blieben erfolglos.

    Am 1. Juli 1987 reichten die Eheleute bei der Eidgenössischen
Schätzungskommission, Kreis 11, Klage wegen materieller Enteignung
ein und verlangten, dass ihnen der aus dem Verbot des Wiederaufbaus
des Kälbermaststalles entstehende Schaden voll vergütet werde. Die
Schätzungskommission gab der Schweizerischen Eidgenossenschaft Gelegenheit,
sich zum Begehren zu äussern, und beschloss am 30. Oktober 1987, mangels
Zuständigkeit auf die Klage nicht einzutreten. Gegen diesen Entscheid haben
die Eheleute G. Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht und den Antrag
gestellt, die Schätzungskommission sei zu verpflichten, das Verfahren zu
eröffnen und den Fall materiell zu behandeln.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Entscheide der Eidgenössischen Schätzungskommissionen können
mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden (Art. 77 Abs. 1
und 2 sowie Art. 64 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Enteignung/EntG;
Art. 115 Abs. 1 OG). Da die vorliegende Beschwerde rechtzeitig eingereicht
worden ist (Art. 106 OG) und die in Art. 108 Abs. 2 OG umschriebenen
Formerfordernisse erfüllt, kann grundsätzlich auf sie eingetreten werden.

Erwägung 2

    2.- Im angefochtenen Entscheid hat sich die Eidgenössische
Schätzungskommission zur Beurteilung des an die Eidgenossenschaft
gerichteten Entschädigungsbegehrens sachlich unzuständig erklärt. Zu Recht.

    a) Die Eidgenössischen Schätzungskommissionen sind
Spezialverwaltungsgerichte ("Schiedskommissionen" im Sinne von Art. 98
lit. e OG; vgl. BGE 112 Ib 421), welche der Enteignungsgesetzgeber
geschaffen und denen er insbesondere die erstinstanzliche Beurteilung
der auf dieses Gesetz gestützten Entschädigungsbegehren übertragen hat
(Art. 59 und 64 EntG). Gemäss dem im Enteignungsgesetz vorgezeichneten
Verfahren können die Schätzungskommissionen allerdings nur vom Unternehmen,
das über das Enteignungsrecht verfügt oder noch damit ausgestattet
werden soll, um Eröffnung des Enteignungsverfahrens ersucht werden. Die
Privaten sind erst dann befugt, sich mit ihren Entschädigungsansprüchen
für formelle Enteignung direkt an die Schätzungskommission zu wenden,
wenn das Verfahren durch eine öffentliche Planauflage im Sinne von
Art. 30 EntG oder durch eine persönliche Anzeige gemäss Art. 33 f. EntG
bereits eingeleitet worden ist (BGE 114 Ib 145 mit Hinweisen auf frühere
Urteile). Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, so hat der Private,
der eine Entschädigungsforderung geltend machen will, beim Enteigner
die Eröffnung eines Enteignungsverfahrens zu verlangen oder - wenn das
Enteignungsrecht dem Unternehmen erst noch verliehen werden muss (Art. 3
Abs. 3 EntG) - bei der dazu zuständigen Behörde vorstellig zu werden
(BGE 112 Ib 126 E. 2).

    Im vorliegenden Fall machen die Beschwerdeführer indessen nicht
geltend, von einer formellen Enteignung betroffen zu sein. Sie behaupten
vielmehr, sie seien Opfer einer materiellen Enteignung, zu der das Verbot
des Wiederaufbaus ihres Stalles geführt habe.

    b) Über Entschädigungsansprüche aus materieller Enteignung haben die
Eidgenössischen Schätzungskommissionen nur zu entscheiden, wenn dies in
der Bundesgesetzgebung ausdrücklich vorgesehen ist, wie etwa in Art. 18
Abs. 2 und Art. 25 Abs. 3 des Bundesgesetzes über die Nationalstrassen
vom 8. März 1960, in Art. 44 Abs. 1 und 4 des Bundesgesetzes über
die Luftfahrt vom 21. Dezember 1948 sowie in Art. 18i des revidierten
Eisenbahngesetzes, vom 20. Dezember 1957 (BGE 114 Ib 146, 112 Ib 126
E. 2, 106 Ib 234). In der eidgenössischen Landwirtschaftsgesetzgebung,
auf die sich die Nichtbewilligung des Wiederaufbaus des Stalles stützte,
ist eine derartige Vorschrift nicht zu finden. Auch fehlt in der
Bundesgesetzgebung eine allgemeine - subsidiär anwendbare - Bestimmung,
welche die Zuständigkeit der Schätzungskommissionen zur Behandlung von
Begehren wie dem hier umstrittenen begründen würde. Die Eidgenössische
Schätzungskommission, Kreis 11, hat deshalb hier ihre Kompetenz zu
Recht verneint. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde, die sich gegen den
Nichteintretensentscheid richtet, muss daher abgewiesen werden.

    c) Allerdings stellt sich die Frage, ob die Schätzungskommission
die Sache nicht gemäss Art. 8 Abs. 1 VwVG an die zuständige Behörde
hätte weiterleiten sollen. Zwar finden nach Art. 2 Abs. 3 VwVG
nur die Artikel 20-24 dieses Gesetzes auf das Verfahren vor der
Schätzungskommission Anwendung. Das Bundesgericht hat jedoch anlässlich
der Revision des Enteignungsgesetzes im Jahre 1971 auch die Verordnung
für die eidgenössischen Schätzungskommissionen ersetzt und in Art. 3 neu
vorgesehen, dass für das Verfahren vor dem Präsidenten oder der Kommission
die Vorschriften des zweiten Abschnittes des Bundesgesetzes über das
Verwaltungsverfahren anwendbar seien. Wie dem auch sei, jedenfalls ist die
Streitsache im Rahmen des Verwaltungsgerichtsverfahrens ans Bundesgericht
gelangt, so dass sich - falls sich das Bundesgericht als zuständige
Instanz erweist - eine förmliche Übermittlung der Akten ohnehin erübrigt.

Erwägung 3

    3.- Zu prüfen bleibt somit, welche Behörde über das
Entschädigungsgesuch der Beschwerdeführer zu entscheiden hat.

    a) Die Schweizerische Eidgenossenschaft hat in ihren der
Schätzungskommission eingereichten Vernehmlassungen bestritten, dass eine
materielle Enteignung vorliege und ein Schaden in der angegebenen Höhe
entstanden sei. Diese Erklärungen gelten jedoch, sollte der Anspruch auf
dem Klageweg zu verfolgen sein, nicht als anfechtbare Verfügung (Art. 5
Abs. 3 VwVG).

    b) Nach Art. 116 lit. c OG werden, unter Vorbehalt von Art. 117
OG, Klagen in Streitigkeiten aus dem Verwaltungsrecht des Bundes über
ausservertragliche Entschädigungen vom Bundesgericht als einziger Instanz
beurteilt. Die dem vorliegenden Streitfall zugrundeliegende Weigerung
der Behörden, den Wiederaufbau des abgebrannten Kälbermaststalles zu
bewilligen, stützte sich auf Bundesverwaltungsrecht. Führt diese Weigerung
- wie die Beschwerdeführer behaupten - tatsächlich zu einer materiellen
Enteignung, so muss den Betroffenen eine Entschädigung geleistet werden,
die ausservertraglicher Natur ist. Von den in Art. 117 OG aufgezählten
Rechtsmitteln ist keines gegeben. Demnach ist das Bundesgericht zur
Behandlung der hier umstrittenen Entschädigungsansprüche zuständig
und hat die bei der Schätzungskommission eingereichte Klage als
verwaltungsrechtliche entgegenzunehmen (s.a. BGE 114 Ib 146).

    c) Eine solche Auslegung von Art. 116 OG drängt sich auch mit
Blick auf Art. 6 EMRK auf, welcher jedermann Anspruch darauf gibt,
dass seine Sache in billiger Weise öffentlich gehört wird, und zwar von
einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht,
das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen zu entscheiden
hat. Gemäss der autonomen Auslegung der Strassburger Organe stellen die -
nach schweizerischem Recht öffentlichrechtlichen - Streitigkeiten über die
Zulässigkeit der Enteignung und über die Höhe der Enteignungsentschädigung
ebenfalls "des contestations sur des droits et des obligations de caractère
civil" im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK dar (BGE 115 Ib 67 ff.; 112 Ib 178
E. 3a; 111 Ib 231 ff. E. 2e mit Hinweisen auf die entsprechenden Entscheide
des Europäischen Gerichtshofes). Übrigens hat das Bundesgericht schon vor
der Schaffung der EMRK und vor der Aufnahme von Art. 22ter BV in die
Bundesverfassung die Kantone verpflichtet, ein gerichtliches Verfahren
vorzusehen, in dem die von einer materiellen Enteignung Betroffenen ihre
Ansprüche geltend machen könnten (BGE 80 I 244, 81 I 347 ff.; vgl. auch BGE
101 Ib 283, 98 Ia 33). Dass hier die angebliche materielle Enteignung auf
eine von Bundesbehörden erlassene bundesrechtliche Massnahme zurückgeht
und kein kantonales Gericht zur Verfügung steht, kann am Anspruch auf
Zugang zum Richter offensichtlich nichts ändern.

Erwägung 4

    4.- Zusammenfassend ergibt sich, dass die gegen den
Nichteintretensentscheid der Schätzungskommission gerichtete
Verwaltungsgerichtsbeschwerde zwar abzuweisen, die seinerzeit erhobene
Klage indessen als verwaltungsrechtliche Klage im Sinne von Art. 116
OG entgegenzunehmen ist. Der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist als
Beklagten Gelegenheit zur Einreichung einer Klageantwort und insbesondere
zur Stellungnahme zum erst im bundesgerichtlichen Verfahren eingegangenen
Gutachten einzuräumen.