Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IB 378



115 Ib 378

51. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 25. August 1989 i.S. B. gegen Bundesamt für Polizeiwesen
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 1 und 12 Ziff. 2 lit. a EAÜ; Auslieferung zur Vollstreckung einer
Strafe, deren Vollzug im ersuchenden Staat bedingt aufgeschoben wurde.

    Grundlage der Auslieferung kann auch ein Haftbefehl bilden, der zur
Sicherung der Strafvollstreckung im Hinblick auf den allfälligen Widerruf
des im ausländischen Urteil zur Bewährung ausgesetzten Vollzugs der
Strafe erlassen worden ist. In einem solchen Fall wird die Auslieferung
mit Bezug auf die vorläufige Festnahme des Verfolgten zum Vollzug dieses
Haftbefehls unbedingt bewilligt, hinsichtlich der Vollstreckung der
Strafe dagegen nur unter der Suspensivbedingung des Widerrufs des im
ausländischen Urteil bedingt aufgeschobenen Strafvollzugs (E. 3a/bb).

Sachverhalt

    A.- Das Bundesamt für Polizeiwesen (BAP) bewilligte die Auslieferung
des B. an die Bundesrepublik Deutschland (BRD) zur Vollstreckung
der restlichen Freiheitsstrafe von 346 Tagen gemäss Urteil des
Schöffengerichtes Hildesheim vom 31. Mai 1985 sowie zur Verfolgung wegen
der ihm im Haftbefehl des Amtsgerichts Alfeld (Leine) vom 19. Dezember
1988 zur Last gelegten Straftaten.

    B. erhob gegen diesen Entscheid Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintreten kann. Es
bewilligt die Auslieferung unbedingt mit Bezug auf die vorläufige Festnahme
des B. zur Vollstreckung des Haftbefehls des Amtsgerichts Alfeld (Leine)
vom 5. September 1986 (der zur Sicherung des Vollzuges der Reststrafe
gemäss Urteil des Schöffengerichtes Hildesheim vom 31. Mai 1985 erlassen
wurde) sowie zur Verfolgung des B. wegen der ihm im Haftbefehl des
Amtsgerichts Alfeld (Leine) vom 19. Dezember 1988 zur Last gelegten
Straftaten. Hinsichtlich der Vollstreckung der restlichen Freiheitsstrafe
gemäss Urteil des Schöffengerichtes Hildesheim wird die Auslieferung unter
der Suspensivbedingung des Widerrufs des in diesem Urteil zur Bewährung
ausgesetzten Strafvollzuges bewilligt.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Mit dem angefochtenen Entscheid bewilligte das BAP die Auslieferung
des Beschwerdeführers an die BRD zur Vollstreckung der restlichen
Freiheitsstrafe von 346 Tagen gemäss Urteil des Schöffengerichtes
Hildesheim vom 31. Mai 1985 sowie zur Verfolgung der dem Beschwerdeführer
im Haftbefehl des Amtsgerichtes Alfeld (Leine) vom 19. Dezember 1988 zur
Last gelegten Straftaten.

    a) Gegen die Bewilligung der Auslieferung des Beschwerdeführers zur
Vollstreckung der Reststrafe wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
in erster Linie eingewendet, der bedingte Strafvollzug gemäss Urteil
des Schöffengerichtes Hildesheim vom 31. Mai 1985 sei nicht widerrufen
worden, weshalb die Voraussetzungen für die Auslieferung nicht gegeben
seien. Das Auslieferungsersuchen laute ausdrücklich auf "Sicherung
der Vollstreckung der aus dem Urteil des Schöffengerichtes Hildesheim
vom 31.5.1985 noch zu verbüssenden Freiheitsstrafe von 346 Tagen". Die
Auslieferung könne gemäss Art. 32 IRSG zur Strafverfolgung oder zum
Vollzug einer freiheitsbeschränkenden Sanktion bewilligt werden. Von einer
Sicherung im Sinne des gestellten Begehrens sei indessen keine Rede, so
dass schon nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes die Auslieferung nicht
zulässig sei. Nachdem bisher kein Widerruf des bedingten Strafvollzuges
erfolgt sei, bestehe keine Grundlage zur Sicherung der Vollstreckung der
zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von 346 Tagen.

    aa) Die Schweiz und die BRD sind aufgrund von Art. 1 EAÜ verpflichtet,
nach den Vorschriften des Europäischen Auslieferungsübereinkommens
einander die Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des
ersuchenden Staates wegen einer strafbaren Handlung verfolgt oder zur
Vollstreckung einer Strafe gesucht werden. Gemäss Art. 2 Ziff. 1 EAÜ wird
wegen Handlungen ausgeliefert, die sowohl nach dem Recht des ersuchenden
als auch nach demjenigen des ersuchten Staates mit einer Freiheitsstrafe
im Höchstmass von mindestens einem Jahr oder mit einer schwereren
Strafe bedroht sind. Ist im Hoheitsgebiet des ersuchenden Staates eine
Verurteilung zu einer Strafe erfolgt, so muss deren Mass mindestens vier
Monate betragen. Einem Auslieferungsersuchen sind nach Art. 12 Ziff. 2
lit. a EAÜ beizufügen: Die "Urschrift oder eine beglaubigte Abschrift
eines vollstreckbaren verurteilenden Erkenntnisses, eines Haftbefehls
oder jeder anderen, nach den Formvorschriften des ersuchenden Staates
ausgestellten Urkunde mit gleicher Rechtswirkung".

    bb) Die BRD verlangt in ihrem Ersuchen vom 3. Januar 1989 die
Auslieferung des Beschwerdeführers "zur Vollstreckung des Haftbefehls
des Amtsgerichts Alfeld (Leine) vom 5.9.1986", welcher "der Sicherung
der Vollstreckung der aus dem Urteil des Schöffengerichtes Hildesheim
vom 31.5.1985 noch zu verbüssenden Freiheitsstrafe von 346 Tagen
dient". In diesem dem Ersuchen beigefügten Haftbefehl wird ausgeführt, der
Beschwerdeführer sei durch rechtskräftiges Urteil des Schöffengerichtes
Hildesheim vom 31. Mai 1985 wegen fortgesetzten Betruges zu einer
Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Die Vollstreckung der
Strafe sei zur Bewährung ausgesetzt worden. Das Amtsgericht Hildesheim habe
mit Beschluss vom 31.5.1985 die Bewährungszeit auf 5 Jahre festgesetzt;
sie habe am 31.5.85 begonnen. Der Widerruf der Aussetzung komme in
Betracht, weil der Verurteilte untergetaucht sei und den Kontakt mit
seinem Bewährungshelfer abgebrochen habe. B. solle auch bereits neue
Straftaten begangen haben. Am 9. Juni 1986 solle er in Holzminden einen
Personenkraftwagen gemietet und diesen unterschlagen, und am 27. Juli 1986
in der Sportpension "Tyrol" in Kirchberg (Österreich) bei einem Einbruch
1000 Schilling erbeutet haben. Es bestehe "der Haftgrund der Flucht und
der Gefahr erheblich neuer Straftaten". Andere Massnahmen würden nicht
ausreichen, um sich der Person des Verurteilten zu versichern.

    Die Handlungen, derentwegen der Beschwerdeführer vom Schöffengericht
Hildesheim verurteilt wurde (fortgesetzter Betrug), sind auch nach
schweizerischem Recht mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmass von
mehr als einem Jahr bedroht (Art. 148 Abs. 1 StGB), und das Mass der
vom deutschen Gericht ausgesprochenen Strafe übersteigt das in Art. 2
Ziff. 1 EAÜ festgelegte Minimum. Die in dieser Vorschrift genannten
Voraussetzungen der Auslieferung sind somit erfüllt. Indessen trifft
es zu, dass nach den Akten zur Zeit noch kein Entscheid vorliegt,
wonach die Aussetzung auf Bewährung betreffend die vom Schöffengericht
Hildesheim am 31. Mai 1985 gegen den Beschwerdeführer ausgefällte Strafe
widerrufen worden ist. Das Urteil des Schöffengerichtes stellt daher
im gegenwärtigen Zeitpunkt noch kein "vollstreckbares verurteilendes
Erkenntnis" im Sinne von Art. 12 Ziff. 2 lit. a EAÜ dar. Bei dieser
Situation kann die Auslieferung zur Vollstreckung der Reststrafe aus dem
erwähnten Urteil nicht unbedingt bewilligt werden, sondern nur unter der
Suspensivbedingung des Widerrufs des vom Schöffengericht Hildesheim zur
Bewährung ausgesetzten Strafvollzuges. Dagegen ist es aufgrund von Art. 1
in Verbindung mit Art. 12 Ziff. 2 lit. a EAÜ zulässig, die Auslieferung
unbedingt zu bewilligen mit Bezug auf die vorläufige Festnahme des
Beschwerdeführers zur Vollstreckung des Haftbefehls des Amtsgerichts
Alfeld (Leine) vom 5. September 1986. Dieser Haftbefehl dient der
Sicherung der Vollstreckung der Strafe im Hinblick auf einen allfälligen
Widerruf des vom Schöffengericht Hildesheim bedingt aufgeschobenen
Strafvollzuges. In Art. 12 Ziff. 2 lit. a EAÜ wird als formelles
Erfordernis der Auslieferung die Vorlage eines "Haftbefehls oder jeder
anderen, nach den Formvorschriften des ersuchenden Staates ausgestellten
Urkunde mit gleicher Rechtswirkung" genannt. Aus dieser allgemeinen
Formulierung kann geschlossen werden, dass nicht nur ein Haftbefehl zwecks
Sicherung der Strafverfolgung Grundlage der Auslieferung bilden kann,
sondern auch ein Haftbefehl, der zur Sicherung der Strafvollstreckung
im Hinblick auf den allfälligen Widerruf des im ausländischen Urteil
zur Bewährung ausgesetzten Vollzugs der Strafe erlassen worden ist. Es
bestehen entgegen der in der Beschwerde vertretenen Ansicht keine Gründe
für die Annahme, dass das Verfahren in der BRD betreffend Widerruf des
bedingten Strafvollzuges "andere schwere Mängel" im Sinne von Art. 2
lit. d IRSG aufweise. Ebenfalls unzutreffend ist die Behauptung, die BRD
ziehe eine Begnadigung des Beschwerdeführers in Erwägung, so dass ein
Rechtsschutzinteresse an der Auslieferung fehle. Wie sich aus dem an den
Beschwerdeführer gerichteten Schreiben der Staatsanwaltschaft Hildesheim
vom 13. März 1989 ergibt, hat das Amtsgericht Peine mit Beschluss vom
9. Januar 1989 den Antrag des Beschwerdeführers auf Wiederaufnahme
des Verfahrens 12 Js 20779/83, welches mit dem hier in Frage stehenden
Urteil des Schöffengerichtes Hildesheim vom 31. Mai 1985 abgeschlossen
worden war, als unzulässig verworfen. Die Staatsanwaltschaft führt
in diesem Schreiben aus, sie habe die von B. gegen den Beschluss des
Amtsgerichts Peine erhobene Beschwerde vom 3. März 1989 dem Landgericht
Hildesheim zum Entscheid vorgelegt. Wenn im Beschwerdeverfahren der
Wiederaufnahmeantrag ebenfalls erfolglos bleiben sollte, würde im Rahmen
eines Gnadenverfahrens geprüft, ob dem Beschwerdeführer die Strafe aus
dem Verfahren 12 Js 20779/83 erlassen werden könne. Aus dieser Mitteilung
kann klarerweise nicht geschlossen werden, die BRD ziehe eine Begnadigung
des Beschwerdeführers in Erwägung, weshalb kein Rechtsschutzinteresse
an der Auslieferung bestehe. Vielmehr geht aus dem erwähnten Schreiben
der Staatsanwaltschaft Hildesheim vom 13. März 1989 deutlich hervor,
dass ein solches Interesse nach wie vor gegeben ist, hält doch die
Staatsanwaltschaft in dem Brief ausdrücklich fest, sie habe auf die gegen
die Auslieferung erhobenen Eingaben des Beschwerdeführers hin "die Sach-
und Rechtslage erneut überprüft, jedoch keine Anhaltspunkte dafür gefunden,
den hiesigen Auslieferungsantrag zurückzunehmen".