Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IA 97



115 Ia 97

18. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 14. April 1989 i.S. R.
gegen Generalprokurator und Obergericht des Kantons Bern (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; rechtliches Gehör; Aktenführung im Strafprozess.

    1. Ein Verstoss gegen die Aktenführungspflicht kann den Anspruch des
Angeschuldigten auf rechtliches Gehör beeinträchtigen (E. 4).

    2. Keine Verweigerung des rechtlichen Gehörs, falls der Richter
ohne Willkür in vorweggenommener Beweiswürdigung annehmen kann, die
aufgrund der übrigen Beweise gebildete Überzeugung werde durch das ihm
zwar bekannte, aber nicht aktenkundige, den Angeschuldigten entlastende
Ergebnis bestimmter Ermittlungen nicht geändert (E. 5b).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer macht schliesslich geltend, ein entlastendes
Indiz sei in den Akten gar nicht festgehalten worden. Wie er erst kurz
vor der zweitinstanzlichen Verhandlung erfahren habe, hätten Polizeibeamte
vergrösserte fotografische Aufnahmen mit seiner Maschine unter anderem dem
Velohändler W. gezeigt. Dieser habe dem Vernehmen nach den Polizeibeamten
gesagt, die abgebildete Person sei nicht der Beschwerdeführer. Diese
Tatsache bzw. Unterlassung sei in der Verhandlung des Obergerichtes
vergeblich gerügt worden. Das Nichtbeachten bzw. Nichterheben des
Ergebnisses der "Fotoaktion" sei willkürlich und verletze Art. 4 BV.

    a) Das Obergericht bringt in seiner Vernehmlassung vom 6. Februar
1989 vor, es habe von den Ausführungen der Verteidigung im Parteivortrag
Kenntnis genommen. Es wäre dem Beschwerdeführer freigestanden, eine
Vervollständigung der Beweisführung im Sinne von Art. 316 StrV/BE zu
beantragen, was er aber nicht getan habe. Dabei hätte er sich nicht an
die dort genannte Zehntagefrist halten müssen, wenn er dargelegt hätte,
dass er soeben erst von diesem Beweiselement Kenntnis erhalten habe.

    Da sich der Hinweis auf die zitierte Bestimmung im angefochtenen Urteil
nicht findet, wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, sich dazu
ergänzend zu äussern, was er mit Eingabe vom 27. Februar 1989 getan hat.

    b) Soweit der Beschwerdeführer in dieser Eingabe die Verletzung bzw.
willkürliche Anwendung kantonalrechtlicher Bestimmungen behauptet, kann
darauf nicht eingetreten werden. Er hätte die willkürliche Anwendung bzw.
Nichtberücksichtigung dieser Bestimmungen bereits in der staatsrechtlichen
Beschwerde rügen und begründen müssen.

    c) Es gehört zu den elementaren Grundsätzen des Strafprozessrechtes,
dass sämtliche im Rahmen des Verfahrens vorgenommenen Erhebungen
aktenkundig gemacht werden (vgl. NIKLAUS SCHMID, Einführung in das
zürcherische Strafverfahrensrecht, Skriptum Zürich 1988, S. 45; DETLEF
KRAUSS, Der Umfang der Strafakte, Basler Juristische Mitteilungen 1983,
S. 49 ff.; PETER NOLL, Strafprozessrecht, S. 18; NIKLAUS OBERHOLZER,
Grundzüge des St. Gallischen Strafprozessrechts, St. Gallen 1988,
S. 83). Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 4 BV ergibt
sich der Anspruch auf Akteneinsicht. Soll dieser effizient wahrgenommen
werden können, ist erforderlich, dass auch alles in den Akten festgehalten
wird, was zur Sache gehört. Das Akteneinsichtsrecht verblasst in seiner
Substanz, wo die zur Einsicht offenstehenden Unterlagen lückenhaft sind
(vgl. THOMAS COTTIER, Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 4 BV),
recht 1984, S. 123). Dafür bedarf es entgegen dem in der Vernehmlassung des
Obergerichtes Ausgeführten nicht eines speziellen Antrages der Parteien;
Art. 316 StrV/BE bezieht sich denn auch auf Beweisanträge der Parteien,
nicht aber auf Erhebungen, die von Amtes wegen vorgenommen wurden.

    d) Das Obergericht stellt in seiner Vernehmlassung eine "Fotoaktion"
nicht in Frage; zumindest räumt es eine solche indirekt ein. Da
der Generalprokurator auf Vernehmlassung verzichtete, ist deshalb im
vorliegenden Verfahren davon auszugehen, dass eine derartige Beweiserhebung
tatsächlich stattgefunden hat. An welchem genauen Datum sie erfolgte,
ist weder dem Urteil oder der Vernehmlassung des Obergerichts noch den
Eingaben des Beschwerdeführers zu entnehmen. Aus der Beschwerdeschrift
ist indessen eindeutig zu schliessen, dass der Vorwurf der mangelhaften
Aktenführung den "erstinstanzlichen Richter" (Richteramt Oberhasli) trifft,
und zwar nicht hinsichtlich des Fehlens der vergrösserten Fotos (diese
sind offensichtlich einakturiert), sondern bezüglich der fehlenden Aussage
des Velohändlers W. Auch aufgrund der Vorakten ergibt sich mit grösster
Wahrscheinlichkeit, dass die "Fotoaktion" zwischen der abgebrochenen
ersten Hauptverhandlung vom 23. Februar 1988 (am Schluss welcher eine
"abgekürzte Voruntersuchung" angeordnet wurde) und der Fortsetzung der
Hauptverhandlung vom 7. Juni 1988 erfolgte, sind doch auch die erwähnten
Vergrösserungen während dieser Voruntersuchung einakturiert worden.
Fest steht sodann, dass eine Notiz über die Befragung des Velohändlers,
von welcher der Beschwerdeführer erst kurz vor der obergerichtlichen
Verhandlung erfuhr, in den Akten fehlt. Der ersten Instanz kann daher
der Vorwurf nicht erspart bleiben, gegen die Aktenführungspflicht und
somit gegen Art. 4 BV verstossen zu haben. Dies führt indessen, wie noch
darzulegen ist, nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

Erwägung 5

    5.- a) Es lässt sich zunächst die Frage stellen, ob eine Verletzung des
rechtlichen Gehörs rechtsgenügend gerügt worden ist. Im staatsrechtlichen
Beschwerdeverfahren prüft das Bundesgericht nur klar und detailliert
erhobene Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 110 Ia 3/4 E. 2a).
Der Beschwerdeführer rügt - fast ausschliesslich appellatorisch - im
wesentlichen Willkür, begründet indessen den fraglichen Einwand unter
diesem Gesichtspunkt nicht genügend. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs
rügt er nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich. Unter diesen Umständen
wäre nach der erwähnten bundesgerichtlichen Praxis auf die Beschwerde
in diesem Punkt grundsätzlich nicht einzutreten. Nachdem aber ein Fehler
im erstinstanzlichen Verfahren bereits feststeht, sind in diesem Fall an
die Begründungspflicht nicht allzu strenge Anforderungen zu stellen und
deshalb der Passus, das Nichterheben des Ergebnisses der "Fotoaktion" sei
"mit Art. 4 BV nicht zu vereinbaren", sinngemäss als Rüge der Verletzung
des rechtlichen Gehörs entgegenzunehmen.

    b) Zu prüfen bleibt, ob der erstinstanzliche Verstoss gegen die
Aktenführungspflicht eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs in
einem Ausmasse darstellt, das die Aufhebung des angefochtenen Urteils
rechtfertigen würde. Das trifft nicht zu. Das Obergericht führte aus,
der Anwalt des Beschwerdeführers habe bezüglich der "Fotoaktion" folgendes
geltend gemacht:

    "Auch seien von Polizisten vergrösserte Fotos angefertigt worden,
welche
   u.a. einem Veloverkäufer vorgezeigt worden seien. Letzterer habe
   ebenfalls erklärt, der abgebildete Fahrer sei nicht R."

    Daran anschliessend kam es zum Schluss, diese Erläuterungen
(u.a. Vorzeigen der Fotos und Stellungnahme des Velohändlers) änderten
"nichts an der Unglaubwürdigkeit der vom Angeschuldigten erzählten
Geschichte". Das bedeutet nichts anderes, als dass das Obergericht zum
Ausdruck brachte, es wäre selbst bei Aktenkundigkeit der Erhebungen zu
keinem anderen als dem genannten Beweisergebnis gelangt. Dieser Schluss
ist zulässig, denn der Richter kann das Beweisverfahren schliessen, wenn
er aufgrund bereits abgenommener Beweise seine Überzeugung gebildet hat
und er ohne Willkür in vorweggenommener Beweiswürdigung annehmen kann,
dass diese seine Überzeugung durch weitere Beweiserhebungen nicht geändert
würde (BGE 103 Ia 491 mit Hinweisen; 103 IV 300 E. 1a). Inwiefern dieser
in antizipierter Beweiswürdigung vom Obergericht getroffene Schluss
willkürlich sein könnte, wird nicht dargelegt. Er steht im übrigen in
Einklang mit Art. 317 Abs. 2 StrV/BE, wonach die Strafkammer die ihr
notwendig erscheinende Vervollständigung der Beweisaufnahme anordnen kann,
von Amtes wegen aber dazu nicht verpflichtet ist. Als Verweigerung des
rechtlichen Gehörs kann die unterlassene Pflicht, etwas aktenkundig
zu machen, aber nicht anders behandelt werden als der Verzicht auf
Durchführung zusätzlicher Abklärungen. Die Beschwerde ist demzufolge in
diesem Punkt als unbegründet abzuweisen.