Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IA 85



115 Ia 85

15. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
31. Mai 1989 i.S. H. und Mitbeteiligte gegen Gemeinde Pontresina und
Regierung des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; Rechtsschutz des Grundeigentümers bei der Revision von
Nutzungsplänen.

    Bei der Totalrevision eines Nutzungsplanes darf ein Grundeigentümer
verlangen, dass die seine Parzellen betreffenden Anordnungen auf ihre
materielle Verfassungsmässigkeit überprüft werden. Dieses Recht besitzt
er auch, wenn die bisherige Ordnung beibehalten wird.

Sachverhalt

    A.- Die Gemeindeversammlung von Pontresina beschloss am 30.
April 1975 einen Strassenplan. Dieser sieht ab der Quartierstrasse
"Via Muragls sur" eine Stichstrasse ("Via Godin") über eine
Parzelle des H. bzw. jetzt der Erbengemeinschaft W. vor, um die
hinterliegenden Parzellen zu erschliessen. Am 21. März 1988 beschloss die
Gemeindeversammlung von Pontresina eine Totalrevision des Baugesetzes und
des Zonenplanes. Gleichzeitig wurde der Strassenplan total revidiert. Im
Rahmen dieser Ortsplanungsrevision hatte H. angeregt, die "Via Godin"
aus dem Strassenplan herauszunehmen. Die Gemeindeversammlung entsprach
diesem Begehren nicht, sondern übernahm die "Via Godin" als sogenannte
"projektierte" Erschliessungsstrasse unverändert in den neuen Strassenplan
vom 21. März 1988. Gegen diesen Gemeindeversammlungsbeschluss erhoben
H., die Erbengemeinschaft W. sowie die Geschwister G. Beschwerde an die
Regierung des Kantons Graubünden.

    Diese genehmigte am 5. Dezember 1988 den Strassenplan und wies
die dagegen gerichteten Beschwerden ab. Dies wurde im wesentlichen
damit begründet, dass das von der Gemeinde verabschiedete Konzept zur
verkehrsmässigen Erschliessung des fraglichen Gebiets durch die jüngste
Ortsplanungsrevision gar keine Änderung erfahren habe. Die Beschwerdeführer
hätten somit keinen Anspruch auf eine volle Überprüfung des Strassenplanes.

    Gegen diesen Entscheid haben einerseits H. bzw. die Erbengemeinschaft
W. und andererseits die Geschwister G. staatsrechtliche Beschwerde
eingereicht. Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Eine Planänderung hat formelle und materielle Aspekte.
Vorliegend beklagen sich die Beschwerdeführer nicht hinsichtlich des
Verfahrens. Es geht ihnen weder um das rechtliche Gehör bei unveränderter
Übernahme bisheriger Planinhalte (BGE 104 Ia 67 f.; ARTHUR HAEFLIGER,
Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, Bern 1985, S. 131), noch um
einen individuellen Anspruch auf Auslösung eines Planänderungsverfahrens,
d. h. das Recht eines Grundeigentümers, durch sein Begehren die Behörde
zu verpflichten, einen Planentwurf zu erarbeiten, diesen öffentlich
aufzulegen usw., also diejenigen Handlungen vorzunehmen, die insgesamt
das Nutzungsplanverfahren ausmachen ZBl 81/1980, S. 548; JÜRG WISSMANN,
Das Nutzungsplanverfahren nach st. gallischem Recht, Diss. Zürich 1988,
S. 48 f., 82 ff.). Die Gemeinde hat das Verfahren von sich aus, d. h. von
Amtes wegen, eröffnet und ebenso auf den ganzen Strassenplan, ja die
Ortsplanung überhaupt, ausgedehnt. Von Anfang an lag eine Vorlage für
eine Totalrevision auf. Ob die Gemeinde zu einer gesamthaften Revision
raumplanungsrechtlich verpflichtet gewesen ist (Art. 35 Abs. 1 lit. b RPG)
oder nicht, wie die Regierung meint, spielt dabei keine Rolle. Streitig
ist nur der Planinhalt, d. h. die Plananordnungen, die Ausdruck der
raumplanerischen Ziele und Massnahmen sind. Freilich steht der Planinhalt
ungewohnt zur Debatte: Die Grundeigentümer wehren sich hier nicht aus
Gründen der Rechtssicherheit oder des Vertrauensschutzes gegen eine
Planänderung (BGE 114 Ia 33 f.), sondern wollen diese herbeiführen.

    b) aa) Ist wie hier ohnehin ein Verfahren auf Totalrevision eines
Nutzungsplanes im Gange, so darf der Grundeigentümer jedenfalls im
Rahmen der Berufung auf Art. 4 BV verlangen, dass die seine Parzelle
betreffenden Anordnungen im Hinblick auf die gegenwärtigen Verhältnisse
auf ihre materielle Verfassungsmässigkeit überprüft werden. Dieses Recht
besitzt er auch, wenn er schon bisher derselben Ordnung unterworfen war,
die jetzt (formell) einfach bestätigt, also beibehalten werden soll,
und - entgegen der Auffassung der Regierung - sogar dann, wenn er seine
Einwände schon im seinerzeitigen Planfestsetzungsverfahren hätte erheben
können oder erhoben hat (BGE 99 Ia 714 f. E. 4; ZBl 81/1980, S. 548 mit
Verweisungen auf die bereits erwähnte gleichlautende Rechtsprechung zu
den Prozessvoraussetzungen und zum rechtlichen Gehör in BGE 92 I 282
f. E. 2 und 104 Ia 67 f.).

    bb) Diese Prüfung der Verfassungsmässigkeit setzt nicht voraus, dass
die Verhältnisse sich erheblich geändert haben. Trifft dies jedoch zu,
so muss zwar der Nutzungsplan angepasst werden (Art. 21 Abs. 2 RPG; BGE
112 Ia 273 E. 3c), so lange keine Überwiegenden Rechtssicherheitsinteressen
entgegenstehen (BGE 114 Ia 33 f.; EJPD/BRP, Erläuterungen zum Bundesgesetz
über die Raumplanung, Bern 1981, S. 268 f.), Wenn aber die Gemeinde
ihre Ortsplanung ohnehin revidiert, gilt diese Voraussetzung nicht
als besondere, zusätzliche, spezifische Schranke. Vielmehr ist "ohne
Rücksicht auf den früheren (Zonen-)Plan" (BGE 99 Ia 715) wie bei einer
erstmaligen oder Neuplanung zu entscheiden. Dies heisst durchaus,
dass die dort gebotene Abstimmung und Abwägung (Art. 1 Abs. 1 Satz 2
und Art. 2 Abs. 1 RPG; BGE 113 Ib 230 f. E. 2c) wirklich umfassend
vorgenommen wird, Damit ist eingeschlossen, dass die gegenwärtigen
Verhältnisse, samt der Änderungen seit dem letzten Planbeschluss,
berücksichtigt werden (BGE 99 Ia 714 f.). Dies ist erneut Ausdruck des
vom Bundesgericht mehrfach in verfahrensrechtlicher und inhaltlicher
Richtung unterstrichenen Prinzips, dass die Sicherung eines wirksamen
verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes eine umfassende Prüfung
voraussetzt (BGE 104 Ia 184 f. E. c/bb; 107 Ia 91 f.). Anders entscheiden
hiesse den Unterschied zwischen einer Gesamtrevision und einer erstmaligen
Planung überschätzen: Auch ein "erstmaliger" Planerlass ergeht nicht im
planerischen Niemandsland; schon vorher gilt von Bundesrechts wegen eine
minimale Nutzungsordnung (Art. 36 Abs. 2 und 3 und Art. 24 RPG). Ferner ist
zu bedenken, dass, wenn es sich wie hier um einen Strassenplan handelt,
die Erschliessung Folge der Zonenplanung ist (Art. 15 lit. b und Art. 19
RPG). Werden Zonenplanänderungen vorgesehen, bewirken diese potentiell
immer, dass auch der zugehörige Erschliessungsplan in Frage gestellt
wird. Solche Impulse können von Zonenplanänderungen in ganz anderen
Gemeindeteilen ausgehen, weil sich die Gemeinde an ein konsequentes
und rechtsgleich anzuwendendes Konzept halten muss. Die Streichung
von Erschliessungsstrassen an einem Ort kann aus Konsequenzgründen die
gleiche Massnahme in einer anderen Gegend, wo an sich zonenplanerisch keine
Änderung vorgesehen ist, nach sich ziehen. Schliesslich kann der Entscheid,
gegenüber dem bisherigen Plan nichts zu ändern, auch eine zusätzliche
Belastung bedeuten, gerade weil sich die Verhältnisse u.U. geändert haben
oder schon nur deshalb, weil der Neuerlass des Planes seinen Inhalt wieder
auf Jahre hinaus bekräftigt und Änderungen zumindest tatsächlich erschwert.

    cc) Die Regierung wendet ein, sie - und damit im Ergebnis auch die
Gemeinde - zu einer derart umfassenden Prüfung zu verpflichten, laufe
dem Gebot der Übersichtlichkeit und der Lesbarkeit der Pläne und dem
Grundsatz der Rechtssicherheit diametral zuwider. Gemeinden, in denen
sich Teilrevisionen aufdrängten, würden sich davor hüten, gerade eine
neue Plangrundlage für die gesamte Gemeinde zu schaffen.

    Dem ist entgegenzuhalten, dass Teilrevisionen nicht beliebig
weit oder eng angeordnet werden dürfen. Das Gebot der umfassenden
Abstimmung und Abwägung verlangt, dass sie so weit gezogen werden, dass
sie alle wesentlichen Gesichtspunkte umfassen. Sodann schliesst eine
inhaltliche Überprüfung nicht aus, dass solche erneute, wiederholende
Entscheidungsverfahren und Entscheide kurz gehalten werden. Man darf in
verfahrensökonomischer Weise frühere materielle Überlegungen übernehmen
und darauf verweisen. Im übrigen gerät, wie das Bundesgericht schon
früher erklärt hat, keineswegs das gesamte Plangefüge aus den Fugen,
wenn die Auswirkungen eines Nutzungsplanes auf einzelne Grundstücke
als verfassungswidrig anerkannt werden (BGE 107 Ia 92). Weiter sind die
Übersichtlichkeit und die Lesbarkeit der Pläne nicht so wichtig, dass
deswegen der Grundrechtsschutz einfach verweigert werden darf.

    c) Damit braucht auf die Auseinandersetzung darüber, ob sich die
Verhältnisse seit 1975/1976 geändert haben, nicht eingegangen zu werden.