Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IA 5



115 Ia 5

2. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
1. März 1989 i.S. P. gegen Gemeinde Paspels und Verwaltungsgericht des
Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; Kognition im kantonalen Beschwerdeverfahren; formelle
Rechtsverweigerung.

    1. Die in BGE 112 Ia 121 E. 3 dargelegte Praxis zur Legitimation im
Bereich des Raumplanungsrechtes (Art. 33 RPG) ist auch auf die Frage der
Kognition anwendbar (E. 2c).

    2. Eine Behörde begeht eine formelle Rechtsverweigerung, wenn sie
sich mit einer blossen Willkürprüfung begnügt, obwohl ihr umfassende
Kognition zukommt (E. 2b).

    3. Bei freier Kognition kann unter Umständen eine zurückhaltende
Überprüfung geboten sein, sofern der unteren Instanz ein gewisser
Beurteilungsspielraum zukommt. Eine Rechtsmittelbehörde verletzt jedoch
Art. 4 BV, wenn sie in einem solchen Fall eine blosse Willkürprüfung
vornimmt (E. 2d)

Sachverhalt

    A.- Die Baugesellschaft P. erhielt vom Gemeinderat Paspels die
Baubewilligung für zwei Einfamilienhäuser in der Wohnzone der Gemeinde
Paspels. Als die beiden Gebäude schon im Rohbau fertiggestellt waren,
reichte die Baugesellschaft P. das Gesuch für den zusätzlichen Einbau je
einer Einzimmerwohnung ein. Der Gemeinderat von Paspels verweigerte die
Bewilligung mit Entscheid vom 25. März 1987. Er führte unter anderem dazu
aus, nach Art. 45 Abs. 2 des Baugesetzes der Gemeinde Paspels vom 4. Juli
1975 (BauG) dürften Wohnräume nur in freistehenden Untergeschossen erstellt
werden; die beiden Einzimmerwohnungen seien jedoch unter dem gewachsenen
Boden in einem Erdeinschnitt vorgesehen, weshalb sie nicht bewilligt
werden könnten. Ein von der Baugesellschaft P. erhobener Rekurs wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden am 31. August 1988 ab. Die
Baugesellschaft P. führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung
von Art. 4 BV. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut

Auszug aus den Erwägungen:

                  aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Die Beschwerdeführer rügen in erster Linie, das
Verwaltungsgericht habe in willkürlicher Weise eine Beschränkung seiner
Überprüfungsbefugnis vorgenommen und die Anwendung und Auslegung von
Art. 45 Abs. 2 BauG lediglich unter Willkürgesichtspunkten bzw. unter
dem Blickwinkel der Ermessensüberschreitung und des Ermessensmissbrauchs
geprüft. Es liege somit eine formelle Rechtsverweigerung vor.

    b) Eine Behörde begeht eine formelle Rechtsverweigerung, wenn sie
sich mit einer blossen Willkürprüfung begnügt, obwohl ihr eine umfassende
Kognition zukommt. Indessen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass
die Rechtsmittelbehörde, die nach der gesetzlichen Ordnung mit freier
Prüfung zu entscheiden hat, ihre Kognition ohne Verletzung von Art. 4 BV
einschränken kann, soweit die Natur der Streitsache einer unbeschränkten
Nachprüfung der angefochtenen Verfügung entgegensteht (BGE 106 Ia 2 und
71; 101 Ia 57; vgl. auch 107 Ib 121).

    Im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. 45 Abs. 2 BauG hält das
Verwaltungsgericht zur Kognition fest, auf dem Gebiet des öffentlichen
Baurechts stehe den bündnerischen Gemeinden ein weiter Spielraum freier
Gestaltung und damit eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit
zu. Dies gelte auch für die Frage, ob sich Wohnraum im Erdeinschnitt
befinde oder ob von einem freistehenden Untergeschoss gesprochen werden
könne. Entsprechend dürfe es einen kommunalen Entscheid nur dann aufheben,
wenn die Gemeindebehörde einen Missbrauch oder eine Überschreitung ihres
Ermessensspielraumes begangen habe. In der Folge prüfte es die von der
Gemeinde vorgenommene Anwendung des Art. 45 Abs. 2 BauG, insbesondere
die Auslegung des Begriffes Erdeinschnitt, lediglich auf Willkür hin.

    c) Die Beschwerdeführer machen geltend, eine solche Beschränkung
der Überprüfungsbefugnis widerspreche Art. 33 des Bundesgesetzes über
die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (RPG). Nach dieser Bestimmung hat das
kantonale Recht wenigstens ein Rechtsmittel gegen Verfügungen (und auch
Nutzungspläne) vorzusehen, die sich auf das RPG und seine kantonalen und
eidgenössischen Ausführungsbestimmungen stützen. Das kantonale Recht hat
dabei sowohl die Legitimation mindestens im gleichen Umfang wie für die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht (Art. 33 Abs. 3 lit. a) als
auch die volle Überprüfung durch wenigstens eine Beschwerdebehörde (Art. 33
Abs. 3 lit. b) zu gewährleisten. Das Bundesgericht hat im Zusammenhang
mit der Legitimation eines Nachbarn, der eine baupolizeiliche Bewilligung
anfechten wollte, die Anwendung von Art. 33 Abs. 3 RPG verneint. Es kam
zum Schluss, kantonale Ausführungsbestimmungen im Sinne von Art. 33 RPG
seien nur solche, die zur Hauptsache raumplanerische Züge tragen, indem
sie der zweckmässigen Nutzung des Bodens und der geordneten Besiedlung
des Landes dienten. Dies sei für kommunale und kantonale Bauvorschriften
in der Regel nicht der Fall. Gehe es weder um die Baubewilligungspflicht
gemäss Art. 22 Abs. 1 RPG noch um die Mindestvoraussetzungen für die
Baubewilligung gemäss Art. 22 Abs. 2 RPG, seien kommunale und kantonale
Bauvorschriften nicht Ausführungsrecht zur Grundsatzgesetzgebung des
Bundes. In diesen Fällen habe das kantonale Recht nicht bereits von
Bundesrechts wegen die Legitimation im gleichen Umfang wie für die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zu gewährleisten,
d.h. Art. 33 Abs. 3 lit. a RPG sei in diesen Fällen nicht anwendbar
(BGE 112 Ia 121 E. 3). Da Art. 33 RPG Legitimation und Kognition gleich
behandelt, ist die dargelegte Praxis des Bundesgerichtes zur Legitimation
zwingend auch auf die Frage der Kognition anwendbar.

    Bei Art. 45 Abs. 2 BauG geht es ausschliesslich um die Zulässigkeit
von Wohn- und Arbeitsräumen im Erdeinschnitt bzw. in freistehenden
Untergeschossen. Es steht weder die Baubewilligungspflicht als solche
noch das Problem der Mindestvoraussetzungen für die Bewilligung in
Frage. Demnach handelt es sich um kommunales Baurecht, das nicht zu den
Ausführungsbestimmungen im Sinne von Art. 33 RPG gehört. Diese Bestimmung
findet daher auf den vorliegenden Fall keine Anwendung.

    d) Zu prüfen ist indessen, ob das Verwaltungsgericht die im
kantonalen Recht vorgesehene Überprüfungsbefugnis beachtet hat. Gemäss
Art. 53 lit. a des Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kanton
Graubünden (VGG) kann mit dem Rekurs jede Rechtsverletzung einschliesslich
Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens gerügt werden. Hinsichtlich
der Rechtskontrolle steht dem Gericht demnach freie Kognition zu. Wie oben
dargelegt, hat das Verwaltungsgericht die Auslegung von Art. 45 Abs. 2
BauG jedoch nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür geprüft. Darin
liegt eine unzulässige Beschränkung der gemäss Art. 53 lit. a VGG
vorgesehenen Kognition bei Rechtsfragen im Rekursverfahren. Zwar ist dem
Verwaltungsgericht insofern zuzustimmen, als bei der Auslegung unbestimmter
Gesetzesbegriffe, insbesondere wenn es sich - wie hier - um kommunales
Recht handelt, unter Umständen eine zurückhaltende Überprüfung geboten sein
kann, sofern der unteren Instanz ein gewisser Beurteilungsspielraum zusteht
(vgl. dazu BGE 108 Ib 203 E. 3b; 107 Ib 121; 104 Ib 112). Ob vorliegend
ein solcher Beurteilungsspielraum gegeben ist, kann offengelassen
werden. Selbst wenn das zutreffen sollte, hiesse dies nicht, dass das
Verwaltungsgericht seine Kognition im dargelegten Sinne beschränken darf.
Die von der Rechtsprechung anerkannte Zurückhaltung bedeutet nicht, dass
nur noch unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür geprüft werden
darf; selbst in einem solchen Fall bleibt grundsätzlich die Pflicht zur
freien Überprüfung bestehen, wenn auch in einem etwas zurückhaltenderen
Rahmen. Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Kognitionsbeschränkung
stellt daher eine formelle Rechtsverweigerung dar.