Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IA 321



115 Ia 321

49. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 26. Oktober 1989 i.S. X.
gegen A. und B. AG sowie Staatsanwaltschaft und Kassationsgericht des
Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    1. Art. 4, 58 Abs. 1, Art. 64bis Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK;
Art. 94 OG; Nichtbeachten einer aufschiebenden Wirkung, Folgen.

    Entscheidet eine kantonale Behörde in einem Verfahren, in welchem das
Bundesgericht einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung (vorsorglich
oder superprovisorisch) gewährt hat, so begeht sie eine formelle
Rechtsverweigerung, was in jedem Fall zur Aufhebung des angefochtenen
Entscheids führt (E. 3c).

    2. Art. 70 ff. StGB; Ruhen der Verfolgungsverjährung.

    Während der Behandlung kassatorischer Rechtsmittel gegen ein in
formelle Rechtskraft erwachsenes verurteilendes Erkenntnis läuft die
Verfolgungsverjährung nicht weiter; in dieser Zeit kann deshalb die
absolute Verjährung nicht eintreten (Bestätigung der Rechtsprechung;
E. 3e).

Sachverhalt

    A.- Das Bezirksgericht Zürich verurteilte X. am 17. April 1986 wegen
wiederholter Sachbeschädigung und wiederholter und fortgesetzter versuchter
Nötigung zu 6 Monaten Gefängnis unbedingt. Am 6. April 1987 bestätigte
das Obergericht diesen Schuldspruch zur Hauptsache und bestrafte den
Beschwerdeführer mit 3 Monaten Gefängnis, wiederum unter Verweigerung
des bedingten Strafvollzugs.

    Gegen dieses Urteil erhob X. sowohl kantonale als auch eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde. Am 30. Juni 1988 reichte er beim Kassationsgericht
ein Ablehnungsbegehren gegen sämtliche ordentlichen Mitglieder und
Ersatzmitglieder des Kassationsgerichts ein. Das Büro des Zürcher
Kantonsrats beschloss am 8. September 1988, auf das Begehren nicht
einzutreten. Dagegen erhob X. am 12. Oktober 1988 staatsrechtliche
Beschwerde. Gleichzeitig stellte er ein Gesuch um aufschiebende Wirkung,
dem das Bundesgericht am 24. Oktober 1988 entsprach. Am 7. November 1988
urteilte das Kassationsgericht in der Sache.

    X. führt staatsrechtliche Beschwerde und beantragt, der Entscheid
des Kassationsgerichts vom 7. November 1988 sei aufzuheben.

    Während die Staatsanwaltschaft auf eine Vernehmlassung verzichtete,
beantragen das Kassationsgericht, die A. sowie die B. AG sinngemäss
Abweisung der Beschwerde.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Der Beschwerdeführer macht geltend, das Kassationsgericht habe
am 7. November 1988 seinen Entscheid gefällt, obwohl das Bundesgericht
einer staatsrechtlichen Beschwerde in dieser Sache aufschiebende Wirkung
gewährt habe. Gemäss einem Urteil des Bundesgerichts vom 13. April
1983 hätte das Kassationsgericht bis zum Erlass einer gegenteiligen
Verfügung des Bundesgerichts nichts mehr unternehmen und insbesondere
kein Urteil fällen dürfen. Indem das Kassationsgericht trotzdem in der
Sache entschieden habe, habe es Art. 4, 58 Abs. 1 und Art. 114 BV sowie
Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt.

    b) Die Organisation der Rechtspflege und des gerichtlichen
Verfahrens ist grundsätzlich Sache der Kantone (Art. 64 Abs. 3 und
Art. 64bis Abs. 2 BV). Dazu gehört auch die Umschreibung der Ausstands-
und Ablehnungsgründe. Indessen ergeben sich aus der bundesrechtlichen
Garantie des verfassungsmässigen Richters und aus Art. 6 Ziff. 1
EMRK gewisse Minimalanforderungen an das kantonale Verfahrensrecht,
insbesondere ein Anspruch auf Beurteilung durch einen unabhängigen und
nach den einschlägigen Gesetzen zur Behandlung einer Sache zuständigen
Richter (BGE 105 Ia 159 E. 3, 174 f. E. 3a, mit Hinweisen).

    c) Vorliegend stellt sich die Frage, ob das Kassationsgericht
in der Sache hätte entscheiden dürfen, nachdem der Präsident
der I. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts mit
superprovisorischer Verfügung am 24. Oktober 1988 die aufschiebende
Wirkung angeordnet hatte. Die Zuständigkeit des Abteilungspräsidenten
zum Erlass einer solchen Verfügung ergibt sich aus Art. 94 OG. Als
einstweilige oder vorsorgliche Verfügung wird diejenige bezeichnet, die
nach Anhörung der Gegenpartei zu einem entsprechenden Gesuch erlassen wird;
sofort nach Eingang des Begehrens können mit einer superprovisorischen
Verfügung Anordnungen getroffen werden, die bis zum Entscheid über die
vorsorgliche Verfügung gelten (vgl. BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege,
S. 398). Hinsichtlich der Verbindlichkeit für die kantonalen Instanzen
stehen sich die beiden Arten provisorischer Verfügungen gleich (nicht
veröffentlichtes Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
13. April 1983 i.S. Näf c. Gerber). Das Kassationsgericht bringt zu
Recht vor, dass im neuen Formular, welches im vorliegenden Verfahren
verwendet wurde, von der Erhaltung des bestehenden Zustands nicht
mehr die Rede ist. Dieser Textteil wurde aber weggelassen, weil er als
ungerechtfertigte Einschränkung der Wirkung einer superprovisorischen
Verfügung aufgefasst worden ist. Gemäss Art. 94 OG können diejenigen
vorsorglichen Verfügungen getroffen werden, die erforderlich sind, um
den bestehenden Zustand zu erhalten oder bedrohte rechtliche Interessen
einstweilen sicherzustellen. Die neue Formulierung wurde gewählt,
um Vollziehungsvorkehren - bis zur entsprechenden Präzisierung in der
vorsorglichen Verfügung - in beiden Richtungen hin zu untersagen.

    Entscheidet eine kantonale Behörde, obwohl ihre rechtmässige
Zusammensetzung und Unvoreingenommenheit vor Bundesgericht streitig
und der entsprechenden Beschwerde (vorsorglich oder superprovisorisch)
aufschiebende Wirkung beigelegt worden ist, so begeht sie eine formelle
Rechtsverweigerung. Ein solches Verhalten stellt einen klaren Verstoss
gegen die geltende Rechtsmittelordnung dar, wonach eine untere Instanz
verbindliche Anordnungen einer übergeordneten zu befolgen hat; auch
untergräbt es das Vertrauen des Bürgers in ein rechtsstaatliches
Verfahren. Deshalb muss eine solche formelle Rechtsverweigerung zur
Aufhebung des angefochtenen Entscheids führen, unbekümmert darum,
ob dieser in der Folge anders ausfallen wird oder nicht (vgl. BGE 103
Ia 16). Sonst würde es letztlich den kantonalen Behörden überlassen,
die Erfolgsaussichten einer Beschwerde betreffend Ausstand abzuschätzen
und sich gegebenenfalls über eine superprovisorische oder vorsorgliche
Verfügung hinwegzusetzen. In Fällen, in denen das Bundesgericht in
der Folge eine Beschwerde entgegen der Annahme der kantonalen Behörde
gutheissen würde, könnte dies eine untragbare Verschlechterung des
Rechtsschutzes des Beschwerdeführers bewirken. Selbst wenn wie vorliegend
das Beschwerdeverfahren, in dessen Rahmen die superprovisorische
Verfügung ergangen war, für den Beschwerdeführer negativ endete und
man sich fragen kann, ob der Beschwerdeführer bei dieser Sachlage noch
ein schützenswertes Interesse an der von ihm erhobenen Rüge hat, ist
der angefochtene Entscheid aufzuheben. Diese Lösung ergibt sich aus der
formellen Natur der formellen Rechtsverweigerung (vgl. WALTER KÄLIN, Das
Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, S. 245 f.). Ebenfalls dafür
spricht die vorerwähnte grundsätzliche Bedeutung einer superprovisorischen
Verfügung und deren Tragweite in anderen Bereichen wie z.B. in Bausachen.

    d) Aufgrund der Verfügung des Präsidenten der I. öffentlichrechtlichen
Abteilung vom 24. Oktober 1988 hätte das hängige Verfahren nicht
weitergeführt werden dürfen. Die Entscheidfällung des Kassationsgerichts
vom 7. November 1988 stellt somit eine formelle Rechtsverweigerung dar,
die zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt.

    e) Im übrigen ist darauf hinzuweisen, dass eine kantonale Instanz nach
Eingang einer superprovisorischen Verfügung des Bundesgerichts nötigenfalls
ein Gesuch um Aufhebung oder Abänderung der Verfügung stellen kann,
wenn sachliche Gründe dafür sprechen. Denn eine derartige Verfügung ist
jederzeit abänderbar und das Bundesgericht wird, wenn z.B. die Verschiebung
einer Verhandlung mit grossen Nachteilen verbunden wäre oder der Eintritt
der Verjährung droht, solchen Gesichtspunkten Rechnung tragen müssen.

    Während der Behandlung kassatorischer Rechtsmittel gegen ein
verurteilendes Erkenntnis läuft die Verfolgungsverjährung nicht
weiter, wenn dieses wie hier in formelle Rechtskraft erwachsen ist
(BGE 111 IV 90 f. E. a und b mit Hinweisen). Deshalb ist in casu
die Verjährungsfrist sowohl während des Verfahrens vor dem Zürcher
Kassationsgericht wie auch während des vorliegenden staatsrechtlichen
Beschwerdeverfahrens stillgestanden. Die Zeit des Ruhens ist bei der
Berechnung der Verjährung in Abzug zu bringen (THORMANN/VON OVERBECK,
Schweizerisches Strafgesetzbuch, Art. 72 N 1). Die Verzögerung, die sich
durch die Gutheissung der staatsrechtlichen Beschwerde ergibt, kann sich
also verjährungsrechtlich nicht zugunsten des Beschwerdeführers auswirken.
Insbesondere droht auch keine absolute Verjährung gemäss Art. 72 Ziff. 2
Abs. 2 StGB, da diese Bestimmung nur die Verjährungsverlängerung durch
verjährungsunterbrechende Handlungen unterbindet (vgl. BGE 90 IV 65). Damit
erweisen sich die Befürchtungen der Beschwerdegegner als unbegründet,
dem Beschwerdeführer gelinge es mit seiner Taktik, die absolute Verjährung
herbeizuführen.