Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IA 309



115 Ia 309

46. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 30. Juni 1989 i.S. S. gegen Staatsanwaltschaft und Präsidium des
Landgerichts des Kantons Uri (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 6 Ziff. 2 EMRK; Verweigerung einer Entschädigung bei Einstellung
des Strafverfahrens.

    Kostenauflage oder Verweigerung einer Entschädigung bei
nichtverurteilendem Verfahrensabschluss verletzen die Unschuldsvermutung
nicht nur dann, wenn der Text der Entscheidung eine direkte strafrechtliche
Missbilligung enthält, sondern sind vielmehr auch dann unzulässig,
wenn sich die strafrechtliche Missbilligung sonstwie aus dem Text der
Entscheidung ergibt (E. 1).

Sachverhalt

    A.- Mit Strafverfügung vom 22. Juli 1985 auferlegte die
Polizeidirektion Uri S. wegen Führens eines mit 500 kg überladenen
Lieferwagens eine Busse von Fr. 160.--. Einen von S. gegen diese
Strafverfügung erhobenen Rekurs wies die Staatsanwaltschaft Uri
am 11. September 1985 ab. Gegen diesen Entscheid legte S. bei der
Staatsanwaltschaft Einsprache ein. In der Folge stellte diese mit Verfügung
vom 31. August 1988 das Strafverfahren ein, überband die Verfahrenskosten
dem Staat und sprach S. eine Entschädigung von Fr. 200.-- zu.

    Gegen diesen Entscheid rekurrierte S. an das Präsidium des Landgerichts
Uri mit dem Begehren, die Einstellungsverfügung sei hinsichtlich der
Entschädigung aufzuheben und ihm eine Entschädigung von Fr. 890.--
zuzusprechen. Mit Entscheid vom 17. Februar 1989 wies das Präsidium des
Landgerichts den Rekurs ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen
aus, S. habe nach seinen eigenen Angaben vor Antritt der Fahrt die
einseitige Beladung des Lieferwagens festgestellt. Als gewissenhafter
Chauffeur hätte er nach dieser Feststellung die in ca. 1 km Entfernung vom
Verladeort befindliche Fahrzeugwaage aufsuchen müssen. Dass er dies nicht
getan habe, sei ihm als ethisch vorwerfbares und damit i.S. von Art. 64
Abs. 1 Ziff. 2 der Strafprozessordnung des Kantons Uri vom 29. April 1980
(StPO) verwerfliches Verhalten anzurechnen, so dass sich eine teilweise
Verweigerung der verlangten Entschädigung rechtfertige.

    Das Bundesgericht heisst die von S. gegen diesen Entscheid erhobene
staatsrechtliche Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend, die Vorinstanz
lege ihm in der Begründung des angefochtenen Entscheids mit dem Vorwurf
der Unterlassung des Wiegens des Fahrzeugs eine fahrlässige Verletzung
von Verkehrsregeln zur Last. Da die Verweigerung der Ausrichtung einer
Entschädigung an ihn damit durch den Vorwurf eines strafbaren Verhaltens
begründet werde, verletze der Entscheid des Gerichtspräsidiums Art. 6
Ziff. 2 EMRK.

    a) Gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK wird bis zum gesetzlichen Nachweis seiner
Schuld vermutet, dass der wegen einer strafrechtlichen Handlung Angeklagte
unschuldig ist. Für einen nichtverurteilenden Verfahrensabschluss
bedeutet dies, dass der verfahrensabschliessende Entscheid nicht den
Eindruck des Bestehens strafrechtlicher Schuld erwecken darf. Mit dem das
Verfahren abschliessenden Entscheid verbundene Kostenauflagen sind demnach
unzulässig, wenn sich aus dem Text des Entscheids eine strafrechtliche
Missbilligung ergibt, die in der Kostenauflage zum Ausdruck kommt (BGE 114
Ia 302 E. 2b mit Hinweisen). Das gleiche gilt hinsichtlich der Verweigerung
einer Entschädigung bei nichtverurteilendem Verfahrensabschluss (Urteile
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte i.S. Lutz, Englert und
Nölkenböckhoff vom 25. August 1987, Publications de la Cour Européenne
des Droits de l'Homme, Série A, Vol. 123, No 123-A Ziff. 60 = EuGRZ 1987,
S. 402; No 123-B Ziff. 37 = EuGRZ 1987, S. 409; No 123-C Ziff. 37 =
EuGRZ 1987, S. 413).

    b) Das Präsidium des Landgerichts geht in der Begründung des
angefochtenen Entscheids davon aus, der Beschwerdeführer habe ein
Verhalten verwirklicht, welches bei richtiger Betrachtung einen der
Tatbestände von Art. 90 SVG i.V.m. Art. 30 Abs. 2 SVG und Art. 57 Abs. 1
VRV erfüllt. Das Präsidium des Landgerichts macht dem Beschwerdeführer
dieses Verhalten überdies zum Vorwurf, d.h. es legt ihm hinsichtlich
der genannten Vorschriften ein Verschulden zur Last. Damit erweckt der
angefochtene Entscheid, obwohl er dies nicht ausdrücklich ausspricht, den
Eindruck strafrechtlicher Schuld, dass nämlich der Beschwerdeführer einen
der Tatbestände von Art. 90 SVG rechtswidrig und schuldhaft verwirklicht
habe. Dies ist nach der dargelegten Rechtsprechung unzulässig: Die
Kostenauflage oder Verweigerung einer Entschädigung verstösst nicht nur
dann gegen Art. 6 Ziff. 2 EMRK und ist daher unzulässig, wenn der Text
einer Entscheidung eine direkte strafrechtliche Missbilligung enthält. Die
Kostenauflage oder Verweigerung einer Entschädigung sind vielmehr auch dann
unzulässig, wenn sich die strafrechtliche Missbilligung sonstwie aus dem
Text der Entscheidung ergibt, d.h. wenn darin ein strafrechtlich relevanter
Vorwurf nur implizit zum Ausdruck gelangt. Der angefochtene Entscheid
verletzt demnach Art. 6 Ziff. 2 EMRK und ist aus diesem Grunde aufzuheben.