Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IA 201



115 Ia 201

37. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 17.
Januar 1989 i.S. B. gegen Schulgemeinde Urdorf und Regierungsrat des
Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Antragsrecht der Stimmbürger in der Gemeindeversammlung.

    1. Zum Recht der Stimmbürger nach dem zürcherischen Gemeindegesetz,
in der Gemeindeversammlung neue Anträge oder Rückweisungsanträge zu
stellen. Im vorliegenden Fall ist das Begehren des Beschwerdeführers weder
als neuer Antrag noch als Rückweisungsantrag zulässig; eine gesonderte
Abstimmung darüber war daher nicht erforderlich (E. 3).

    2. Aus dem bundesrechtlich garantierten Anspruch auf freie,
zuverlässige und unverfälschte Willenskundgabe ergibt sich kein
unbeschränktes Antragsrecht des Stimmbürgers an der Gemeindeversammlung
(E. 4).

Sachverhalt

    A.- Die Schulpflege beantragte der Gemeindeversammlung der
Schulgemeinde Urdorf vom 30. September 1987 u.a. die Einführung eines
regionalen freiwilligen zehnten Schuljahres in Urdorf und die Bewilligung
der entsprechenden Kredite. Hierfür sollte eine gemeindeeigene Schule
für die Jugendlichen von Urdorf und den Nachbargemeinden geschaffen werden.

    In der Gemeindeversammlung widersetzte sich B. dem Antrag und erklärte,
es sei sinnvoller, weiterbildungswilligen Schülern von Urdorf den Besuch
eines zehnten Schuljahres anderswo durch einen angemessenen Gemeindebeitrag
zu ermöglichen. Er stellte daher einen Rückweisungsantrag.

    Der Versammlungsleiter lehnte es ab, über den Antrag von B. gesondert
abstimmen zu lassen, und unterbreitete den Stimmbürgern ausschliesslich den
Antrag der Schulpflege zur Abstimmung. Dieser Antrag ist angenommen worden.

    In der Folge erhob B. beim Bezirksrat Beschwerde gegen den Beschluss
der Gemeindeversammlung und machte geltend, der Versammlungsleiter
hätte seinen Rückweisungsantrag vor der Abstimmung über den Antrag der
Schulpflege gesondert zur Abstimmung bringen sollen. Der Bezirksrat wies
die Beschwerde ebenso ab wie auf weitere Beschwerde hin der Regierungsrat
des Kantons Zürich.

    Gegen den Entscheid des Regierungsrates reichte B. beim Bundesgericht
staatsrechtliche Beschwerde im Sinne von Art. 85 lit. a OG ein. Er
rügt eine Verletzung des kantonal- und bundesrechtlich garantierten
Stimmrechts. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                  Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer rügt in erster Linie eine Verletzung des
kantonal garantierten Stimmrechts. Er macht geltend, sein Vorstoss habe
einen echten Rückweisungsantrag im Sinne von § 52 des Gemeindegesetzes des
Kantons Zürich (GG) dargestellt. Gegenstand und Ziel des Vorstosses seien
die gleichen gewesen wie diejenigen des Antrages der Schulpflege und hätten
bezwecken wollen, ein freiwilliges zehntes Schuljahr zu ermöglichen. Der
Vorstoss habe lediglich einen andern Lösungsweg vorgeschlagen. Grundlegende
Änderungsvorschläge im Sinne von § 48 GG bedürften der vorausgehenden
Prüfung durch die Gemeindevorsteherschaft. Gerade deshalb habe er nicht
eine ersatzlose Ablehnung des Antrages der Schulpflege, sondern die
Rückweisung der Angelegenheit an die Schulpflege angestrebt. Es könne ihm
nicht entgegen gehalten werden, dass er seinen Vorstoss nicht mit letzter
juristischer Klarheit formuliert habe, da die Absicht der Rückweisung mit
hinreichender Deutlichkeit hervorgegangen sei. Ein anderes Vorgehen sei
ihm nicht zumutbar gewesen; insbesondere sei ihm der Weg der Initiative
nicht offengestanden, da hierfür nach § 50 Abs. 4 GG eine Sperrfrist
bestehe. Schliesslich erblickt er im Vorgehen des Versammlungsleiters
eine Verletzung des vom Bundesrecht garantierten politischen Stimmrechts.

    Im folgenden ist vorerst zu prüfen, wie es sich mit der Rüge der
Verletzung des kantonalen Rechts verhält (E. 3); hernach ist die Beschwerde
auf die bundesrechtlichen Garantien des politischen Stimmrechts hin zu
untersuchen (E. 4).

Erwägung 3

    3.- a) Nach § 48 Abs. 1 GG beschliesst die Gemeindeversammlung
in der Regel auf Antrag der Gemeindebehörden hin; die Anträge sind
den Stimmberechtigten vor der Versammlung zur Einsicht aufzulegen.
§ 48 Abs. 2 GG gestattet es jedem anwesenden Stimmbürger, Anträge auf
Abänderung, Verwerfung oder Verschiebung des Verhandlungsgegenstandes zu
stellen. Dieses Antragsrecht der Stimmbürger in der Gemeindeversammlung
selbst ist indessen beschränkt. Es kann sich nur auf die vorgeschlagenen
Gegenstände beziehen und keine neuen, eigenständigen Vorlagen
enthalten. Denn es gilt, die Führungs- und Beratungsfunktion der
Behörden in der Versammlungsdemokratie zu wahren sowie unvorbereitete
und wenig abgeklärte Beschlüsse zu verhindern (vgl. MAX IMBODEN, Die
politischen Systeme, 1962, S. 33 f.). Das Vorschlagsrecht wird daher
in der Literatur bisweilen als sogenanntes unselbständiges Antragsrecht
bezeichnet (vgl. H.R. THALMANN, Kommentar zum Zürcher Gemeindegesetz,
1988, N. 2 f. zu § 48; CHRISTOPH ETTER, Die Gewaltendifferenzierung in
der zürcherischen Gemeinde, Diss. Zürich 1967, S. 132 f.; ULRICH WEISS,
Die Geschäftsordnung der Gemeindeparlamente im Kanton Zürich, Diss. Zürich
1976, S. 189 f.; WERNER STAUFFACHER, Die Versammlungsdemokratie im Kanton
Glarus, Diss. Zürich 1962, S. 235 f.). Für neue Anträge und Vorschläge
sind die Stimmbürger grundsätzlich auf das Initiativrecht gemäss § 50
GG verwiesen.

    Die Zulässigkeit eines Vorschlages aus den Reihen der Stimmbürger
ergibt sich aus dem Vergleich zwischen diesem und dem von den
Gemeindebehörden eingebrachten Antrag. Im folgenden ist zu prüfen, wie
es sich damit verhält.

    b) Mit dem Antrag der Schulpflege sollte in Urdorf mit einer
gemeindeeigenen Schule ein freiwilliges zehntes Schuljahr angeboten
werden. Auch der Beschwerdeführer wollte mit seinem Vorstoss ein
freiwilliges zehntes Schuljahr ermöglichen. Indessen unterscheidet
sich sein Vorstoss schon im Ziel von demjenigen der Schulpflege. Die
Schulpflege wollte diese Schule nicht nur Jugendlichen von Urdorf,
sondern auch solchen von der Region offen halten; der Vorschlag des
Beschwerdeführers aber zielte lediglich auf eine finanzielle Unterstützung
von Jugendlichen von Urdorf selber und damit die Ermöglichung eines
zehnten Schuljahres anderswo. Auch die Art und Weise der Realisierung
ist bei den Vorschlägen des Beschwerdeführers bzw. der Schulpflege
wesentlich anders. Die Schulpflege strebte eine gemeindeeigene Schule
in den vorhandenen Gebäulichkeiten in Urdorf selber an, während der
Beschwerdeführer auf die bestehenden Schulen in andern Gemeinden und
insbesondere in Zürich abstellte. Darüber hinaus waren die Grundlagen
betreffend die Höhe der auszurichtenden Schulgelder bei der Variante von
B. nicht hinreichend geklärt.

    Bei dieser Sachlage ging der Antrag des Beschwerdeführers über den
Rahmen des Antragsrechts nach § 48 Abs. 2 GG hinaus. Der Beschwerdeführer
bestreitet es denn auch nicht, dass sein Antrag nicht als ein solcher
nach § 48 Abs. 2 GG betrachtet werden konnte. Es verletzte daher seine
politischen Mitwirkungsrechte nicht, dass unter dem Gesichtswinkel von §
48 Abs. 2 GG nicht gesondert über seinen Antrag abgestimmt worden ist.

    c) Damit stellt sich die Frage, ob der Antrag des Beschwerdeführers
als Rückweisungsantrag im Sinne von § 52 GG hätte betrachtet werden sollen
und ob demnach gesondert darüber hätte abgestimmt werden müssen. Der
Regierungsrat unterscheidet im angefochtenen Entscheid zwischen echten und
unechten Rückweisungsanträgen. Als echten Rückweisungsantrag bezeichnet
er jenen Antrag, mit dem der Antragsteller eine nochmalige Überprüfung
der Vorlage an die Exekutive verlangt, weil sie ihm noch nicht genügend
ausgereift erscheint und er zusätzliche Abklärungen oder Änderungen
für nötig hält, die aus irgendwelchen Gründen in der Versammlung selbst
nicht vorgenommen werden können. Ergibt sich indessen aus der Begründung
des Antrages, dass der Antragsteller etwas anderes verlangt, das weiter
geht, sei es, dass der Vorlage grundsätzlich nicht zu folgen sei oder ein
anderer Vorschlag an ihre Stelle tritt, so liege kein Rückweisungsantrag
vor (vgl. THALMANN, aaO, N. 1 zu § 52).

    Der Vorschlag des Beschwerdeführers unterschied sich wesentlich
vom Antrag der Schulpflege. Er verlangte nicht weitere Abklärungen zum
offiziellen Antrag, wie er der Gemeindeversammlung vorlag. Insbesondere
machte er zur Begründung nicht geltend, die offizielle Vorlage sei
nicht entscheidungsreif und weise Mängel auf, die im Rahmen einer
neuen Vorbereitung durch die Schulpflege zu prüfen wären. Es ging dem
Beschwerdeführer vielmehr darum, ein grundlegend anderes Modell für
die Ermöglichung eines zehnten Schuljahres vorzuschlagen. Bei dieser
Sachlage aber kam dem Antrag des Beschwerdeführers nicht der Charakter
eines echten Rückweisungsantrages zu. Es stellt daher keine Verletzung
von § 52 GG dar, dass über den Antrag des Beschwerdeführers nicht im
Sinne eines Rückweisungsantrages abgestimmt worden ist.

    Angesichts des Umstandes, dass sich der Vorschlag des Beschwerdeführers
vom Antrag der Schulpflege so wesentlich unterschied, kam ihm die Bedeutung
zu, dass der offizielle Antrag abzulehnen sei und damit der Weg für
eine Alternative geöffnet werde. Die Realisierung der Alternative des
Beschwerdeführers bedurfte daher der vorherigen Ablehnung des Antrages
der Schulpflege. In diesem Sinne aber verstand der Versammlungsleiter den
Vorstoss des Beschwerdeführers, und es kann bei dieser Sachlage auch unter
diesem Gesichtswinkel keine Verletzung des Gemeindegesetzes darstellen,
dass über den Antrag nicht separat abgestimmt worden ist.

    d) Nach dem Gesagten ist der Beschwerdeführer für die Realisierung
seiner Vorstellungen auf das Initiativrecht nach § 50 GG zu verweisen. Das
ist in dem Fall nicht weiter problematisch, wenn der Beschwerdeführer
die Mehrheit der Gemeindeversammlung von seiner Lösung hätte überzeugen
und damit zu einer Ablehnung des Antrages der Schulpflege hätte
gelangen können. Nachdem dieser offizielle Antrag nun aber angenommen
worden ist, kann einer Initiative die Bestimmung von § 50 Abs. 4
GG entgegenstehen. Diese Regelung ist indessen im Gemeindegesetz so
vorgesehen, sodass die eingeschränkte Initiativmöglichkeit keine Verletzung
von kantonalem Recht darstellt.

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer macht über die Rüge der Verletzung des
kantonalen Rechts zudem geltend, die bundesrechtlich garantierten
politischen Rechte seien dadurch verletzt, dass der angefochtene Beschluss
der Gemeindeversammlung in einem Verfahren zustandegekommen ist, in
welchem die beteiligten Stimmbürger ihren Willen nicht unverfälscht
zum Ausdruck haben bringen können. Da an der Gemeindeversammlung nicht
vorgängig über den Vorschlag des Beschwerdeführers abgestimmt worden ist,
seien diejenigen, welche ein freiwilliges zehntes Schuljahr im Grundsatze
befürworteten, gezwungen gewesen, dem Antrag der Schulpflege zuzustimmen.

    Das vom Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete politische
Stimmrecht gibt dem Bürger allgemein den Anspruch darauf, dass kein
Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der
Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (BGE 114
Ia 43, 113 Ia 52 E. 4a, mit Hinweisen). Das bedeutet, dass möglichst
alle Argumente mit gleicher Chance geäussert, verbreitet, diskutiert
und nach Vor- und Nachteilen abgewogen werden können, bevor entschieden
wird (vgl. BGE 113 Ia 295 E. 3a). Aus dem bundesrechtlichen Grundsatz
auf freie, zuverlässige und unverfälschte Willenskundgabe kann indessen
nicht abgeleitet werden, dass das Antragsrecht der Versammlungsteilnehmer
unbeschränkt gewährt werden müsste. Bei Urnenabstimmungen ist es denn auch
regelmässig so, dass andere Vorstellungen über den Abstimmungsgegenstand
auch bei grundsätzlicher Bejahung des Zieles nur mit einer Ablehnung der
Vorlage zum Ausdruck gebracht werden können. Im Umstand, dass über den
Antrag des Beschwerdeführers nicht separat abgestimmt worden ist, liegt
somit keine Verletzung der bundesrechtlich gewährleisteten politischen
Rechte.