Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IA 189



115 Ia 189

34. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 14.
August 1989 i.S. X. und Mitbeteiligte gegen Gemeinde Laufen-Uhwiesen sowie
Regierungsrat und Verwaltungsgericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Art. 6 Ziff. 1 EMRK; gerichtliche Überprüfung von Entscheiden
betreffend Zulässigkeit der Enteignung. Kognition.

    Den Anforderungen von Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist Genüge getan, wenn
der Richter den Sachverhalt und das Recht frei überprüfen kann. Eine
Ermessenskontrolle ist im Verwaltungsgerichtsverfahren nicht gefordert.

Sachverhalt

    A.- Am 7. Dezember 1984 genehmigte die Gemeindeversammlung
von Laufen-Uhwiesen das überarbeitete Projekt für den Ausbau
der Chlosterbergstrasse. Nachdem der vom Gemeinderat angestrebte
freihändige Landerwerb für den Strassenbau gescheitert war und der
Bezirksrat Andelfingen am 17. Oktober 1987 das Bauprojekt gemäss §
17 des Strassengesetzes genehmigt hatte, ersuchte der Gemeinderat den
Zürcher Regierungsrat um Erteilung des Enteignungsrechts. Diesem Begehren
entsprach der Regierungsrat unter Abweisung der gegen den vorgängigen
Entscheid des Bezirksrats Andelfingen gerichteten "Einwendungen";
der Bezirksrat hatte mit seinem Entscheid die gegen die Erteilung
des Enteignungsrechts erhobenen Einsprachen seinerseits ebenfalls
abgewiesen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich beschied die
von X. und Mitbeteiligten gegen den Regierungsratsbeschluss erhobene
Beschwerde abschlägig.

    Eine gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts gerichtete
staatsrechtliche Beschwerde weist das Bundesgericht ab, soweit es darauf
eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Die Beschwerdeführer rügen in der staatsrechtlichen Beschwerde
erstmals, dass sie die Streitfrage der Notwendigkeit der Enteignung auf
kantonaler Ebene keinem unabhängigen Richter hätten vortragen können. Ein
von einer Enteignung betroffener Bürger habe Anspruch darauf, dass über
die Frage, ob eine Enteignung gerechtfertigt sei, ein Richter urteile,
welcher die Anforderungen von Art. 6 Ziff. 1 EMRK erfülle. Bezirksrat und
Regierungsrat genügten diesen Anforderungen nicht; dies gelte in Fällen wie
dem vorliegenden auch für das zürcherische Verwaltungsgericht, da es den
Enteignungsentscheid nicht mehr auf blosse Angemessenheit überprüfen dürfe.

    a) (Ausführungen über die Zulässigkeit dieser Rüge unter dem
Gesichtswinkel des Novenrechts.)

    b) Das Bundesgericht hat wiederholt festgestellt, ein von einer
Enteignung betroffener Bürger könne verlangen, dass nicht nur über das
Mass der Entschädigung, sondern auch über die Frage, ob eine Enteignung
gerechtfertigt sei, ein Richter urteile, welcher die Anforderungen
von Art. 6 EMRK erfülle (BGE 114 Ia 127 E. 4 c/ch mit Hinweisen, 115
Ia 66). Die Beschwerdeführer sind - wie bereits erwähnt der Auffassung,
das Verwaltungsgericht als letzte kantonale Instanz genüge Art. 6 Ziff. 1
EMRK nicht, indem es ihm nicht zustehe, den Entscheid über die Enteignung
auch auf seine Angemessenheit zu überprüfen.

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Entscheid
vom 29. April 1988 i.S. Belilos festgestellt, das Strafkassationsgericht
des Waadtländer Kantonsgerichtes entspreche den Anforderungen der EMRK
nicht, da es im Rahmen einer Nichtigkeitsbeschwerde nicht zuständig
sei, die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz zu überprüfen. Diese
Unzulänglichkeit könne auch das Bundesgericht im Rahmen einer
staatsrechtlichen Beschwerde nicht heilen, da dessen Kognition sowohl in
tatbeständlicher als auch in rechtlicher Hinsicht auf eine Willkürkontrolle
beschränkt sei (Publications de la Cour européenne des droits de
l'homme, Série A, vol. 132, Ziff. 69 ff. = EuGRZ 1989 S. 31/32). Der
Gerichtshof hat zu der von den Beschwerdeführern im vorliegenden Verfahren
aufgeworfenen Frage in diesem Entscheid nicht Stellung genommen. Das
Verwaltungsgericht des Kantons Zürich klärt aufgrund von § 60 VRG den
Sachverhalt von Amtes wegen ab, und es überprüft auch das Recht frei (§
50 VRG). Dagegen entspricht es modernem Verwaltungsrechtsdenken, dass
Verwaltungsverfügungen durch den Richter nicht auf ihre Angemessenheit
zu überprüfen sind (vgl. FRITZ GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege,
Bern 1983, S. 34, 237). Diese in zahlreichen Gesetzen (siehe bspw. auch
Art. 104 OG) vorgesehene Einschränkung ergibt sich aus dem wohlverstandenen
Grundsatz der Gewaltentrennung, der einerseits Regierung und Verwaltung
einen Ermessensspielraum belässt und anderseits den Richter auf die
Rechtskontrolle beschränkt (vgl. dazu auch ALFRED KÖLZ, Kommentar zum
Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, Zürich 1978, N. 29
zu § 50 VRG mit Hinweisen). Damit kommt das Gericht seiner eigentlichen
Aufgabe im Verwaltungsrecht - nämlich Recht zu sprechen - vollumfänglich
nach. Auch den Anforderungen von Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist Genüge getan,
wenn der Richter den Sachverhalt und das Recht frei überprüfen kann. Eine
Ermessenskontrolle ist im Verwaltungsgerichtsverfahren nicht gefordert
(Berichte der Europäischen Kommission für Menschenrechte i.S. Kaplan vom
17. Juli 1980 (DR 21 S. 5 ff., Ziff. 156 ff.) und i.S. Mats Jacobsson
vom 16. März 1989 (EuGRZ 1989 S. 263 ff., Ziff. 84); FROWEIN/PEUKERT,
EMRK-Kommentar, Kehl/Strassburg/Arlington 1985, N. 39 zu Art. 6; HERBERT
MIEHSLER in: Internationaler Kommentar zur EMRK, Köln/Berlin/Bonn/München
1986, N. 80 und 81 zu Art. 6; BGE 111 Ib 232/233 E. 2e). Schliesslich
kann darauf hingewiesen werden, dass sowohl Ermessensmissbrauch wie
-überschreitung Rechtsverletzungen darstellen, die vom Verwaltungsgericht
überprüft werden müssen (§ 50 Abs. 2 Bst. c VRG, vgl. FRITZ GYGI,
Verwaltungsrecht, Bern 1986, S. 151/152). Die Beschwerde ist deshalb in
diesem Punkt abzuweisen. Unter diesen Umständen braucht auf die Bedeutung
und Tragweite der mit Wirkung ab 29. April 1988 erfolgten Änderung der
Auslegenden Erklärung der Schweiz zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK (AS 1988 S. 1264)
nicht eingegangen zu werden (siehe dazu 115 Ia 188).