Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IA 107



115 Ia 107

21. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 24. Februar 1989
i.S. K. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Solothurn
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV. Willkürliche Anwendung von § 173 Abs. 3 der solothurnischen
Strafprozessordnung.

    1. Die Beschränkung der Appellation ist zulässig, wenn der angefochtene
Teil des Urteils (Aufschub des Strafvollzugs) unabhängig von einer weiteren
Frage (Landesverweisung) überprüft werden kann (E. 2c).

    2. Beschränkte sich die Appellation auf einen unabhängigen Teil
des Urteils, ist es der Appellationsinstanz verwehrt, in bezug auf eine
weitere selbständige Frage neu zu entscheiden (E. 2a und b).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Mit Urteil vom 24. Februar 1987 verurteilte das Amtsgericht
Solothurn-Lebern Frau K. wegen Widerhandlung gegen das SVG sowie wegen
wiederholten und fortgesetzten Diebstahls zu 6 Monaten Gefängnis. Es schob
den Vollzug der Gefängnisstrafe auf und ordnete statt dessen als Massnahme
eine ambulante psychiatrische Behandlung an. Zugleich erklärte es eine
bedingte Vorstrafe von 45 Tagen Gefängnis für vollstreckbar unter Aufschub
des Vollzuges zugunsten einer ambulanten psychiatrischen Behandlung.

    b) Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn erklärte gegen
dieses Urteil, bei ihr eingetroffen am 9. Juni 1987, am 11. Juni 1987
die Appellation mit dem Hinweis, das Rechtsmittel richte sich gegen den
Aufschub der Freiheitsstrafe i.S. von I Ziff. 2 und II des angefochtenen
Urteils.

    Mit Urteil vom 28. September 1988 änderte das Obergericht des Kantons
Solothurn den erstinstanzlichen Entscheid insofern ab, als es den Aufschub
sowohl der ausgefällten Strafe von 6 Monaten Gefängnis wie auch der
widerrufenen Strafe von 45 Tagen Gefängnis verweigerte und lediglich eine
ambulante psychiatrische Behandlung während des Strafvollzugs anordnete,
sowie zusätzlich eine bedingte Landesverweisung von 5 Jahren (Probezeit
3 Jahre) anordnete.

    c) Die Verurteilte erhebt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe sich
zu Unrecht über die Beschränkung der Appellation der Staatsanwaltschaft
hinweggesetzt, indem sie eine Landesverweisung ausgesprochen habe. Darin
liege eine willkürliche Anwendung von § 173 Abs. 3 StPO/SO.

    a) Das Obergericht hat erwogen, gemäss seiner Praxis sei die
Beschränkung der Appellation auf die Gewährung des bedingten Strafvollzugs
unzulässig; ebenso gelte, dass eine Trennung von Haupt- und Nebenstrafe im
Appellationsverfahren nur möglich sei, wenn die Anordnung der Nebenstrafe
einen von der Zumessung der Hauptstrafe völlig unabhängigen und trennbaren
Teil des Urteils darstelle. Gerade im Falle der Landesverweisung sei für
die Anordnung dieser Nebenstrafe das Verschulden massgebend, das auch die
Zumessung der Haupt- und Nebenstrafe bestimme, weshalb das Obergericht
auch neu über die Frage der Landesverweisung entscheiden könne.

    b) Gemäss § 173 Abs. 3 StPO/SO kann die Appellation auf selbständige
Teile des Urteils beschränkt werden. Die Staatsanwaltschaft hat mit
ihrer Appellationserklärung vom 11. Juni 1987 zum Ausdruck gebracht, dass
sich das Rechtsmittel "gegen den Aufschub der Freiheitsstrafe i.S. von
I Ziff. 2 und II des angefochtenen Urteils" richte. In den zitierten
Ziffern des erstinstanzlichen Urteils heisst es, was folgt:

    "I. 2. Der Vollzug der Gefängnisstrafe wird aufgeschoben und
stattdessen
   ist als Massnahme eine ambulante psychiatrische Behandlung angeordnet.

    ...

    II. Der der Beschuldigten mit Urteil des Strafgerichtspräsidenten

    Basel-Stadt vom 25.4.86 gewährte bedingte Strafvollzug ist widerrufen
und
   die Gefängnisstrafe von 45 Tagen als vollstreckbar erklärt. Der
   Vollzug wird zugunsten einer ambulanten psychiatrischen Behandlung
   aufgeschoben."

    Aus dem Wortlaut der Appellationserklärung ergibt sich somit in
Verbindung mit den zitierten Ziffern des angefochtenen erstinstanzlichen
Urteils nach den allgemeinen Grundsätzen über die Auslegung von rechtlich
bedeutsamen Erklärungen, dass die Staatsanwaltschaft einzig gegen den
Aufschub des Strafvollzuges zugunsten einer ambulanten psychiatrischen
Behandlung appelliert hat, nicht aber dagegen, dass die erste Instanz
keine Landesverweisung ausgesprochen hatte. Daraus folgt, dass es dem
Obergericht aus prozessualen Gründen verwehrt war, eine Landesverweisung
als selbständigen Teil des Urteils i.S. von § 173 Abs. 3 StPO/SO anzusehen.

    c) Zu prüfen ist somit, ob das Obergericht willkürfrei annehmen durfte,
die Beschränkung der Appellation auf den Aufschub der Freiheitsstrafe
zugunsten der psychiatrischen Behandlung betreffe nicht einen
selbständigen Teil des Urteils; vielmehr beziehe sich die Appellation
auf die Strafzumessung im weitesten Sinne, wozu auch die Anordnung einer
Landesverweisung gehöre.

    aa) Zunächst stellt sich die Frage, aus welchen Gründen der Gesetzgeber
eine Beschränkung der Rechtsmitteleinlegung zulassen kann. Neben dem
Gedanken der Prozessökonomie und der Verfahrensvereinfachung dürfte
vor allem die Überlegung bedeutsam sein, dass - in maiore minus -
sich aus der Möglichkeit eines völligen Rechtsmittelverzichts auch die
Möglichkeit der Rechtsmittelbeschränkung ergibt: Wer sich mit einem
Punkt des Urteils abfindet oder sogar einverstanden ist, braucht ihn
nicht anzufechten (vgl. FRISCH, SK StPO vor § 296 N 276). Daraus folgt,
dass ein Rechtsmittelverzicht, jedenfalls wenn er wie im solothurnischen
Strafverfahren ausdrücklich vorgesehen ist, prinzipiell beachtlich ist.

    bb) Fraglich ist einzig, ob es Grenzen des Rechtsmittelverzichts
aus übergeordneten Sachgesichtspunkten gibt, gestützt auf welche das
Obergericht willkürfrei eine einschränkende Auslegung von § 173 Abs. 3
StPO/SO vornehmen konnte.

    In der schweizerischen Literatur wird die Möglichkeit einer
Teilanfechtung weitgehend anerkannt; keine Einigkeit besteht über
ihre Grenzen (vgl. WALTER REAL, Die Berufung in den kantonalen
Strafprozessordnungen, ZStrR 1965, S. 280 ff.; HAUSER, Kurzlehrbuch,
S. 280; PIQUEREZ, Précis de procédure pénale suisse, Lausanne 1987, N 2108;
zur Berner Praxis JÜRG AESCHLIMANN, Das bernische Strafverfahren III, §
221 mit Hinweisen; vgl. ferner KLAUS HERY, Die Berufung im zürcherischen
Strafprozess, Zürich 1975, S. 144 ff.; KLAUS WEBER, Die Berufung im
zugerischen Strafprozess, Zürich 1978 S. 108 ff.; HEINZ-PETER KÜHNIS,
Das Rechtsmittel der Berufung in der St. Gallischen Strafrechtspflege,
Diss. Freiburg 1975 S. 83 f.; NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des
St. Gallischen Strafprozessrechtes, St. Gallen 1988, S. 314). Soweit die
Möglichkeit der Teilanfechtung generell in Frage gestellt wird (vgl.
WAIBLINGER, in: Festschrift für H.F. Pfenninger, Zürich 1956, S. 172
und ZBJV 1956, S. 362 ff.), braucht vorliegend darauf nicht eingegangen
zu werden, da die Teilanfechtung im solothurnischen Recht ausdrücklich
vorgesehen ist.

    In der deutschen Literatur wird angenommen, eine Teilanfechtung komme
nur dort in Betracht, wo die isolierte Prüfung einer Frage möglich sei,
Dies sei zu verneinen, wo durch eine isolierte Prüfung und Erörterung
gewisse unaufgebbare Postulate gefährdet würden (vgl. FRISCH, aaO, N
277; LÖWE/ROSENBERG/GOLLWITZER, 24. A. § 318 N 34 ff.; EBERHARD SCHMIDT,
Lehrkommentar II, Göttingen 1957, § 318 N 42 ff.).

    cc) Die Beschränkung der Appellation ist jedenfalls dann ohne weiteres
möglich, wenn der angefochtene Teil des Urteils isoliert überprüft
werden kann. Die Möglichkeit einer derartigen isolierten Überprüfung ist
vorliegend offensichtlich gegeben. Hätte sich das Obergericht auf eine
Überprüfung der mit der Appellationserklärung ausdrücklich genannten
Frage beschränkt und deshalb zur Frage der Landesverweisung materiell
nicht Stellung genommen, wäre sein Urteil widerspruchsfrei. Dass für
die Frage der Landesverweisung auch das Verschulden des Täters eine
Rolle spielen kann, ändert daran nichts. Denn jedenfalls im konkreten
Fall ist nicht ersichtlich, dass das Obergericht bei der Dauer der
ausgesprochenen Freiheitsstrafe auch berücksichtigt hätte, dass
überdies eine Landesverweisung ausgesprochen wird. Deshalb scheitert
auch der Hinweis des Obergerichtes auf seine Praxis, wonach die Frage des
bedingten Strafvollzuges von der Frage der Strafzumessung nicht getrennt
werden könne.

    d) Somit steht fest, dass die Staatsanwaltschaft ihre
Appellationserklärung ausdrücklich beschränkt hat auf die Frage
des Strafaufschubs zugunsten des Vollzugs einer psychiatrischen
Behandlung. Es ergibt sich des weiteren, dass diese Frage unabhängig
von einer Landesverweisung geprüft werden konnte. Man muss sich deshalb
sogar fragen, ob das Obergericht überhaupt noch berechtigt war, die
Strafzumessung der Vorinstanz zu überprüfen.

    Im Lichte dieser Überlegungen erweist sich die Auslegung, die
das Obergericht § 173 Abs. 3 StPO/SO gegeben hat, als unhaltbar. Die
staatsrechtliche Beschwerde ist deshalb insoweit gutzuheissen und Ziff. 4
des Dispositivs des angefochtenen Urteils aufzuheben.