Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IA 103



115 Ia 103

20. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 14. März 1989 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht
(I. Strafkammer) des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; Amtliche Verteidigung im Strafverfahren.

    In Fällen, in denen der Angeklagte nicht mit einer Freiheitsstrafe
von mehr als 18 Monaten rechnen muss, die jedoch keine Bagatellfälle
darstellen, bestimmt sich die Notwendigkeit der amtlichen Verteidigung
nach den Umständen des Einzelfalles. Nicht entscheidend für die
Verweigerung der amtlichen Verteidigung ist, dass das Strafverfahren vom
Untersuchungsgrundsatz beherrscht ist (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Am 15. Februar 1988 erhob die Bezirksanwaltschaft H.  gegen X. beim
Einzelrichter des Bezirksgerichtes H. Anklage wegen Grenzverrückung,
einfacher Körperverletzung, Sachbeschädigung und Drohung. Gleichzeitig
wurde der Antrag gestellt, X. sei mit drei Monaten Gefängnis unter
Verweigerung des bedingten Strafvollzuges zu bestrafen. Das von X. am
4. Juli 1988 gestellte Begehren um amtliche Verteidigung sowie sinngemäss
um Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung wurde vom Einzelrichter
in Strafsachen des Bezirksgerichtes H. am 15. September 1988 abgewiesen.

    Den von X. hiergegen erhobenen Rekurs wies das Obergericht des
Kantons Zürich (I. Strafkammer) am 9. Dezember 1988 ab. Zur Begründung
führt es aus, der zu beurteilende Fall biete weder tatsächliche noch
rechtliche Schwierigkeiten, denen X. nicht gewachsen sei, wobei letztere
weniger in der Qualifikation der zu beurteilenden Handlungen als in der
Beweiswürdigung lägen; diesbezüglich sei jedoch zu beachten, dass der
zürcherische Strafrichter im Hinblick auf das Anklageprinzip nicht an die
Anträge und Vorbringen der Verfahrensbeteiligten gebunden sei. Im Lichte
des das zürcherische Strafverfahren beherrschenden Offizialprinzips sowie
der Grundsätze der Rechtsanwendung und der freien Beweiswürdigung von Amtes
wegen ergäbe sich, dass bei Fällen, welche keine besonderen Schwierigkeiten
böten und wo die Höhe der allenfalls auszufällenden Freiheitsstrafe ein
Jahr nicht übersteige, die Befürchtung unbegründet erscheine, der nicht
durch einen Anwalt vertretene Angeklagte könnte einen Rechtsnachteil
erleiden. Gegen den Entscheid des Obergerichts hat X. staatsrechtliche
Beschwerde eingereicht. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut

Auszug aus den Erwägungen:

                  aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer macht im weitern geltend, in Verletzung
von Art. 4 BV sei ihm die Bestellung eines amtlichen Verteidigers
verweigert worden. Im vorliegenden Fall müssten "knifflige" rechtliche
Probleme beantwortet werden und auch in tatsächlicher Hinsicht stellten
sich schwierige Fragen. Zwar sei ihm sein Sohn im Strafverfahren bisher
behilflich gewesen, was aber wegen dessen beruflicher Stellung künftig
nicht mehr der Fall sein könne. Vom Wissen seines Sohnes dürfe auch
nicht auf seine eigene Verteidigungsfähigkeit geschlossen werden. Auch die
obergerichtliche Argumentation, hinreichende Rechtsnachteile entstünden
erst, wenn das angedrohte Strafmass eine Freiheitsstrafe von einem Jahr
übersteige, widerspreche Art. 4 BV.

    Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung hat der Angeklagte
auf Grund von Art. 4 BV keinen Anspruch auf amtliche Verteidigung,
wenn es sich bei der Strafsache um einen Bagatellfall handelt und sie
in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht keine Schwierigkeiten bietet,
denen der Angeklagte nicht gewachsen ist. Unabhängig von den tatsächlichen
und rechtlichen Schwierigkeiten besteht hingegen im allgemeinen schon
dann ein Anspruch auf amtliche Verteidigung, wenn der Angeklagte mit einer
Strafe zu rechnen hat, für welche wegen ihrer Dauer von mehr als 18 Monaten
die Gewährung des bedingten Vollzuges ausgeschlossen ist, oder wenn eine
freiheitsentziehende Massnahme von erheblicher Tragweite in Frage steht
(BGE 113 Ia 221 E. 3b, 111 Ia 83 E. 2c mit Hinweisen). Bei einer weiteren
Gruppe von als relativ schwer zu bezeichnenden Strafsachen beantwortet
das Bundesgericht die Frage der Notwendigkeit der amtlichen Verteidigung
aufgrund der Umstände des Einzelfalles. Dabei stellt es auf verschiedene
Kriterien ab: neben der Schwere der vom Angeklagten zu gewärtigenden
Sanktion zieht es die Schwierigkeit des Straffalles in rechtlicher und
tatsächlicher Hinsicht in Betracht; hierfür können etwa die rechtliche
Qualifikation einer Tat und die Frage der Täterschaft sowie der Umstand
entscheidend sein, ob ein Geständnis vorliegt (BGE 103 Ia 5 E. 2 mit
Hinweisen). Jene Schwierigkeiten sind an den Fähigkeiten des Angeklagten
zu messen.

    Vorweg ist festzuhalten, dass das Obergericht die Aufgabe des
Strafverteidigers verkennt und sie auch völlig unterschätzt, wenn es sich
darauf beruft, im vorliegenden Strafverfahren seien die Rechtsanwendung
und die Beweiswürdigung von Amtes wegen vorzunehmen. Jedenfalls kann
mit einem Verweis auf das in Strafverfahren geltende Offizialprinzip
nicht argumentiert werden, ein Angeklagter brauche den Beistand eines
Anwaltes nicht (BGE 112 Ia 16 E. b, 95 I 361 E. b; ARTHUR HAEFLIGER,
Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, 1985, S. 173).

    Im vorliegenden Fall liegt auch kein sogenannter Bagatellfall
vor. Davon kann insbesondere dann nicht mehr die Rede sein, wenn eine
Freiheitsstrafe von mehreren Monaten in Betracht kommt (vgl. ARTHUR
HAEFLIGER, aaO S. 175). Gegen den Beschwerdeführer ist immerhin eine
unbedingte Gefängnisstrafe von drei Monaten beantragt. Es handelt sich
somit um eine als relativ schwer zu bezeichnende Strafsache. Zudem
bilden drei verschiedene Sachverhalte, welche gemäss der Anklageschrift
vier verschiedene Vergehenstatbestände betreffen, Gegenstand des
Verfahrens. Ferner ergibt sich aus den Akten, dass die vorliegende
Strafsache zwar weniger in rechtlicher Hinsicht als vielmehr in
tatsächlicher Beziehung nicht geringe Schwierigkeiten bietet. Die drei zur
Beurteilung stehenden Sachverhalte sind tatsächlich völlig umstritten.
Ausserdem ergibt sich aus den Akten, dass der Beschwerdeführer
den sich bietenden Schwierigkeiten, nicht zuletzt auf Grund seiner
Persönlichkeitsstruktur, nicht gewachsen ist. Diese Schwierigkeiten
vermag auch der Beistand seines Sohnes, selbst wenn dieser auch zukünftig
möglich wäre, nicht hinreichend zu beseitigen. Der Beschwerdeführer selbst
muss nämlich als Prozesssubjekt zu einer Reihe von Fragen selbständig
Stellung nehmen. Aufgrund der Akten zeigt sich, dass er den sich dabei
bietenden Schwierigkeiten nicht gewachsen ist. Ausschlaggebend ist in
diesem Zusammenhang nicht, ob der Beschwerdeführer dringend psychiatrisch
behandelt werden sollte, wie einer der Geschädigten ausführte. Entscheidend
ist jedoch, dass der Beschwerdeführer von massgeblichen Amtspersonen
im Leumundsbericht als sehr aufbrausend und jähzornig sowie mit
querulatorischen Zügen behaftet geschildert wird. Dies trat denn auch im
Laufe der Strafuntersuchung zu Tage. So geriet er anlässlich der ersten
untersuchungsrichterlichen Einvernahme "ausser Rand und Band" und verliess
"wutentbrannt das Zimmer", obschon er den unmittelbar darauf stattfindenden
Zeugeneinvernahmen hätte beiwohnen sollen. Sowohl im vorliegenden als auch
in einem vorangegangenen Strafverfahren weigerte er sich, zu seiner Person
auszusagen und betonte, auch an der gerichtlichen Hauptverhandlung werde er
diesbezüglich keine Angaben machen, sei er doch "kein Verbrecher". Diesen
Schwierigkeiten vermag auch das strafprozessuale Offizialprinzip nicht
bzw. nicht hinreichend zu begegnen. Damit sind aber nach der dargelegten
Rechtsprechung des Bundesgerichtes die Voraussetzungen gegeben, dass dem
Beschwerdeführer für die betreffende Strafsache ein amtlicher Verteidiger
beizugeben ist.