Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 81



114 V 81

17. Auszug aus dem Urteil vom 6. Juni 1988 i.S. B. gegen Ausgleichskasse
des Schweizer Hotelier-Vereins und Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden Regeste

    Art. 82 Abs. 1 AHVV: Kenntnis des Schadens. Die in BGE 113 V
183 Erw. 3b für Konkursfälle entwickelten Grundsätze gelten auch bei
Nachlassverträgen mit Vermögensabtretung (Präzisierung der Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- b) Nach der Rechtsprechung ist die Ausgleichskasse nicht befugt,
mit der Geltendmachung ihrer Schadenersatzforderung zuzuwarten bis
zu jenem Zeitpunkt, in welchem sie das absolut genaue Ausmass ihres
Verlustes kennt. Vielmehr wird von ihr verlangt, dass sie von dem
Zeitpunkt an, in dem sie alle tatsächlichen Umstände über die Existenz,
die Beschaffenheit und die wesentlichen Merkmale des Schadens kennt, sich
über die Einzelheiten eines allfälligen Schadenersatzanspruchs informiert
(BGE 113 V 183 Erw. 3b mit Hinweisen). Kann dabei im Konkursfalle zur Zeit
der Auflegung des Kollokationsplanes und des Inventars die Schadenshöhe
infolge ungewisser Konkursdividende nicht bzw. auch nicht annähernd genau
ermittelt werden, so ist die Schadenersatzverfügung derart auszugestalten,
dass die Belangten zur Ersetzung des ganzen, der Ausgleichskasse entzogenen
Betrages gegen Abtretung einer allfälligen Konkursdividende verpflichtet
werden. Dieses in der Praxis auch auf den Gebieten des Zivilrechts
und des öffentlichen Rechts (BGE 111 II 164; vgl. auch BGE 108 Ib 97)
gewählte Vorgehen ist vom Eidg. Versicherungsgericht aus Gründen der
Verfahrensökonomie und der Rechtssicherheit sowie unter dem Gesichtspunkt
der Zielsetzung des Schadenersatzrechts im Rahmen von Forderungen gemäss
Art. 52 AHVG und Art. 82 Abs. 1 AHVV bei Konkursen für anwendbar erklärt
worden (BGE 113 V 184 Erw. 3b). Die genannte Rechtsprechung hat auch in
Fällen von Nachlassverträgen mit Vermögensabtretung Anwendung zu finden,
da sich die Sach- und Rechtslage dabei - jedenfalls nach rechtskräftiger
Bestätigung der Nachlassverträge durch die Nachlassbehörden (Art. 316d
ff. SchKG) - von Konkursen nicht wesentlich unterscheidet (vgl. BGE
110 III 105, 108 Ib 100 f., 105 III 31 Erw. 3; AMONN, Grundriss des
Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 4. Aufl., 1988, S. 434 N. 16;
DECOUR, La réparation du dommage causé par l'employeur au sens de l'article
52 LAVS, in: Aspects de la sécurité sociale, 1987/3, S. 18 ff., Ziff. 12
und 38).

    Demnach hat eine Ausgleichskasse, deren Verlust im Zeitpunkt der Auf
legung des Kollokationsplanes und des Inventars zufolge ungewisser Konkurs-
bzw. Nachlassdividende noch nicht resp. auch nicht annähernd genau
bestimmt werden kann, ihre Schadenersatzverfügung derart auszugestalten,
dass sie die Belangten zur Ersetzung des ganzen, der Schadenersatzforderung
entsprechenden Betrages gegen Abtretung der Konkurs- bzw. Nachlassdividende
verpflichtet.

    c) Im vorliegenden Fall bestätigte der Kreisgerichtsausschuss den
Nachlassvertrag der B. AG mit Entscheid vom 23. April 1982. Nach Auf legung
des Kollokationsplanes (vom 25. September bis 5. Oktober 1982) sowie nach
Versteigerung und Abrechnung gab die Liquidatorin der Ausgleichskasse erst
mit Spezialanzeige vom 15. August 1986 den ungedeckt gebliebenen Betrag
ihrer Forderungen bekannt. Ob die Ausgleichskasse bereits im Zeitpunkt der
Auflegung des Kollokationsplanes durch die Sachwalterin unter Beachtung der
ihr zumutbaren Aufmerksamkeit Kenntnis vom Schaden hätte nehmen können,
erscheint unter den vorliegenden Gegebenheiten als unwahrscheinlich.
Denn zu diesem Zeitpunkt durfte die Kasse noch davon ausgehen, dass
den Nachlassforderungen von insgesamt ca. Fr. 5,8 Mio. Aktiven im
Liquidationswert von total rund Fr. 6,5 Mio. gegenüberstanden und dass
sie demnach mit ihren - in der 2. Klasse privilegierten - Forderungen
von gesamthaft Fr. 95'476.90 vollständig gedeckt würde. Anderseits kann -
entgegen dem, was die Ausgleichskasse anzunehmen scheint - nicht unbesehen
auf die Ausstellung der Spezialanzeige (Verlustschein) vom 15. August
1986 abgestellt werden, weil es für die Kenntnis des Schadens im Sinne von
Art. 82 Abs. 1 AHVV auf diesen Zeitpunkt praxisgemäss nicht ankommt (BGE
113 V 182 Erw. 2 mit Hinweisen). Zu welchem Zeitpunkt die Ausgleichskasse
vom grundsätzlich zu erwartenden Verlust ihrer Forderungen hätte Kenntnis
nehmen können - sie mithin um die Existenz, die Natur und die wesentlichen
Merkmale des Schadens hätte wissen müssen - und ab welchem Datum sie
demzufolge den Betroffenen gegen Abtretung der Nachlassdividende zur
Ersetzung des ganzen ihr entzogenen Betrages hätte verpflichten können
(vgl. Erw. 3b hievor i. f.), lässt sich aufgrund der vorliegenden Akten
nicht abschliessend beurteilen. Der Sachverhalt erweist sich daher von der
Vorinstanz als unvollständig und damit für das Eidg. Versicherungsgericht
in nicht verbindlicher Weise abgeklärt (vgl. Art. 105 Abs. 2 OG). Die
Sache ist demnach zur Vornahme der notwendigen Erhebungen - insbesondere
zu ergänzendem Beizug der Nachlassakten - und zu neuem Entscheid über
die Verwirkungsfrage an die Vorinstanz zurückzuweisen.