Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 56



114 V 56

12. Auszug aus dem Urteil vom 11. Januar 1988 i.S. R. gegen Kantonale
Arbeitslosenkasse St. Gallen und Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen Regeste

    Art. 51 und 52 Abs. 1 AVIG, Art. 75 AVIV: Insolvenzentschädigung.

    - Die Insolvenzentschädigung deckt Lohnforderungen für die letzten
drei Monate des Arbeitsverhältnisses vor der Konkurseröffnung oder vor
dem Pfändungsbegehren. Sofern Konkurseröffnung oder Pfändungsbegehren
nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses erfolgen, setzt der Anspruch
auf Insolvenzentschädigung voraus, dass die Insolvenz des Arbeitgebers
im Zeitpunkt der Auflösung des Arbeitsverhältnisses schon bestanden hat
und sich die Konkurseröffnung bzw. die Einreichung des Pfändungsbegehrens
aus Gründen verzögert haben muss, auf die der Versicherte keinen Einfluss
nehmen konnte (Erw. 3b-d).

    - Die Verordnungsbestimmung, wonach die drei Monate, für die allfällige
Lohnforderungen zu decken sind, vom Tag der Konkurseröffnung oder des
Pfändungsbegehrens an zurückgerechnet werden, ist gesetzwidrig (Erw. 3d).

Sachverhalt

    A.- Helene R. arbeitete seit 1. Januar 1986 als kaufmännische
Angestellte bei S. in St. Gallen. Mit Schreiben vom 21. April 1986 löste
der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis "infolge Konkurs" auf Ende April
1986 auf und versprach, die Lohnforderungen für März und April 1986
"so bald als möglich" zu begleichen. Anlässlich einer Verhandlung vom
10. Juni 1986 vor dem Arbeitsgericht des Bezirks St. Gallen verpflichtete
er sich durch Vergleich, Helene R. Fr. 7'384.50 netto zu bezahlen. Am
30. Juni 1986 reichte sie beim Betreibungsamt der Stadt St. Gallen ein
Fortsetzungsbegehren ein.

    Anfangs Juli 1986 beantragte Helene R. die Ausrichtung einer
Insolvenzentschädigung für die Monatslöhne März und April 1986. Mit
Verfügung vom 14. Juli 1986 lehnte die Kantonale Arbeitslosenkasse
St. Gallen dieses Begehren mit der Begründung ab, der Arbeitgeber befinde
sich nicht im Konkurs.

    B.- Die gegen die Kassenverfügung erhobene Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 6. Februar
1987 ab, da die Insolvenzentschädigung angesichts der am 14. Oktober
1986 erfolgten Konkurseröffnung keine Lohnforderungen für die Zeit vor
dem 15. Juli 1986 decken könne.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt Helene R., in
Aufhebung von vorinstanzlichem Entscheid und Kassenverfügung sei die
Arbeitslosenkasse anzuweisen, ihr eine Insolvenzentschädigung von
Fr. 6'235.50 auszuzahlen.

    Arbeitslosenkasse und Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit
(BIGA) schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 51 AVIG haben beitragspflichtige Arbeitnehmer von
Arbeitgebern, die in der Schweiz der Zwangsvollstreckung unterliegen
oder in der Schweiz Arbeitnehmer beschäftigen, Anspruch auf
Insolvenzentschädigung, wenn:

    a) gegen ihren Arbeitgeber der Konkurs eröffnet wird und ihnen
in diesem

    Zeitpunkt Lohnforderungen zustehen oder

    b) sie gegen ihren Arbeitgeber für

    Lohnforderungen das Pfändungsbegehren gestellt haben.

    Gemäss Art. 52 Abs. 1 AVIG deckt die Insolvenzentschädigung
Lohnforderungen für die letzten drei Monate vor der Konkurseröffnung oder
vor dem Pfändungsbegehren, für jeden Monat jedoch nur bis zum Höchstbetrag
für die Beitragsbemessung (Art. 3). Als Lohn gelten auch die geschuldeten
Zulagen.

    Die drei Monate, für die allfällige Lohnforderungen zu decken
sind, werden nach Art. 75 AVIV vom Tag der Konkurseröffnung oder des
Pfändungsbegehrens an zurückgerechnet.

Erwägung 3

    3.- Streitig ist die Rechtsfrage, auf welche Zeitspanne die Frist
von drei Monaten des Art. 52 Abs. 1 AVIG zu beziehen ist.
   a) (Auslegungsgrundsätze; vgl. BGE 111 V 127 Erw. 3b.)

    b) Nach Art. 52 Abs. 1 AVIG deckt die Insolvenzentschädigung
"Lohnforderungen für die letzten drei Monate vor der Konkurseröffnung oder
vor dem Pfändungsbegehren". Dieser Wortlaut lässt entgegen der Auffassung
von Vorinstanz und BIGA verschiedene Auslegungen zu. Einerseits kann
es sich um Kalendermonate handeln, die vom Datum der Konkurseröffnung
oder des Pfändungsbegehrens an zurückzurechnen sind. Anderseits lässt der
Wortlaut auch die Auslegung zu, dass unter der erwähnten Wendung Monate mit
Lohnansprüchen gegenüber dem Arbeitgeber (Lohnmonate) zu verstehen sind.

    c) Die gesetzliche Regelung der Insolvenzentschädigung gemäss
Art. 51 f. AVIG bezweckt den Schutz der Lohnguthaben des Arbeitnehmers
und soll diesem im Konkursfall des Arbeitgebers den Lebensunterhalt
garantieren. Damit soll vermieden werden, dass der betroffene
Arbeitnehmer durch den Verlust der Lohnforderung in seiner Existenz
bedroht wird (Botschaft zum Bundesgesetz über die obligatorische
Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung vom 2. Juli 1980;
BBl 1980 III 534 f., 606). Schutzbedürftigkeit in diesem Sinne besteht
nicht nur dann, wenn während des Arbeitsverhältnisses der Konkurs über
den Arbeitgeber eröffnet oder das Pfändungsbegehren eingereicht wird,
sondern auch in Fällen, wo das Arbeitsverhältnis zwar wegen der Insolvenz
des Arbeitgebers beendet wird, sich die Eröffnung des Konkurses oder
die Einreichung des Pfändungsbegehrens aber verzögern. Der Zeitpunkt der
Konkurseröffnung bzw. Einreichung des Pfändungsbegehrens hängt oft von
Zufälligkeiten ab, auf welche der Versicherte praktisch keinen Einfluss
hat. Der Versicherte soll seinen Anspruch auf Insolvenzentschädigung
jedoch nicht deswegen verlieren, weil sich Konkurseröffnung und
Einreichung des Pfändungsbegehrens aus Gründen verzögern, die er nicht
zu vertreten hat. Er ist für seine ausstehenden Lohnguthaben ebenso
schutzbedürftig wie ein Versicherter, dessen Arbeitgeber während des
Arbeitsverhältnisses in Konkurs fällt. Käme die Insolvenzentschädigung
nur unter den Voraussetzungen des Art. 75 AVIV in Frage, so würde das
Institut der Insolvenzentschädigung weitestgehend seines Gehaltes entleert.

    d) Dem Schutzgedanken der gesetzlichen Anspruchsregelung wird
somit einzig eine Auslegung gerecht, welche die drei Monate des
Art. 52 Abs. 1 AVIG als Lohnmonate versteht, mit der Folge, dass
die Insolvenzentschädigung Lohnforderungen für die letzten drei
Monate des Arbeitsverhältnisses vor der Konkurseröffnung oder vor dem
Pfändungsbegehren deckt. Die in Art. 75 AVIV getroffene Regelung, wonach
die drei Monate vom Tag der Konkurseröffnung oder des Pfändungsbegehrens an
kalendarisch zurückgerechnet werden, erweist sich daher als gesetzwidrig,
weil diese Verordnungsbestimmung offensichtlich Sinn und Zweck der
übergeordneten formellgesetzlichen Anspruchsnormen der Art. 51 f.
AVIG widerspricht (BGE 112 V 58 Erw. 2a mit Hinweisen). Allerdings ist
in diesem Zusammenhang Art. 55 Abs. 1 AVIG zu beachten, nach dessen
erstem Satz - als Ausdruck der allgemeinen Schadenminderungspflicht
(BGE 113 V 28 Erw. 4a mit Hinweisen) - der Arbeitnehmer im Konkurs- oder
Pfändungsverfahren alles unternehmen muss, um seine Ansprüche gegenüber dem
Arbeitgeber zu wahren. Sofern die Konkurseröffnung oder die Einreichung
des Pfändungsbegehrens nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses erfolgt,
besteht daher für den Versicherten nur Anspruch auf Insolvenzentschädigung
unter der kumulativen Voraussetzung, dass

    - die Insolvenz des Arbeitgebers im Zeitpunkt der

    Auflösung des Arbeitsverhältnisses schon bestanden hat und

    - sich die Konkurseröffnung bzw. die Einreichung des Pfändungsbegehrens
   aus Gründen verzögert haben muss, auf die der Versicherte keinen

    Einfluss nehmen konnte.

Erwägung 4

    4.- Im vorliegenden Fall wurde der Konkurs über den ehemaligen
Arbeitgeber der Beschwerdeführerin nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses
auf Ende April 1986 am 14. Oktober 1986 eröffnet. Nach dem Gesagten kann
ihr somit nicht entgegengehalten werden, dass das Arbeitsverhältnis mehr
als drei Monate vor der Konkurseröffnung zu Ende ging. Vielmehr hat
sie dann Anspruch auf Insolvenzentschädigung, wenn ihr Arbeitgeber im
Zeitpunkt der Auflösung des Arbeitsverhältnisses bereits insolvent war
und sich die Konkurseröffnung aus Gründen verzögerte, auf die sie keinen
Einfluss nehmen konnte.

    Im Kündigungsschreiben vom 21. April 1986 führte der Arbeitgeber aus,
er sehe sich "infolge Konkurs" gezwungen, das Arbeitsverhältnis auf
Ende April 1986 aufzulösen. Damit reagierte er auf das Schreiben der
Beschwerdeführerin vom 15. April 1986, worin diese die unverzügliche
Überweisung des ausstehenden Lohnes für den Monat März 1986 gefordert
hatte. Anlässlich einer Verhandlung vom 10. Juni 1986 vor dem
Arbeitsgericht des Bezirks St. Gallen verpflichtete er sich durch
Vergleich, der Beschwerdeführerin Fr. 7'384.50 netto zu bezahlen. Am 30.
Juni 1986 reichte diese ein Fortsetzungsbegehren beim Betreibungsamt
der Stadt St. Gallen über den Betrag von Fr. 8'100.-- ein, worauf
am 14. Oktober 1986 über den Arbeitgeber der Konkurs eröffnet
wurde. Aufgrund dieser Aktenlage lässt sich nicht in zuverlässiger
Weise abschliessend beurteilen, ob der Arbeitgeber im Zeitpunkt der
Auflösung des Arbeitsverhältnisses bereits insolvent war und ob sich die
Konkurseröffnung aus Gründen verzögerte, auf die die Beschwerdeführerin
keinen Einfluss nehmen konnte. Insbesondere geht aus den Akten nicht
hervor, wann die Beschwerdeführerin die Betreibung eingeleitet bzw.
die Klage beim Arbeitsgericht eingereicht hat. Sollte sich herausstellen,
dass sie die ausstehenden Lohnansprüche innert nützlicher Frist geltend
machte, so hat sie grundsätzlich Anspruch auf Insolvenzentschädigung. Die
Sache geht daher an die Arbeitslosenkasse zurück, damit diese die
notwendigen Abklärungen in die Wege leite und hernach über den Anspruch
auf Insolvenzentschädigung neu verfüge. Dabei wird auch zu berücksichtigen
sein, dass die Insolvenzentschädigung nur den Lohnanspruch für geleistete
Arbeitszeit deckt (vgl. BGE 110 V 30 sowie 111 V 270 Erw. 1b).