Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 350



114 V 350

64. Urteil vom 15. August 1988 i.S. Kantonales Amt für Industrie,
Gewerbe und Arbeit, Bern, gegen K. und Versicherungsgericht des Kantons
Bern Regeste

    Art. 30 Abs. 3 AVIG, Art. 45 Abs. 1 AVIV: Einstellung in der
Anspruchsberechtigung.

    - Eine Einstellung kann auch nach Ablauf der Vollstreckungsfrist von
sechs Monaten verfügt werden, sofern die Einstellungstage bereits während
dieser Frist bestanden wurden und damit der Vollzug der Einstellung
rechtzeitig innerhalb der Verwirkungsfrist von sechs Monaten erfolgte
(Bestätigung der Rechtsprechung; Erw. 2b).

    - Die Einstellungsfrist von sechs Monaten beginnt unabhängig davon zu
laufen, ob der Versicherte in diesem Zeitpunkt die Anspruchsvoraussetzungen
für Arbeitslosenentschädigung erfüllt (Erw. 2c).

Sachverhalt

    A.- Marc K. kündigte im März 1986 seine Anstellung bei der
Firma S. auf Ende Mai 1986. In der Folge hielt er sich im Ausland
auf. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz besuchte er ab 22. Dezember
1986 die Stempelkontrolle. Mit Verfügung vom 28. Januar 1987 stellte
ihn die Arbeitslosenkasse des Kantons Bern wegen selbstverschuldeter
Arbeitslosigkeit ab 22. Dezember 1986 für die Dauer von 10 Tagen in der
Anspruchsberechtigung ein.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des
Kantons Bern mit Entscheid vom 4. Juni 1987 gut und hob die angefochtene
Verfügung auf. Zur Begründung führte es im wesentlichen an, der Beginn
der Einstellungsfrist sei auf den 1. Juni 1986 festzulegen, weshalb am
28. Januar 1987 zufolge Ablaufs der sechsmonatigen Frist des Art. 30
Abs. 3 letzter Satz AVIG eine Einstellung in der Anspruchsberechtigung
wegen selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit nicht mehr zulässig gewesen sei.

    C.- Das Kantonale Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (KIGA)
führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, in Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben
und die Kassenverfügung vom 28. Januar 1987 zu bestätigen.

    Marc K. hat sich nicht vernehmen lassen, während das
Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 30 Abs. 1 lit. a AVIG ist der Versicherte in der
Anspruchsberechtigung einzustellen, wenn er durch eigenes Verschulden
arbeitslos ist. Die Arbeitslosigkeit gilt insbesondere dann als
selbstverschuldet, wenn der Versicherte das Arbeitsverhältnis von sich
aus aufgelöst hat, ohne dass ihm eine andere Stelle zugesichert war, es
sei denn, dass ihm das Verbleiben an der Arbeitsstelle nicht zugemutet
werden konnte (Art. 44 lit. b AVIV).

    b) Die Dauer der Einstellung bemisst sich nach dem Grad des
Verschuldens und beträgt 1 bis 10 Tage bei leichtem, 11 bis 20 Tage
bei mittelschwerem und 21 bis 40 Tage bei schwerem Verschulden (Art. 45
Abs. 2 AVIV). Die Einstellung gilt nur für Tage, für die der Arbeitslose
die Voraussetzungen der Anspruchsberechtigung erfüllt. Sie wird auf die
Höchstzahl der Taggelder nach Art. 27 AVIG angerechnet. Die Einstellung
fällt binnen sechs Monaten nach Beginn der Einstellungsfrist dahin
(Art. 30 Abs. 3 AVIG).

    Gemäss Art. 45 Abs. 1 lit. a AVIV gilt die Einstellung in der
Anspruchsberechtigung ab dem ersten Tag nach der Beendigung des
Arbeitsverhältnisses, wenn der Versicherte aus eigenem Verschulden
arbeitslos geworden ist oder wenn er sich vor der Arbeitslosigkeit nicht
genügend um zumutbare Arbeit bemüht hat.

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdegegner kündigte sein Arbeitsverhältnis im
März 1986 auf Ende Mai 1986, um sich ins Ausland zu begeben. Nach
seiner Rückkehr in die Schweiz besuchte er ab 22. Dezember 1986 die
Stempelkontrolle. Am 28. Januar 1987 erliess die Arbeitslosenkasse
die Einstellungsverfügung und setzte den Beginn der Einstellung auf den
ersten Stempeltag am 22. Dezember 1986 fest. Es stellt sich daher die
Frage, ob eine Einstellung im Hinblick auf die Verwirkungsfrist von sechs
Monaten des Art. 30 Abs. 3 Satz 4 AVIG noch zulässig ist (BGE 113 V 73
Erw. 4b am Ende). Dies hängt im vorliegenden Fall entscheidend davon ab,
auf welches Datum der Beginn der Einstellungsfrist festzusetzen ist.

    b) Bei der Einstellungsfrist von sechs Monaten des Art. 30
Abs. 3 Satz 4 AVIG handelt es sich um eine Vollstreckungsfrist. Es
geht um bereits verfügte Einstellungen, die nach Ablauf der sechs
Monate nicht mehr "bestanden" werden können, mit der Folge, dass
die Einstellung dahinfällt und der Anspruch auf Vollstreckung mit
dem unbenützten Ablauf der Frist infolge Verwirkung untergeht (BGE
113 V 73 Erw. 4b am Ende). Die Vollstreckungsfrist von sechs Monaten
steht einer nachträglichen Einstellung in der Anspruchsberechtigung
grundsätzlich nicht entgegen. Die Einstellung kann daher auch nach Ablauf
der sechsmonatigen Einstellungsfrist verfügt werden. Dies setzt jedoch
voraus, dass die Einstellungstage bereits während der Einstellungsfrist
bestanden wurden und damit der Vollzug der Einstellung rechtzeitig
innerhalb der Verwirkungsfrist von sechs Monaten erfolgte (vgl. BGE
113 V 74 Erw. 4c). In diesem Sinne ist BGE 113 V 71 zu verstehen und
nicht dahin, dass eine Einstellung in jedem Fall noch nach Ablauf der
Vollstreckungsfrist verfügt werden könne. Die Einstellungsfrist von sechs
Monaten beschlägt zwar nicht das Recht der Verwaltung, eine Einstellung
zu verfügen, sondern bloss die Vollstreckung einer Einstellung. Die
zeitliche Begrenzung der Vollstreckung ist aber nicht ohne Einfluss auf
die Möglichkeit, nachträglich einen Einstellungsgrund durch Verfügung
geltend zu machen. Denn wenn eine Massnahme der Vollstreckung bedarf,
diese jedoch zufolge Zeitablaufs nicht mehr in Betracht kommt, so wird
die Anordnung einer solchen Massnahme hinfällig. Bei der rückwirkenden
Einstellung in der Anspruchsberechtigung sind dabei zwei Tatbestände
auseinanderzuhalten, nämlich ob die Arbeitslosenversicherung bereits
Leistungen für Stempeltage ausgerichtet oder solche von vornherein
verweigert hat. Wird im ersten Fall (z.B. aufgrund einer Revision der
Auszahlungen nach Art. 83 Abs. 1 lit. d AVIG und Art. 110 AVIV) die Frage
einer rückwirkenden Einstellung in der Anspruchsberechtigung aufgeworfen,
so darf eine solche Massnahme nicht mehr vollstreckt werden und braucht
darum auch gar nicht erst verfügt zu werden, wenn seit dem Beginn der
in Aussicht genommenen Einstellung mehr als sechs Monate vergangen
sind. In diesem Sinne hat das Eidg. Versicherungsgericht im nicht
veröffentlichten Urteil W. vom 6. Dezember 1984 unter Berufung auf das
in BGE 113 V 71 erwähnte Urteil B. zum altrechtlichen Art. 45 Abs. 3 AIVV
festgehalten, dass nach Ablauf der Vollstreckungsfrist eine nachträgliche
Einstellung in der Anspruchsberechtigung nicht mehr verfügt werden
kann, da der Fristablauf dem Vollzug der Einstellung (in der Form einer
Rückforderung der bereits ausbezahlten Leistungen) entgegensteht. Anders
verhält es sich im zweiten Fall, wenn die Arbeitslosenversicherung von
Anfang an die Anspruchsberechtigung als solche verneint (z.B. zufolge
Vermittlungsunfähigkeit) und somit gar keine Leistungen ausgerichtet hat.
Ergibt sich in der Folge (z.B. aufgrund einer Beschwerde), dass die
generelle Anspruchsberechtigung zwar bejaht werden muss, jedoch eine
befristete Sanktion notwendig ist, so erübrigt sich die Frage nach der
Vollstreckung einer solchen Massnahme. Denn die Einstellungsverfügung tritt
alsdann an die Stelle der Verfügung, mit welcher die Anspruchsberechtigung
verneint wurde. Indem die Verwaltung aufgrund der letzteren - wenn auch
aus unzutreffenden Gründen - gar keine Leistungen ausgerichtet hat, ist
damit der Vollzug der Einstellung im Umfang der im Einzelfall festgelegten
Dauer faktisch bereits vorweggenommen, und zwar rechtzeitig binnen der
Frist, innert der eine Einstellung von Gesetzes wegen dahinfällt. Stellt
sich nach dem Gesagten die Frage, ob eine nachträgliche Einstellung noch
vollzogen werden kann, überhaupt nicht, so steht damit die Befristung
in Art. 30 Abs. 3 Satz 4 AVIG einer nachträglichen Verfügung über die
Einstellung in der Anspruchsberechtigung nicht entgegen. In diesem Sinne
wurde auch in Erw. 4c von BGE 113 V 71 entschieden.

    c) Voraussetzung für den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung
ist u.a. die Erfüllung der Kontrollvorschriften (Art. 8 Abs. 1 lit. g
in Verbindung mit Art. 17 Abs. 2 AVIG). Aus diesem Grunde können
Einstellungstage frühestens ab dem Zeitpunkt bestanden werden, in welchem
der Versicherte - hier am 22. Dezember 1986 - die Kontrollvorschriften
erfüllt (ARV 1987 Nr. 2 S. 40). Hievon zu unterscheiden ist die auf sechs
Monate begrenzte Frist zur Vollstreckung von Einstellungstagen, deren
Beginn nicht an die rechtliche Arbeitslosigkeit anknüpft, sondern gemäss
Art. 45 Abs. 1 AVIV an einen bestimmten Zeitpunkt im Anschluss an den
mit einer Einstellung zu sanktionierenden Sachverhalt. Für den Beginn der
sechsmonatigen Vollstreckungsfrist des Art. 30 Abs. 3 Satz 4 AVIG ist daher
im Unterschied zum Bestehen von Einstellungstagen nicht vorausgesetzt,
dass in diesem Zeitpunkt bereits die Anspruchsvoraussetzungen, insbesondere
die Kontrollvorschriften erfüllt sind (ARV 1987 Nr. 2 S. 42 Erw. 3b). Dies
folgt aus Sinn und Zweck der auf sechs Monate begrenzten Frist für den
Verfall von noch nicht bestandenen Einstellungstagen. Der Vollzug einer
Sanktion soll nur innerhalb einer zeitlich limitierten Frist möglich
sein. Der Beginn der Einstellungsfrist fällt daher nicht zusammen mit
dem Zeitpunkt, in welchem Einstellungstage überhaupt bestanden werden
können (in diesem Sinne auch GERHARDS, AVIG-Kommentar, Bd. I, Art. 30,
N. 48 bis 50, S. 372-374).

    d) Im vorliegenden Fall begann die sechsmonatige Einstellungsfrist
gemäss Art. 45 Abs. 1 lit. a AVIV am ersten Tag nach Beendigung des
Arbeitsverhältnisses, d.h. am 1. Juni 1986. Am ersten Stempeltag am 22.
Dezember 1986, als der Beschwerdegegner sämtliche Kontrollvorschriften
erfüllte und das Bestehen von Einstellungstagen überhaupt zulässig
gewesen wäre, war die sechsmonatige Einstellungsfrist bereits abgelaufen
und waren damit noch nicht bestandene Einstellungstage verwirkt. Daraus
folgt, dass die angefochtene Einstellungsverfügung vom 28. Januar 1987
von der Vorinstanz zu Recht aufgehoben wurde.