Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 345



114 V 345

63. Auszug aus dem Urteil vom 29. September 1988 i.S. Kantonales Amt
für Industrie, Gewerbe und Arbeit, Zürich, gegen N. und Kantonale
Rekurskommission für die Arbeitslosenversicherung, Zürich Regeste

    Art. 10 Abs. 2, Art. 16 Abs. 1 lit. e, Art. 17 Abs. 3 und Art. 24 AVIG:
Lohnmässige Zumutbarkeit einer Teilzeitbeschäftigung.

    - Der Versicherte darf eine lohnmässig nicht zumutbare
Teilzeitbeschäftigung ohne versicherungsrechtlich nachteilige Folgen
ablehnen.

    - Für die Beurteilung, ob einem teilweise Arbeitslosen eine
Teilzeitbeschäftigung lohnmässig zumutbar ist, muss der durch diese
Beschäftigung während einer Kontrollperiode erzielbare Bruttolohn mit
der Arbeitslosenentschädigung verglichen werden, die der Versicherte im
gleichen Zeitraum ohne den Bruttolohn beanspruchen könnte.

    - Abgrenzung des Zwischenverdienstes zu der die Arbeitslosigkeit
beendigenden Teilzeitbeschäftigung.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Wer eine Teilzeitbeschäftigung hat und eine Vollzeit- oder
eine weitere Teilzeitbeschäftigung sucht, gilt als teilweise arbeitslos
(Art. 10 Abs. 2 lit. b AVIG). Eine teilweise Arbeitslosigkeit in diesem
Sinne lag bei der Beschwerdegegnerin Maria N. vor, denn sie verrichtete
im Universitätsspital Zürich eine Teilzeitbeschäftigung von täglich
fünf Stunden und suchte für den Vormittag eine weitere, ergänzende
Teilzeitarbeit.

    Nach Art. 17 Abs. 1 AVIG muss der Versicherte, unterstützt durch das
Arbeitsamt, alles Zumutbare unternehmen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden
oder zu verkürzen. Insbesondere ist es seine Sache, Arbeit zu suchen,
wenn nötig ausserhalb seines bisherigen Berufs. Art. 17 Abs. 3 AVIG
schreibt ferner vor, dass der Arbeitslose eine vermittelte zumutbare
Arbeit annehmen muss.

    Gemäss Art. 30 Abs. 1 lit. d AVIG ist der Versicherte in der
Anspruchsberechtigung einzustellen, wenn er die Kontrollvorschriften
oder die Weisungen des Arbeitsamtes nicht befolgt, namentlich eine
ihm zugewiesene zumutbare Arbeit nicht annimmt. Unzumutbare Arbeit
darf der Arbeitslose ohne versicherungsrechtlich nachteilige Folgen
zurückweisen. Eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür, dass eine
Arbeit als zumutbar gilt, besteht nach Art. 16 Abs. 1 lit. e AVIG darin,
dass sie dem Arbeitslosen einen Lohn einbringt, der nicht geringer ist
als die ihm zustehende Arbeitslosenentschädigung.

    Das Kantonale Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (KIGA) ist
der Auffassung, es wäre der Beschwerdegegnerin zuzumuten gewesen, die
Stellen als Raumpflegerin im Advokaturbüro N. und bei B. anzunehmen,
weil die an diesen Arbeitsplätzen erzielbaren Löhne zusammen mit der ihr
für die noch arbeitslose Zeit zustehende Arbeitslosenentschädigung einen
höheren Betrag ergeben hätten als die Entschädigung, auf die sie ohne
diese Stellen Anspruch hätte.

Erwägung 2

    2.- a) (Auslegung des Gesetzes.)

    b) In Art. 16 Abs. 1 lit. e AVIG finden sich lediglich die Begriffe
Lohn und Arbeitslosenentschädigung. Lohn ist das dem Versicherten
für seine Arbeitsleistung zustehende Entgelt. Das Gesetz enthält
keinen Anhaltspunkt dafür, dass mit dem Begriff "Lohn" im Falle einer
Teilzeitbeschäftigung auch die für den verbleibenden Arbeitsausfall
ausgerichtete Arbeitslosenentschädigung zu verstehen wäre. Begrifflich
steht der Lohnanspruch vielmehr im Gegensatz zum Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung, da diese stets einen Lohnausfall voraussetzt
(Art. 11 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 lit. b AVIG).

    Die in Erwägung 1 zitierten Vorschriften von Art. 17 Abs. 1 und 3 AVIG
betreffend die Pflicht des Arbeitslosen, zumutbare Arbeit anzunehmen,
beruhen auf der auch im Bereich der Arbeitslosenversicherung geltenden
Schadenminderungspflicht des Versicherten (vgl. ARV 1980 Nr. 44
S. 109). Art. 16 Abs. 1 AVIG umschreibt die Bedingungen, die eine
Arbeit erfüllen muss, damit der Versicherte verpflichtet ist, sie zur
Vermeidung oder Verkürzung von Arbeitslosigkeit anzunehmen. Insbesondere
muss sie dem Arbeitslosen ein Einkommen sichern, das mindestens die
Höhe der Arbeitslosenentschädigung erreicht, auf die er Anspruch hätte
(Art. 16 Abs. 1 lit. e). Aus finanzieller Sicht ist somit massgebend,
ob die Arbeit zu einem höheren Einkommensverlust führen würde als die
Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung. Die lohnmässige Zumutbarkeit
bestimmt sich daher durch Vergleich des angebotenen Bruttolohns mit der
Brutto-Arbeitslosenentschädigung, die ohne diesen Bruttolohn zur Auszahlung
gelangen müsste (unveröffentlichtes Urteil B. vom 11. April 1988, vgl. ARV
1981 Nr. 3 S. 25; GERHARDS, Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz,
S. 238, N. 43 zu Art. 16). Kommt es aber nach dem Sinn und Zweck von
Art. 16 Abs. 1 lit. e AVIG allein auf die Höhe des vom Versicherten
bei Annahme einer angebotenen Arbeit erzielbaren Bruttolohnes an,
so darf bei der Bestimmung des Vergleichslohnes für eine angebotene
bzw. zugewiesene Teilzeitbeschäftigung die Entschädigung des verbleibenden
Verdienstausfalles durch Arbeitslosentaggeld nicht mit berücksichtigt
werden.

    c) Würde zum Lohn für die angebotene Teilzeitarbeit die
Arbeitslosenentschädigung für die verbleibende Arbeitslosigkeit
hinzugerechnet und beides zusammen mit der ohne die angebotene
Teilzeitbeschäftigung zu erwartenden Arbeitslosenentschädigung verglichen,
so führte dies zu einer erheblichen Verschlechterung der Vermittelbarkeit
des Arbeitslosen.

    Das ist gerade im vorliegenden Fall der teilweise arbeitslosen
Beschwerdegegnerin, die eine zweite Halbtagsbeschäftigung von 20
Wochenstunden suchte, augenfällig. Hätte die Beschwerdegegnerin die
beiden angebotenen Arbeitsstellen mit einer Beschäftigung von zusammen
bloss sieben Wochenstunden angenommen, so hätte sie zur Erreichung
eines Lohnes mindestens in der Höhe der Arbeitslosenentschädigung
zusätzlich ein oder mehrere Arbeitsverhältnisse finden müssen,
wobei sich diese in zeitlicher Hinsicht erst noch mit den bereits
bestehenden Arbeitsverhältnissen hätten vereinbaren lassen müssen.
Teilzeitbeschäftigungen von weniger als 50%, bei denen bei der
Arbeitszeitgestaltung auf bestehende Arbeitsverhältnisse oder andere
Verpflichtungen des Arbeitnehmers Rücksicht genommen werden muss,
sind erfahrungsgemäss nur schwer erhältlich. Die Vermittlungsfähigkeit
teilarbeitsloser Versicherter würde in Frage gestellt, wenn sie gezwungen
wären, eine Teilzeitbeschäftigung ohne Rücksicht auf den gewünschten
Beschäftigungsumfang bzw. den daraus resultierenden Lohn anzunehmen. Die
Vermittlungsfähigkeit ist aber eine wesentliche Voraussetzung für den
Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung (Art. 8 Abs. 1 lit. f AVIG). Der
in Art. 17 AVIG statuierte Grundsatz der Schadenminderungspflicht darf
nicht dazu führen, durch überspannte Anforderungen an die Zumutbarkeit
einer Arbeit nach Art. 16 AVIG die Vermittlungsfähigkeit gemäss Art. 15
AVIG und damit die Anspruchsberechtigung des Versicherten überhaupt in
Frage zu stellen.

    d) Die Betrachtungsweise des KIGA würde zudem eine klare
Abgrenzung der zumutbaren (Teilzeit-)Arbeit von der auf Erzielung
eines Zwischenverdienstes im Sinne von Art. 24 AVIG gerichteten
Tätigkeit verunmöglichen. Dem Zwischenverdienst kommt definitionsgemäss
nur Übergangscharakter zu. Der Versicherte hat trotz Erzielung von
Zwischenverdienst Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung (Art. 24 Abs. 2
AVIG) und bleibt zur Befolgung der Kontrollvorschriften sowie der Weisungen
des Arbeitsamtes verpflichtet (Art. 22 Abs. 2 AVIV). Schliesst aber die
auf Erzielung von Zwischenverdienst gerichtete Tätigkeit den Anspruch
auf Arbeitslosenentschädigung nicht aus, so fällt diese Tätigkeit nicht
unter den Begriff der zumutbaren Arbeit im Sinne von Art. 16 AVIG, zu
deren Annahme der Versicherte verpflichtet ist. Denn die Aufnahme einer
zumutbaren Arbeit führt zwingend zur Beendigung der Arbeitslosigkeit
(GERHARDS, aaO, S. 228, N. 3 zu Art. 16 AVIG). Als auf Erzielung eines
Zwischenverdienstes gerichtete Tätigkeiten kommen deshalb nur Gelegenheits-
oder Aushilfsarbeiten in Betracht, bei denen der Versicherte über den
einzelnen, relativ kurzfristigen Arbeitseinsatz hinaus keine vertraglichen
Verpflichtungen eingeht (REHBINDER, Berner Kommentar zu Art. 319 OR,
N. 28, und STAEHELIN, Zürcher Kommentar zu Art. 319 OR, N. 73) und daher
der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht.

    Würde eine Teilzeitarbeit von geringerem als dem gewünschten
Umfang unter Berücksichtigung der auf den verbleibenden Arbeitsausfall
entfallenden Arbeitslosenentschädigung aus lohnmässiger Sicht als zumutbar
qualifiziert, so wäre der Versicherte zur Annahme dieser Teilzeitarbeit
verpflichtet, obschon seine Arbeitslosigkeit dadurch nicht beendet
würde. Systemwidrig würde damit zwischen der zumutbaren Teilzeitarbeit
mit Beendigung der Arbeitslosigkeit einerseits und der auf einen
Zwischenverdienst gerichteten Tätigkeit anderseits ein gesetzesfremdes
Institut im Sinne einer - zumutbaren - Teilzeitbeschäftigung ohne
Beendigung der Arbeitslosigkeit geschaffen.

Erwägung 3

    3.- Nach dem Gesagten kann der vom KIGA vertretenen Auslegung von
Art. 16 Abs. 1 lit. e AVIG nicht gefolgt werden. Vielmehr ist für die
Beurteilung der Zumutbarkeit von - die Arbeitslosigkeit beendigenden -
Teilzeitbeschäftigungen allein auf den hierfür angebotenen Bruttolohn
abzustellen. Massgebend ist der während einer Kontrollperiode
erzielbare Lohn. Diesem ist die auf den gleichen Zeitraum entfallende
Brutto-Arbeitslosenentschädigung gegenüberzustellen. Ist der Lohn
geringer als die Arbeitslosenentschädigung, so muss die Zumutbarkeit der
Teilzeitbeschäftigung verneint werden mit der Wirkung, dass der Versicherte
nicht verpflichtet werden kann, ein solches Arbeitsverhältnis einzugehen.