Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 310



114 V 310

57. Auszug aus dem Urteil vom 26. August 1988 i.S. Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt gegen W. und Versicherungsgericht des Kantons
Thurgau Regeste

    Art. 18 Abs. 2 UVG, Art. 28 Abs. 4 UVV: Invaliditätsbemessung.

    - Die Praxis zur allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs in der
Invalidenversicherung gilt grundsätzlich in gleicher Weise auch im Rahmen
von Art. 18 Abs. 2 UVG (Erw. 3a).

    - Im Rahmen von Art. 28 Abs. 4 UVV hat zum Vergleich eine Person
mit den gleichen beruflichen und persönlichen Fähigkeiten zu dienen,
wie sie der Rentenbewerber aufweist. Für die hypothetischen Validen-
und Invalideneinkommen ist massgebend, was diese Person auf dem ihr
offenstehenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt zumutbarerweise verdienen könnte
(Erw. 4a).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Wird der Versicherte infolge eines Unfalles invalid, so
hat er Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 18 Abs. 1 UVG). Als
invalid gilt, wer voraussichtlich bleibend oder für längere Zeit in
seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt ist. Für die Bestimmung des
Invaliditätsgrades wird das Erwerbseinkommen, das der Versicherte
nach Eintritt der unfallbedingten Invalidität und nach Durchführung
allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei
ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum
Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden
wäre (Art. 18 Abs. 2 UVG). Der Bundesrat kann ergänzende Vorschriften
über die Bestimmung des Invaliditätsgrades erlassen (Art. 18 Abs. 3 UVG).

    b) Nimmt ein Versicherter nach dem Unfall die Erwerbstätigkeit
altershalber nicht mehr auf oder wirkt sich das vorgerückte Alter erheblich
als Ursache der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit aus, so sind für
die Bestimmung des Invaliditätsgrades die Erwerbseinkommen massgebend,
die ein Versicherter im mittleren Alter bei einer entsprechenden
Gesundheitsschädigung erzielen könnte (Art. 28 Abs. 4 UVV).

Erwägung 2

    2.- Beim 1921 geborenen Beschwerdegegner besteht eine Verkürzung
des rechten Beins nach Hüftarthrodese rechts im Jahre 1967. Er leidet
an arthrotisch bedingten Schmerzen im Bereich der linken Hüfte und
des linken Oberschenkels bei stark eingeschränkter Beweglichkeit des
linken Hüftgelenks. Im weiteren verspürt er ein Unsicherheitsgefühl
im linken Knie infolge erheblicher Instabilität und Insuffizienz
(kreisärztliche Berichte vom 13. Mai und 3. September 1985; Bericht
der Orthopädischen Universitätsklinik Balgrist vom 24. Mai 1985). Die
bisherige körperlich stark belastende Tätigkeit bei der U. AG ist
ihm bei diesen gesundheitlichen Verhältnissen wegen der Gefahr
körperlicher Überbeanspruchung und wegen des erhöhten Unfall- und
Krankheitsrisikos nicht mehr zumutbar. Dagegen darf angenommen werden,
dass ihm leichtere körperliche Arbeit trotz Gesundheitsschaden in
gewissem Rahmen noch möglich gewesen wäre. Aufgrund der zeitlich nur
noch sehr begrenzten Einsatzfähigkeit und der Schonung, die er sich
hiebei hätte auferlegen müssen, dürfte indes die Restarbeitsfähigkeit
kaum mehr in praktisch relevantem Masse verwertbar gewesen sein. Dafür
ist im wesentlichen der Altersfaktor verantwortlich. Denn wie die
untenstehende Invaliditätsbemessung zeigt, wäre der Beschwerdegegner im
mittleren Alter bei gleichem Leiden in wesentlich geringerem Umfange
erwerbsunfähig gewesen, als er es im Dezember 1985 (Rentenbeginn)
war. Das Alter wirkte sich daher im Dezember 1985 erheblich als Ursache
der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit des Beschwerdegegners aus.
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) und Vorinstanz haben
daher zu Recht Art. 28 Abs. 4 UVV zur Anwendung gebracht. Somit ist bei der
Bestimmung des Invaliditätsgrades auf die hypothetischen Erwerbseinkommen
mit und ohne Invalidität abzustellen, welche ein Versicherter im mittleren
Alter bei entsprechendem Gesundheitsschaden erzielen könnte.

Erwägung 3

    3.- a) Die SUVA hat nach den vorliegenden Akten keinen
Einkommensvergleich angestellt, sondern ohne Angabe von Einkommensfaktoren
einen Invaliditätsgrad von 30% (Verfügung vom 19. November 1985)
bzw. 50% (Einspracheentscheid vom 9. Januar 1986) angenommen. Sie hat
dieses Verfahren in der vorinstanzlichen Beschwerdevernehmlassung damit
begründet, dass an die Ermittlung des Invaliditätsgrades nicht zu hohe
Anforderungen gestellt werden dürften, weil dadurch der Verwaltungsaufwand
unverhältnismässig würde und die Praktikabilität nicht mehr gewährleistet
wäre. Dem kann nicht beigepflichtet werden.

    Nach den zu Art. 28 Abs. 2 IVG entwickelten Grundsätzen hat der
Einkommensvergleich in der Regel in der Weise zu erfolgen, dass die
beiden hypothetischen Erwerbseinkommen ziffernmässig möglichst genau
ermittelt und einander gegenübergestellt werden, worauf sich aus der
Einkommensdifferenz der Invaliditätsgrad bestimmen lässt. Insoweit die
fraglichen Erwerbseinkommen ziffernmässig nicht genau ermittelt werden
können, sind sie nach Massgabe der im Einzelfall bekannten Umstände
zu schätzen und die so gewonnenen Annäherungswerte miteinander zu
vergleichen. Wird eine Schätzung vorgenommen, so muss diese nicht
unbedingt in einer ziffernmässigen Festlegung von Annäherungswerten
bestehen. Vielmehr kann auch eine Gegenüberstellung blosser Prozentzahlen
genügen. Das ohne Invalidität erzielbare hypothetische Erwerbseinkommen
ist alsdann mit 100% zu bewerten, während das Invalideneinkommen auf einen
entsprechend kleineren Prozentsatz veranschlagt wird, so dass sich aus der
Prozentdifferenz der Invaliditätsgrad ergibt (sogenannter Prozentvergleich;
BGE 107 V 22 Erw. 2d, 104 V 136 Erw. 2a und b). Diese Regeln gelten
grundsätzlich auch für die Unfallversicherung, soweit nicht Gesetz oder
andere Vorschriften ausdrücklich etwas Abweichendes vorsehen (in BGE
113 V 132 nicht veröffentlichte, jedoch in RKUV 1987 Nr. U 26 S. 389
publizierte Erwägung 8c des Urteils J. vom 27. Mai 1987).

    Zu einer rechtskonformen Invaliditätsbemessung gehört daher
unabdingbar, dass die dafür notwendigen Einkommens- oder Prozentzahlen
ermittelt werden, was mit aller Sorgfalt zu geschehen hat. Darauf kann
nicht mit Berufung auf Praktikabilität und Verhältnismässigkeit des
Verwaltungsaufwandes verzichtet werden. Die massgebenden Zahlen sind
ferner in den Akten festzuhalten, damit der Versicherte in Erfahrung
bringen kann, aufgrund welcher erwerblichen Annahmen die Verwaltung auf
einen bestimmten Invaliditätsgrad erkannt hatte.

    b) Die Invaliditätsbemessung muss auch im Rahmen von Art. 28 Abs. 4
UVV überprüfbar sein. Dass dabei auf Hypothesen abzustellen ist, kann
entgegen der Auffassung der SUVA nicht von der Verpflichtung entbinden,
die Invalidität aufgrund eines Vergleichs von Einkommensgrössen oder
wenigstens einer Gegenüberstellung von Prozentzahlen zu bestimmen. Auch
im Normalfall der Invaliditätsbemessung nach Art. 18 Abs. 2 Satz 2
UVG muss praktisch immer mit zwei Hypothesen gearbeitet werden. Dies
gilt zumal für das Erwerbseinkommen ohne Invalidität, bei welchem
nicht auf den - unter Umständen schon länger zurückliegenden - zuletzt
tatsächlich erzielten Verdienst abgestellt werden darf. Ferner ist auch
das Erwerbseinkommen mit Invalidität dann immer ein hypothetisches,
wenn der Versicherte seine verbliebene Arbeitsfähigkeit nicht mehr oder
nicht in zumutbarem Masse erwerblich verwertet. Im Rahmen von Art. 28
Abs. 4 UVV gilt grundsätzlich nichts anderes. Der Unterschied zwischen
dem Einkommensvergleich nach Art. 18 Abs. 2 Satz 2 UVG und dem nach
Art. 28 Abs. 4 UVV besteht im wesentlichen bloss darin, dass für die
Ermittlung der Vergleichseinkommen in jenem Fall auf das tatsächliche
Alter des Versicherten und in diesem auf dasjenige eines Versicherten in
mittlerem Alter abgestellt wird. Der Unterschied betrifft nicht die Art,
wie der Einkommensvergleich durchzuführen ist, sondern die Elemente,
welche beim Einkommensvergleich zu berücksichtigen sind (RKUV 1987 Nr. U
26 S. 388 Erw. 8b und S. 389 Erw. 8c).

    c) Die Vorinstanz hat demnach das Vorgehen der SUVA zu Recht
beanstandet, anderseits selber aber auch keinen Einkommensvergleich
vorgenommen, sondern hilfsweise auf die vom Arzt geschätzte
medizinisch-theoretische Invalidität abgestellt. Das ist nach dem Gesagten
ebenfalls unzulässig. Die Vorinstanz hat ferner zu Unrecht von einer zu
Lasten der SUVA gehenden Beweislosigkeit gesprochen, denn die für die
Invaliditätsbemessung erforderlichen Einkommensgrössen hätten sich im
Rahmen richtig vorgenommener Aktenergänzungen ohne weiteres ermitteln
lassen. Auf Beweislosigkeit kann grundsätzlich erst erkannt werden,
wenn die von Amtes wegen zu treffenden Ergänzungen der Akten richtig
und vollständig durchgeführt worden sind, was im vorliegenden Fall indes
nicht geschehen ist. Die Vorinstanz hat wohl den Sachverhalt durch eine
Anfrage beim SUVA-Kreisarzt Dr. C. zu erhellen versucht. Doch konnte
diese Vorkehr notwendigerweise nicht zum Ziele führen, weil Dr. C. eine
Frage ("prozentuale Einbusse der Erwerbsfähigkeit") unterbreitet wurde,
deren gültige Beantwortung nicht in den Zuständigkeitsbereich eines
Arztes fällt. Aufgabe des Arztes im Rahmen der Invaliditätsbemessung
ist es, den Gesundheitszustand des Versicherten zu beurteilen und dazu
Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten
Arbeitsunfähigkeit besteht oder eine Arbeitsleistung noch zumutbar ist
(BGE 105 V 158 Erw. 1). Dagegen kann die Invaliditätsbemessung nicht
Sache des Arztes sein. Es war demzufolge verfehlt, Dr. C. die auf eine
Invaliditätsschätzung hinauslaufende Frage nach der "prozentualen Einbusse
der Erwerbsfähigkeit" zu stellen.

Erwägung 4

    4.- a) Bei der Invaliditätsbemessung aufgrund von Art. 28 Abs. 4 UVV
ist von der Frage auszugehen, wie sich der im Zeitpunkt des Rentenbeginns
bestehende versicherte Gesundheitsschaden bei einem Versicherten mittleren
Alters in erwerblicher Hinsicht auswirken würde. Zum Vergleich hat
eine Person mit den gleichen beruflichen und persönlichen Fähigkeiten
zu dienen, wie sie der Rentenbewerber aufweist. Für die hypothetischen
Validen- und Invalideneinkommen ist massgebend, was diese Person auf dem
ihr offenstehenden (ausgeglichenen) Arbeitsmarkt zumutbarerweise verdienen
könnte (missverständlich MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht,
S. 362, der nicht den gesamten Arbeitsmarkt zu berücksichtigen, sondern
einschränkend auf die Erwerbseinkommen abzustellen scheint, die im
bisherigen Betrieb des Versicherten erzielbar wären).