Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 29



114 V 29

8. Auszug aus dem Urteil vom 29. März 1988 i.S. H. gegen Ausgleichskasse
des Kantons Thurgau und Rekurskommission des Kantons Thurgau für die
AHV Regeste

    Art. 15 und 16 IVG: Berufliche Massnahmen; Anspruch beim Vollzug
jugendstrafrechtlicher Erziehungsmassnahmen. Der Vollzug einer
Erziehungsmassnahme des Jugendstrafrechts nach Art. 91 Ziff. 1 StGB steht
dem Anspruch auf Massnahmen beruflicher Art nicht entgegen (Bestätigung
der Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Voraussetzung für den Anspruch auf Leistungen der
Invalidenversicherung ist das Vorhandensein einer Invalidität im Sinne
von Art. 4 Abs. 1 IVG. Die Invalidität gilt als eingetreten, sobald
sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung
erforderliche Art und Schwere erreicht hat (Art. 4 Abs. 2 IVG).

    Gemäss Art. 15 IVG haben Versicherte, die infolge Invalidität in der
Berufswahl oder in der Ausübung ihrer bisherigen Tätigkeit behindert
sind, Anspruch auf Berufsberatung. Die spezielle Invalidität im Sinne
von Art. 15 IVG liegt in der gesundheitlich bedingten Behinderung in der
Berufswahl oder in der Ausübung der bisherigen Tätigkeit des an sich zur
Berufswahl fähigen Versicherten (ZAK 1977 S. 191 Erw. 2). In Betracht
fällt jede körperliche oder psychische Beeinträchtigung, die den Kreis
der für den Versicherten nach seiner Eignung und Neigung möglichen
Berufe oder Betätigungen einengt oder die Ausübung der bisherigen
Aufgabe unzumutbar macht. Ausgeschlossen sind geringste Behinderungen,
die keine nennenswerte Beeinträchtigung zur Folge haben und deshalb
die Inanspruchnahme der Invalidenversicherung nicht rechtfertigen
(MEYER-BLASER, Zum Verhältnismässigkeitsgrundsatz im staatlichen
Leistungsrecht, Diss. Bern 1985, S. 157).

    b) Versicherte, die noch nicht erwerbstätig waren und denen infolge
Invalidität bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung in wesentlichem
Umfange zusätzliche Kosten entstehen, haben nach Art. 16 Abs. 1 IVG
Anspruch auf Ersatz dieser Kosten, sofern die Ausbildung den Fähigkeiten
des Versicherten entspricht. Als erstmalige berufliche Ausbildung
gilt laut Art. 5 Abs. 1 IVV jede Berufslehre oder Anlehre sowie, nach
Abschluss der Volks- oder Sonderschule, der Besuch einer Mittel-, Fach-
oder Hochschule und die berufliche Vorbereitung auf eine Hilfsarbeit oder
auf die Tätigkeit in einer geschützten Werkstätte.

    Als invalid im Sinne von Art. 16 IVG gilt, wer aus gesundheitlichen
Gründen bei einer seinen Fähigkeiten entsprechenden Ausbildung erhebliche
Mehrkosten auf sich nehmen muss. Bezüglich psychischer Beeinträchtigungen
sind die von der Rechtsprechung zum invalidisierenden geistigen
Gesundheitsschaden (Art. 4 Abs. 1 IVG) entwickelten Grundsätze (BGE 102
V 165) auch im Bereich des Art. 16 IVG massgeblich; dabei ist jedoch nicht
die Erwerbstätigkeit, sondern der beabsichtigte Ausbildungsgang Bezugspunkt
(MEYER-BLASER, aaO, S. 162 f.).

Erwägung 2

    2.- Für den Beschwerdeführer wurde bei der Invalidenversicherung
einerseits um Berufsberatung (Anmeldung vom 23. September 1986) und
anderseits um Beiträge an die Kosten der erstmaligen beruflichen Ausbildung
(Anmeldung vom 20. Mai 1986; Abklärungsauftrag an die Regionalstelle
auf Veranlassung der Jugendanwaltschaft) nachgesucht. Verwaltung
und Vorinstanz haben den Anspruch des Beschwerdeführers auf
berufliche Eingliederungsmassnahmen nur nach Massgabe von Art. 16 IVG
geprüft. Gleichwohl ist der Anspruch im vorliegenden Verfahren im Lichte
von Art. 15 IVG und Art. 16 IVG zu beurteilen, da alle Massnahmen
beruflicher Art, die im Landheim B. durchgeführt werden, Streit- und
Anfechtungsgegenstand bilden.

    a) Während Invalidenversicherungs-Kommission und Vorinstanz das
Vorliegen einer Invalidität im Sinne von Art. 4 und Art. 16 IVG verneint
haben, macht das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) geltend, eine
abschliessende Stellungnahme zu dieser Frage sei noch nicht möglich,
weil zunächst der Erfolg der "polizeilichen Massnahme" abzuwarten sei.

    b) Diesen Auffassungen kann nicht gefolgt werden. Die Argumentation
des BSV, dass "eine polizeiliche Massnahme, wie sie vorliegend erfolgte,
allfälligen IV-Massnahmen immer vorgeht, weil sie u.a. in die Freiheit
des Eingewiesenen eingreift und ihn einem Zwang unterwirft, der seine
Kapazitäten im beruflichen Bereich durch die im Massnahmenvollzug
geforderten Tätigkeiten bindet und so keinen Raum mehr für IV-Massnahmen
lässt", geht am Kern der Sache vorbei. Im vorliegenden Fall geht
es nicht um eine polizeiliche Massnahme, sondern um eine vorsorglich
angeordnete Erziehungsmassnahme des Jugendstrafrechts im Sinne von Art. 91
Ziff. 1 Abs. 1 StGB (Unterbringung in einem Erziehungsheim). Nach Art.
98 Abs. 1 und 2 StGB hätte die Jugendanwaltschaft von dieser Massnahme
absehen können, wenn die Invalidenversicherung früher geeignete
berufliche Massnahmen gewährt hätte. Eine Priorität strafrechtlicher
Massnahmen vor solchen der Invalidenversicherung besteht nicht. Wie
das Eidg. Versicherungsgericht im Urteil F. vom 27. November 1987 (ZAK
1988 S. 176) entschieden hat, sind nach Art. 16 IVG selbst Versicherte
anspruchsberechtigt, die wegen Alkoholmissbrauchs oder Drogensucht gestützt
auf Art. 44 Ziff. 1 bzw. Ziff. 6 StGB in eine Heilanstalt eingewiesen
wurden. Dasselbe gilt umso mehr auch bei jugendstrafrechtlichen Massnahmen,
wie das Eidg. Versicherungsgericht bereits in EVGE 1969 S. 108 und
ZAK 1970 S. 120 (Massnahmen nach Art. 92 StGB in der damals geltenden
Fassung) festgestellt hat. Der Umstand, dass die urteilende Behörde
dem Jugendlichen laut Art. 91 Ziff. 1 Abs. 3 StGB jederzeit Weisungen
u.a. über die Erlernung eines Berufes erteilen kann, steht dem nicht
entgegen; allerdings ist in einem solchen Falle ein Zusammenwirken oder
zumindest eine Koordination der Tätigkeit der Jugendstrafbehörde mit den
Organen der Invalidenversicherung erforderlich.

    c) Das Gutachten der Externen Psychiatrischen Dienste des
Kantons Thurgau vom 20. März 1987 enthält die Diagnosen: "Verzögerte
Persönlichkeitsentwicklung mit Einschränkungen im affektiven Bereich, mit
verminderter Belastbarkeit und Leistungsverminderung, mit unausgereifter
Beziehungsfähigkeit. Geistige Minderbegabung. Schwerhörigkeit
beidseits." Abschliessend stellen die Ärzte fest, dass wirkungsvolle
Hilfe nur ein Heim mit pädagogisch-therapeutischem Rahmen geben
könne. Der Beschwerdeführer sei zur Zeit nicht in der Lage, auf
Dauer eine Arbeit in der freien Marktwirtschaft auszuüben. Die
Regionalstelle bestätigt im Bericht vom 9. Juli 1986, dass mehrere
Versuche, den Beschwerdeführer in der freien Wirtschaft auszubilden,
an der verminderten geistigen Beweglichkeit und der Hörbehinderung
gescheitert sind. Aufgrund dieser übereinstimmenden Ausführungen ist davon
auszugehen, dass der Beschwerdeführer invaliditätsbedingt auf berufliche
Eingliederungsmassnahmen angewiesen ist. Das Bestehen einer Invalidität hat
im übrigen die Invalidenversicherung früher selbst angenommen, als sie dem
Beschwerdeführer mit Verfügung vom 15. Juni 1976 Sonderschulmassnahmen nach
Art. 19 IVG gewährte. Wenn die kantonale Rekurskommission die Invalidität
verneint hat, weil der Intelligenzquotient des Beschwerdeführers die
Grenze gemäss Art. 9 Abs. 1 lit. a IVV überschreite, hat sie verkannt,
dass nebst der geistigen Minderbegabung eine beidseitige Schwerhörigkeit
vorliegt (Art. 9 Abs. 1 lit. e IVV), was nach Abs. 2 der zitierten
Verordnungsbestimmung für eine (sonderschul-)leistungsbegründende
Invalidität ausreicht. Im übrigen ist zu beachten, dass für berufliche
Massnahmen - im Gegensatz zu den Sonderschulmassnahmen - in der IVV
kein bestimmter Intelligenzquotient festgelegt ist. Im Urteil P. vom
22. Juni 1982 (ZAK 1982 S. 456) hat das Eidg. Versicherungsgericht zwar
die damals geltende Verwaltungspraxis, wonach der für die Beiträge
an die Sonderschulung festgelegte Intelligenzquotient in der Regel
auch für berufliche Eingliederungsmassnahmen massgebend sei (Rz. 10 der
Wegleitung des BSV über Invalidität und Hilflosigkeit in der Fassung vom 1.
Januar 1979), nicht beanstandet, dies aber nur unter dem Vorbehalt von
Ausnahmen in besonders gelagerten Fällen.

    d) Gestützt auf das Gutachten der Externen Psychiatrischen
Dienste des Kantons Thurgau (vom 18. Mai 1987) und die Abklärungen der
Regionalstelle ist als erstellt zu betrachten, dass der Beschwerdeführer,
auch ohne straffällig zu werden, aus invaliditätsbedingten Gründen
berufliche Massnahmen benötigt hätte. Die Invalidenversicherung ist
daher grundsätzlich leistungspflichtig. Dass die Eingliederung mit dem
jugendstrafrechtlichen Massnahmenvollzug zusammenfällt, ist nach dem
Gesagten unerheblich.