Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 266



114 V 266

49. Urteil vom 3. November 1988 i.S. T. gegen Schweizerische Krankenkasse
Helvetia und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a KUVG, Art. 21 Abs. 1 Vo III:
Pflichtleistungen der Krankenkassen.

    - Die Diät-/Diabetesberatung ist Bestandteil der ärztlichen
Diabetestherapie und füllt daher unter den Begriff der wissenschaftlich
anerkannten therapeutischen Massnahmen (Erw. 1).

    - Die ambulante Behandlung, die auf Anordnung eines Belegarztes unter
dessen Aufsicht oder unter derjenigen eines verantwortlichen Spitalarztes
in einer Heilanstalt durch das dort angestellte unselbständige medizinische
Hilfspersonal ausgeführt wird, ist der ärztlichen Behandlung zuzurechnen
und gehört daher zu den Pflichtleistungen der Krankenkassen (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Annelies T. ist bei der Schweizerischen Krankenkasse Helvetia
u.a. für Krankenpflege versichert. Anfangs 1986 begab sie sich wegen
akuter Zuckerkrankheit in die Behandlung des Dr. T., Spezialarzt
für Stoffwechselkrankheiten und Professor für Diabetologie an der
Universität Bern. Dieser verordnete ihr Insulinbehandlung und wies
sie zur ausführlichen Diät-/Diabetesberatung der Ernährungsberatung des
Lindenhofspitals zu. Dieses stellte ihr am 6. August 1986 Rechnung in
der Höhe von Fr. 114.70.

    Mit Verfügung vom 10. Dezember 1986 weigerte sich die Kasse,
an die Diät-/Diabetesberatung Leistungen zu erbringen, weil diese
durch Schwestern oder sogenannte Diätassistentinnen erfolge, die keine
medizinischen Hilfspersonen im Sinne des Gesetzes seien. Zudem könnten
solche Beratungen auch nicht als Krankheitsbehandlung gelten.

    B.- Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde der Annelies T. wurde
am 12. Mai 1987 vom Versicherungsgericht des Kantons Bern abgewiesen mit
der Begründung: Da die Ernährungsberaterin in keinem Anstellungsverhältnis
zu Prof. T. stehe und von diesem auch nicht beaufsichtigt werde, sei
sie keine unselbständige medizinische Hilfsperson, deren Tätigkeit im
Sinne von Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a KUVG der ärztlichen Behandlung
des Prof. T. zugerechnet werden könnte. Und weil die Ernährungsberaterin
nicht in der bundesrätlichen Verordnung VI betreffend die Zulassung von
medizinischen Hilfspersonen zur Betätigung für die Krankenversicherung
aufgeführt sei und im vorliegenden Fall zudem ihren Beruf nicht auf eigene
Rechnung, sondern im Dienste des Lindenhofspitals ausübe, gehöre sie auch
nicht zu den in Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. b KUVG erwähnten selbständigen
medizinischen Hilfspersonen, deren Tätigkeit grundsätzlich ebenfalls zu
den Pflichtleistungen der Krankenkassen gehören.

    C.- Annelies T. erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag,
die Kasse sei zu verpflichten, die Kosten der Diät-/ Diabetesberatung
gemäss Rechnung vom 6. August 1986 zu übernehmen.

    Die Kasse beantragt die Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Zur Begründung wird im wesentlichen
vorgebracht: Selbst wenn die Diabetesberatung als wissenschaftlich
anerkannte Heilanwendung gelten würde, wäre die Leistungspflicht der Kasse
trotzdem zu verneinen, weil die Diätassistentinnen die in der bereits
erwähnten Verordnung VI aufgestellten Anforderungen für die Zulassung als
selbständige medizinische Hilfspersonen nicht erfüllten. Als unselbständige
Hilfspersonen könnten die Diätberaterinnen des Lindenhofspitals deshalb
nicht behandelt werden, weil sie ihre Tätigkeit nicht unter der direkten
Kontrolle des Prof. T. ausübten und dieser nicht in persönlichen Kontakt
zum Patienten trete.

    In seiner ersten Vernehmlassung vom 14. Oktober 1987 zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde hat das Bundesamt für Sozialversicherung
darauf hingewiesen, dass die Diabetikerberatung nach der an der
Sitzung vom 27. August 1987 der Eidgenössischen Fachkommission für
allgemeine Leistungen der Krankenversicherung vertretenen Auffassung
als Teil der ärztlichen Diabetesbehandlung zu betrachten sei, wobei die
Wissenschaftlichkeit als gegeben vorausgesetzt werde. Bezüglich der Frage,
ob die Ernährungsberaterinnen selbständige medizinische Hilfspersonen
seien bzw. ob im vorliegenden Fall von einer der ärztlichen Tätigkeit
zuzurechnenden Hilfsfunktion unselbständiger medizinischer Hilfspersonen
gesprochen werden könne, teilte das Bundesamt jedoch die Auffassung
des kantonalen Richters mit dem Ergebnis, dass es die Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragte.

    Nach Abschluss des ersten Schriftenwechsels hat Prof. T. dem Eidg.
Versicherungsgericht ein Schreiben des Bundesamtes an die Schweizerische
Diabetesgesellschaft vom 22. Oktober 1986 unterbreitet. Gestützt darauf
gab das Gericht dem Bundesamt erneut Gelegenheit, sich zum Problem der
Anerkennung der Diabetikerberatung als Pflichtleistung der Krankenkassen
zu äussern. Auf seine Stellungnahme vom 23. März 1988, mit welcher das
Bundesamt auf seinen ursprünglich gestellten Abweisungsantrag verzichtet,
wird in den rechtlichen Erwägungen zurückzukommen sein.

    Die Kasse weist mit Schreiben vom 20. April 1988 darauf hin, dass
die Eidgenössische Fachkommission am 27. August 1987 den Krankenkassen
lediglich empfohlen habe, für die Diabetikerinstruktion Leistungen zu
erbringen. Diese sei nach wie vor keine gesetzliche Pflichtleistung,
weshalb sie an ihrem Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
festhalte.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 KUVG haben die Leistungen der
Krankenkassen bei ambulanter Behandlung mindestens die ärztliche
Behandlung (lit. a) und die von einem Arzt angeordneten, durch medizinische
Hilfspersonen vorgenommenen, wissenschaftlich anerkannten Heilanwendungen
(lit. b) zu umfassen. Die zur gesetzlichen Pflichtleistung gehörende
ärztliche Behandlung umfasst gemäss Art. 21 Abs. 1 Vo III über die
Krankenversicherung betreffend die Leistungen der vom Bund anerkannten
Krankenkassen die vom Arzt vorgenommenen, wissenschaftlich anerkannten
diagnostischen und therapeutischen Massnahmen. Ist eine therapeutische
oder diagnostische Massnahme wissenschaftlich umstritten, so entscheidet
das Eidgenössische Departement des Innern nach Anhören der vom Bundesrat
bestellten Fachkommission (Art. 26 Vo III), ob sie als Pflichtleistung
zu übernehmen ist (Art. 21 Abs. 2 Vo III).

    In ihrem ersten leistungsverweigernden Schreiben an die
Beschwerdeführerin vom 9. September 1986 berief sich die Kasse darauf,
dass es sich bei der Diät-/Diabetesberatung nicht um eine wissenschaftlich
anerkannte Heilmethode handle, eine Begründung, die sie im Entscheid
vom 6. November 1986 und in der Verfügung vom 10. Dezember 1986 nicht
mehr aufrechterhielt. Hingegen scheint sie in ihrer Antwort auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneut darauf zurückzukommen, wenn sie
ausführt: "Auch wenn man vom Vorliegen einer wissenschaftlich anerkannten
Heilanwendung ausgehen müsste", erfülle die Ernährungsberaterin die in
der Verordnung VI vorgesehenen Anforderungen nicht. Der kantonale Richter
seinerseits hat die Frage, ob es sich um eine wissenschaftlich anerkannte
Heilmethode handle, offengelassen.

    In der bundesamtlichen Vernehmlassung vom 14. Oktober 1987 wird
dargelegt, dass die Beratung und Instruktion der Diabetiker nicht als
eine selbständige Heilbehandlungsmethode, sondern als Teil der ärztlichen
Diabetesbehandlung zu betrachten sei. Die Wissenschaftlichkeit werde
von der Eidgenössischen Fachkommission für allgemeine Leistungen der
Krankenversicherung als gegeben vorausgesetzt. Das Bundesamt verweist
auf das Protokoll der Sitzung der Fachkommission vom 27. August 1987,
aus dem mit aller Deutlichkeit hervorgeht, dass die Kommission die
Diabetikerberatung als unerlässlichen Bestandteil der Diabetestherapie
betrachtet, deren Wissenschaftlichkeit von keiner Seite bestritten
wird. Diese Beratung, die fraglos auch zweckmässig und wirtschaftlich ist,
gehört daher zu den Pflichtleistungen der Krankenkasse.

Erwägung 2

    2.- Eine andere Frage ist es, ob die Kasse im vorliegenden Fall
trotzdem die Übernahme der Diät-/Diabetesberatung verweigern durfte mit
der Begründung, die Diabetesberaterin des Lindenhofspitals verrichte ihre
Tätigkeit nicht unter direkter ärztlicher Aufsicht. Die Kasse beruft sich
auf die Rechtsprechung zu Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a KUVG, wonach
unter den Begriff der hier als Pflichtleistung aufgeführten ärztlichen
Behandlung nur Massnahmen fallen würden, die unter direkter Kontrolle
des Arztes durch das beim Arzt angestellte unselbständige medizinische
Hilfspersonal vorgenommen werden und bei deren Durchführung der Arzt
in persönlichen Kontakt zum Patienten trete. Die Aufsichtstätigkeit des
Prof. T. entspreche diesen Anforderungen nicht.

    a) Nach der Rechtsprechung fallen unter den Begriff der ärztlichen
Behandlung gemäss Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a KUVG in gewissen
Grenzen auch solche Massnahmen, die durch das beim Arzt angestellte
unselbständige medizinische Hilfspersonal vorgenommen werden. Voraussetzung
ist allerdings - wie die Kasse zutreffend bemerkt -, dass diese Massnahmen
unter der direkten Kontrolle des Arztes verrichtet werden und dass dieser
bei der Durchführung in persönlichen Kontakt zum Patienten tritt. Das
Eidg. Versicherungsgericht hat aber auch darauf hingewiesen, dass diese
persönliche Kontaktaufnahme im Zusammenhang mit der Aufsichtspflicht des
Arztes zu prüfen ist. Dieser hat die therapeutischen Verrichtungen seiner
Hilfsperson zu beaufsichtigen, weil die Gewähr bestehen soll, dass er
nötigenfalls unverzüglich eingreifen oder auf eine angeordnete Massnahme
zurückkommen kann. Das Gericht hat aber ausdrücklich entschieden, vom
Arzt könne vernünftigerweise nicht als Regel verlangt werden, dass er
den Ablauf der übertragenen Therapie in jedem Fall mit eigenen Augen
dauernd überwache und unmittelbar mitverfolge. Der Arzt habe nach
medizinischen und berufsethischen Gesichtspunkten zu entscheiden, wie
intensiv Überwachung und Kontrolle gestaltet werden müssen (BGE 110 V 191,
107 V 52 und 100 V 4 Erw. 2a).

    b) Der Versicherte kann nach Art. 15 Abs. 1 KUVG unter den an seinem
Aufenthaltsort oder in dessen Umgebung praktizierenden Ärzten frei
wählen, und gemäss Art. 19bis Abs. 1 KUVG steht ihm auch die Wahl unter
den inländischen Heilanstalten frei. Nach der Rechtsprechung hat dieses
gesetzlich verankerte Prinzip der freien Arzt- und Spitalwahl sinngemäss
auch für die Wahl des Ambulatoriums einer Heilanstalt seine Gültigkeit
(RKUV 1985 Nr. K 620 S. 78). Dem Bundesamt ist darin beizupflichten,
dass das Recht auf freie Arztwahl auch dann zu gelten hat, wenn der
vom Versicherten gewählte Vertragsarzt durch einen Belegarztvertrag
mit einer Heilanstalt verbunden ist und damit allenfalls einen Teil
seiner ambulanten Behandlung unter seiner eigenen Aufsicht oder unter
derjenigen eines verantwortlichen Spitalarztes durch das am Spital
angestellte unselbständige medizinische Hilfspersonal ausführen lässt. Die
gegenteilige Auffassung der Kasse würde zu einer unzulässigen Beschränkung
des gesetzlich und durch die Praxis garantierten Rechts auf freie Wahl
des Arztes und des Ambulatoriums führen.

    c) Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass der auf Diabetologie
spezialisierte Prof. T. als Belegarzt mit dem Lindenhofspital verbunden
und überdies für alle Diabetesbelange in dieser Heilanstalt verantwortlich
ist. Wie das Bundesamt mit Recht bemerkt, liegt es auf der Hand, dass
er unter diesen Umständen keine eigene Diabetesberaterin in seiner
Privatpraxis beschäftigt. Es wäre willkürlich, die Beschwerdeführerin
deswegen krankenversicherungsrechtlich anders zu behandeln als die
Patientin eines Spezialarztes, dem keine entsprechende Spitalinfrastruktur
zur Verfügung steht.

    Unerheblich ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass das
Lindenhofspital der Beschwerdeführerin für die Diät-/Diabetesberatung
direkt Rechnung gestellt hat, denn es gibt - wie das Bundesamt bemerkt
- verschiedene Belegärzte, die für ihre Behandlung im Lindenhofspital
durch dieses direkt Rechnung stellen lassen und dies gerade auch deshalb,
weil sie die Möglichkeit haben, die dortige Infrastruktur zu benützen.

    Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Diät-/Diabetesberatung der
Beschwerdeführerin im Lindenhofspital der ärztlichen Behandlung im Sinne
von Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a KUVG zuzurechnen ist, an welche die
Kasse ihre gesetzlichen und statutarischen Leistungen zu erbringen hat.

Entscheid:

       Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 12. Mai 1987
sowie die Kassenverfügung vom 10. Dezember 1986 aufgehoben, und es
wird die Schweizerische Krankenkasse Helvetia verpflichtet, an die
Diät-/Diabetesberatung laut Rechnung des Lindenhofspitals vom 6. August
1986 die gesetzlichen und statutarischen Leistungen zu erbringen.