Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 225



114 V 225

45. Auszug aus dem Urteil vom 22. Dezember 1988 i.S. M. gegen
Ausgleichskasse des Kantons Schaffhausen und Obergericht des Kantons
Schaffhausen Regeste

    Art. 28 Abs. 2 und Art. 29 Abs. 1 IVG: Statut des Strafgefangenen
in der Invalidenversicherung. Die Wartezeit kann auch Zeiten der
Strafverbüssung umfassen. Der Versicherungsfall tritt grundsätzlich
nach Ablauf der Wartezeit ein, ungeachtet der Tatsache, dass sich der
Versicherte noch im Strafvollzug befindet. Ein Einkommensvergleich ist zu
diesem Zeitpunkt jedoch nur vorzunehmen, wenn der Versicherte Anspruch
auf Zusatzrenten hat. Andernfalls hat die Invaliditätsschätzung erst
bei der Entlassung aus dem Strafvollzug zu erfolgen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Das Eidg. Versicherungsgericht hat in seiner früheren
Rechtsprechung, auf welche sich das kantonale Gericht bezieht,
angenommen, dass eine Inhaftierung von einer gewissen Dauer - sei es als
Untersuchungshaft oder zum Zwecke des Strafvollzuges - eine Änderung
des rechtlichen Status des Versicherten bewirke, dessen Invalidität
nach den Kriterien der Erwerbsunfähigkeit bemessen worden ist. Da die
Ausübung einer Erwerbstätigkeit in beiden Fällen der Inhaftierung in der
Regel ausgeschlossen ist, wurde der Versicherte als Nichterwerbstätiger
betrachtet und konnte als solcher keine Rente beanspruchen, sofern er
in seinem üblichen Aufgabenbereich, der in der Verbüssung der Strafe
besteht, nicht behindert ist (BGE 110 V 288 Erw. 2b, 107 V 222 Erw. 2,
102 V 170 Erw. 2).

    In BGE 113 V 273 hat das Eidg. Versicherungsgericht in Änderung
seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, die Tatsache, dass der
Bezüger einer Invalidenrente eine Freiheitsstrafe verbüsst, stelle keinen
Revisionsgrund im Sinne von Art. 41 IVG dar. Dies bedeutet aber nicht,
dass die Rente während des Vollzuges einer Strafe oder Massnahme weiter
ausgerichtet werden muss. Wie das Gericht unter Berufung auf verschiedene
Normen des internationalen Rechts der Sozialen Sicherheit sowie Art. 43
MVG dargelegt hat, bildet die Inhaftierung (oder jede andere Form eines
durch eine Strafbehörde angeordneten Freiheitsentzuges, einschliesslich
des Aufenthaltes in einer Arbeitserziehungsanstalt) einen Grund für die
Sistierung - und nicht mehr für die Revision - des Anspruches auf eine
Rente der Invalidenversicherung. Da der Rentenanspruch als solcher bestehen
bleibt, ist daraus abzuleiten, dass der Strafantritt nicht mehr wie bisher
zu einer Einstellung der Zusatzrenten führt, sondern diese im Gegenteil
weiter ausgerichtet werden müssen (BGE 113 V 277 Erw. 2b und 278 Erw. 2c).

    b) Das Eidg. Versicherungsgericht hat bereits unter der Geltung der
früheren Rechtsprechung, welche die Inhaftierung eines Versicherten
als Revisionsgrund infolge Statuswechsels betrachtete, entschieden,
dass die Wartezeit auch Zeiten der Strafverbüssung einschliessen könne,
während denen der Versicherte, wenn er sich in Freiheit befunden hätte,
in dem von Art. 29 Abs. 1 IVG geforderten Ausmass arbeitsunfähig
gewesen wäre. Es hat sodann erkannt, dass für die Berechnung der
durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeit von den tatsächlichen oder
wahrscheinlichen Verhältnissen nach der Strafentlassung auszugehen sei
(BGE 102 V 170 Erw. 2).

    Konnte jedoch die Wartezeit auch gemäss der früheren Rechtsprechung
Zeiten der Strafverbüssung umfassen, obwohl eine Statusänderung angenommen
wurde, muss dies um so mehr im Lichte der neuen Rechtsprechung gelten,
nach welcher der Strafvollzug keine Statusänderung darstellt und die
Rente lediglich sistiert wird.

    c) In seiner früheren Rechtsprechung nahm das
Eidg. Versicherungsgericht an, der Versicherungsfall trete erst nach
der Strafverbüssung ein (BGE 102 V 170 Erw. 2). Nachdem nunmehr eine
Statusänderung verneint wird und die Wartezeit auch während der Dauer des
Freiheitsentzuges weiterläuft, tritt der Versicherungsfall grundsätzlich
nach Ablauf der Wartezeit ein, ungeachtet der Tatsache, dass sich
der Versicherte noch im Strafvollzug befindet. Dabei ist allerdings
zu beachten, dass die Rente zu sistieren ist, solange der Strafvollzug
andauert. Der Invaliditätsgrad des Strafgefangenen ist nach der allgemeinen
Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG) zu ermitteln. Dem
Einkommen, das der Versicherte ohne Invalidität erzielen könnte, ist
als Invalideneinkommen dasjenige Erwerbseinkommen gegenüberzustellen,
das er trotz seiner Behinderung mit einer zumutbaren Tätigkeit auf
dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt erlangen könnte. Die Tatsache, dass
der Versicherte sich im Strafvollzug befindet, ist somit in bezug auf
die Festlegung der hypothetischen Einkommen mit und ohne Invalidität
unerheblich; die Invaliditätsschätzung hat in gleicher Weise zu erfolgen,
wie wenn der Versicherte in Freiheit wäre.

    d) Den Akten ist nicht zu entnehmen, ob und gegebenenfalls in
welchem Umfang der Beschwerdeführer, der sich ab 31. Oktober 1986 in
Untersuchungshaft und anschliessend im Strafvollzug befand, seit Beginn
der Wartezeit am 1. Januar 1986 arbeitsunfähig ist. Ebenso fehlen Angaben
in erwerblicher Hinsicht, welche die Festlegung des Invaliditätsgrades nach
Ablauf der Wartezeit aufgrund eines Einkommensvergleichs ermöglichten. Aus
diesen Gründen müsste die Sache zur Vornahme ergänzender Abklärungen
und zu neuer Verfügung an die Verwaltung zurückgewiesen werden. Im
vorliegenden Fall kann jedoch von einer Rückweisung abgesehen werden. Der
Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Er hätte somit keinen Anspruch
auf Zusatzrenten für Angehörige. Da eine ihm nach Ablauf der Wartezeit am
26. Dezember 1986 allenfalls zustehende Invalidenrente während der Dauer
des Strafvollzuges zu sistieren wäre (vgl. Erw. 3a hievor), erweist sich
eine Sachverhaltsergänzung im gegenwärtigen Zeitpunkt als unnötig. Eine
solche wird die Verwaltung bei der Entlassung des Beschwerdeführers
aus dem Strafvollzug vorzunehmen haben. Sollten zu jenem Zeitpunkt die
gesetzlichen Voraussetzungen für den Rentenanspruch erfüllt sein, wird
dem Beschwerdeführer die Rente ab dem Monat, in welchem er entlassen wird,
ausgerichtet werden (BGE 113 V 279 Erw. 2d).

    Anders wäre hingegen vorzugehen, wenn die Invalidenrente eines
Strafgefangenen Zusatzrenten auslösen kann. In einem solchen Fall
müsste nach Ablauf der Wartezeit ein Einkommensvergleich vorgenommen
werden. Ergäbe sich daraus eine rentenbegründende Invalidität, wäre
zwar die Rente des Strafgefangenen zu sistieren, die Zusatzrenten jedoch
müssten den Angehörigen ausbezahlt werden.