Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 219



114 V 219

44. Auszug aus dem Urteil vom 29. September 1988 i.S. U. gegen
Ausgleichskasse des Schweizerischen Baumeisterverbandes und Kantonale
Rekurskommission Uri für die AHV/IV/EO Regeste

    Art. 52 AHVG: Arbeitgeberhaftung. Bestätigung der Rechtsprechung
bezüglich

    - der subsidiären Organhaftung (Erw. 3);

    - des strengen Verschuldensmassstabes auch bei der Delegation von
Geschäftsführungskompetenzen (Erw. 4a).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer Alfred U. ersucht in erster Linie um eine
Überprüfung der Rechtsprechung zu Art. 52 AHVG, gemäss welcher die Organe
einer Aktiengesellschaft subsidiär haftbar sein können. Er beruft sich auf
den Wortlaut dieser Bestimmung und die in der Lehre erhobene Kritik, wonach
die Ausdehnung der Haftpflicht auf Organe nicht unbedenklich sei (MAURER,
Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. II, S. 67; FORSTMOSER,
Aktienrechtliche Verantwortlichkeit, 2. Aufl., S. 305, N. 1071).

    a) Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von Erlassen stets
von einem Methodenpluralismus leiten lassen und nur dann allein auf die
grammatikalische Auslegungsmethode abgestellt, wenn sich daraus zweifellos
eine sachlich richtige Lösung ergab (BGE 110 Ib 8). Wohl ist das Gesetz in
erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist indessen der Text nicht
klar bzw. sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren
Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente,
namentlich der Auslegung nach dem Zweck, nach dem Sinn und nach den
dem Text zugrundeliegenden Wertungen. Wichtig ist ebenfalls der Sinn,
der einer Norm im Kontext zukommt (BGE 112 V 171 Erw. 3a mit Hinweisen;
MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. I, S. 227).

    b) Bei der Auslegung des in Art. 52 AHVG für das Haftungssubjekt
verwendeten Begriffs "Arbeitgeber" ist das Eidg. Versicherungsgericht
davon ausgegangen, dass dem Arbeitgeber bezüglich der in Art. 14 Abs. 1
AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV statuierten öffentlichrechtlichen
Pflicht zum Bezug, zur Ablieferung und zur Abrechnung der paritätischen
Sozialversicherungsbeiträge die Stellung eines gesetzlichen Vollzugsorgans
zukommt. Die Haftung des Arbeitgebers gemäss Art. 52 AHVG bildet das
Korrelat zu dieser öffentlichrechtlichen Organstellung (BGE 112 V 155
Erw. 5, 96 V 124; ZAK 1987 S. 208 Erw. 5). Kommt dem Arbeitgeber
bezüglich Bezug, Ablieferung und Abrechnung der paritätischen
Sozialversicherungsbeiträge Organstellung bei der Durchführung
verschiedener Zweige der bundesrechtlichen Sozialversicherung zu,
untersteht er dem Verantwortlichkeitsrecht des Bundes. Art. 52 AHVG
bildet innerhalb des Systems des Verantwortlichkeitsgesetzes (VG) eine
Spezialbestimmung. Hingegen sind die diesem Gesetz zugrunde liegenden
allgemeinen Rechtsnormen auch bei der Auslegung von Art. 52 AHVG
heranzuziehen. Hier fällt insbesondere auf, dass im Bereich der internen
Haftung, auch wenn die öffentliche Aufgabe einer Organisation übertragen
ist, primär der Schadensverursacher persönlich und die Organisation erst
subsidiär haftet (Art. 19 VG). Es fehlen Anhaltspunkte für die Annahme,
dass Art. 52 AHVG diese Verantwortlichkeit der für die Organisation
handelnden Personen hätte wegbedingen wollen. Es handelt sich vielmehr
um die Umkehrung des allgemeinen Grundsatzes, indem nach dem klaren
Wortlaut dieser Bestimmung primär der Arbeitgeber, also gegebenenfalls
die Organisation haftet. Daneben muss im Hinblick auf den erwähnten
allgemeinen Grundsatz aber auch die - wenigstens subsidiäre - Haftung der
handelnden Personen angenommen werden. Dass eine solche Haftung allgemeinen
Rechtsgrundsätzen entspricht, ergibt sich ferner aus der im Privatrecht
getroffenen Regelung hinsichtlich der Haftung der Organe einer juristischen
Person (vgl. Art. 55 Abs. 3 ZGB und Art. 754 OR; BGE 96 V 125).

    c) Nach Auffassung von MAURER, Schweizerisches
Sozialversicherungsrecht, Bd. II, S. 67, N. 62, lässt diese Argumentation
ausser acht, dass Art. 19 VG nur hoheitliches Handeln im Auge habe;
der Arbeitgeber besitze aufgrund des AHVG keine hoheitliche Gewalt.

    Indessen setzt die Haftung nach Art. 19 Abs. 1 VG lediglich voraus,
dass "ein Organ oder ein Angestellter einer mit öffentlichrechtlichen
Aufgaben des Bundes betrauten und ausserhalb der ordentlichen
Bundesverwaltung stehenden Organisation in Ausübung der mit diesen
Aufgaben verbundenen Tätigkeit" einen Schaden verursacht. Die dem
Arbeitgeber durch Art. 14 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV
übertragenen Pflichten zum Bezug, zur Ablieferung und Abrechnung der
paritätischen Sozialversicherungsbeiträge sind eine öffentlichrechtliche
Aufgabe im Sinne des zitierten Art. 19 Abs. 1 VG. Hoheitliche Tätigkeit
liegt stets vor, wo ein Rechtsverhältnis einseitig durch öffentliches
Recht geregelt ist und der Private in einem Subordinationsverhältnis zum
Staat steht. In diesem Sinne ist die Rechtsstellung des Arbeitgebers
beim Bezug, der Ablieferung und der Abrechnung der paritätischen
Sozialversicherungsbeiträge hoheitlich. Die Bezugnahme auf die
Grundsätze des Staatshaftungsrechts des Bundes für die Auslegung
von Art. 52 AHVG ist daher zulässig. Nichts anderes kann für den vom
Beschwerdeführer gerügten Rückgriff auf die privatrechtlichen Grundsätze
über die Haftung der Organe einer juristischen Person gelten. Enthält
das Privatrecht Rechtsgrundsätze, die im öffentlichen Recht fehlen,
dürfen diese zur Auslegung und Ergänzung unklarer oder lückenhafter
Bestimmungen des Sozialversicherungsrechtes herangezogen werden - dies
unter Berücksichtigung ihres Normzwecks und der ihnen zugrundeliegenden
Interessenlage (GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. I, S. 120 f.;
MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. I, S. 234 f. mit
Hinweisen). Eine Auslegung des Begriffs "Arbeitgeber" in Art. 52 AHVG
ohne Beachtung der privatrechtlichen Rechtsgrundsätze zur Haftung der
Organe einer juristischen Person würde zum stossenden Ergebnis führen,
dass die für die Verletzung von Vorschriften im Sinne dieser Bestimmung
Verantwortlichen überhaupt nicht belangt werden könnten, sofern sie
als Organ einer juristischen Person gehandelt haben. Die persönliche
Haftung wäre im Falle der Zahlungsunfähigkeit einer Arbeitgeberfirma auf
Einzelunternehmer, einfache Gesellschafter, Kollektivgesellschafter
und Komplementäre beschränkt. Darin läge eine sachlich nicht zu
rechtfertigende Privilegierung der für den Bezug, die Ablieferung
und die Abrechnung der paritätischen Sozialversicherungsbeiträge
Verantwortlichen jener Arbeitgeberfirmen, die sich als juristische
Personen konstituiert haben. Es fehlen Anhaltspunkte dafür, dass
mit Art. 52 AHVG eine solche Ungleichbehandlung beabsichtigt gewesen
wäre. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die öffentlichrechtliche
Abrechnungs- und Beitragspflicht nicht nur eine Aufgabe der juristischen
Person ist, sondern ebensosehr und unmittelbar jener natürlichen
Personen, welche für sie in massgeblicher Weise tätig sind und ihre
Willensbildung massgeblich beeinflussen, mithin Organstellung innehaben.
Regelmässig entsteht der Sozialversicherung ein Schaden dann, wenn die
juristische Person die Beitragsforderungen nicht zu begleichen vermag,
zahlungsunfähig ist und damit auch ihrer Schadenersatzpflicht nicht
mehr genügen kann. In allen diesen häufigen Fällen würde die gesetzlich
vorgesehene Schadenersatzpflicht als Rechtsfolge eines grobfahrlässigen
bzw. absichtlichen sowie schadenskausalen Verstosses gegen AHV-Vorschriften
praktisch gegenstandslos, wenn den Ausgleichskassen die Belangung der
Organe versagt wäre. Dies kann nicht der Rechtssinn von Art. 52 AHVG sein
(nicht veröffentlichtes Urteil B. vom 4. Juli 1988).

    Es besteht somit kein Anlass, von der dargelegten Rechtsprechung
zur subsidiären Haftung der verantwortlichen Organe einer juristischen
Person nach Art. 52 AHVG abzugehen (BGE 108 V 17 Erw. 3b; ZAK 1987 S. 583
Erw. 2b).

Erwägung 4

    4.- Ferner bestreitet der Beschwerdeführer seine Haftung als
Organ der B. AG, weil seit Gründung dieser Gesellschaft Beat B. durch
Kompetenzdelegation im Sinne von Art. 717 Abs. 2 OR die Geschäftsführung
als Delegierter des Verwaltungsrates besorgt habe. Neben Beat B. sei ab
1983 Bruno B. von der V. Treuhand für die Sozialversicherungsbeiträge
zuständig gewesen. Der Beschwerdeführer habe seiner Überwachungspflicht
schon dadurch genügt, dass er Herrn Bruno B. als Experten für die
Buchhaltung und die Erstellung der Bilanz beigezogen habe. Die Vorstellung,
dass er als Präsident des Verwaltungsrates jede einzelne Handlung der
übrigen Verwaltungsräte hätte kontrollieren müssen, sei lebensfremd. Die in
Art. 722 Abs. 2 Ziff. 3 OR statuierte Aufsichtspflicht umfasse lediglich
die Überwachung des allgemeinen Geschäftsganges und nicht die Überprüfung
jeder einzelnen Geschäftstätigkeit.

    a) Hat die Verwaltung einer Aktiengesellschaft die Geschäftsführung
gemäss Art. 717 Abs. 2 OR an Delegierte oder Direktoren übertragen, so
untersteht die Verwaltung bezüglich der delegierten Bereiche nur noch
der Haftung für Auswahl, Instruktion und Überwachung der Beauftragten
(FORSTMOSER, aaO, S. 115, N. 321 mit Hinweisen; BÜRGI/NORDMANN,
Kommentar zu Art. 753/754 OR, N. 79; HORBER, Die Kompetenzdelegation
beim Verwaltungsrat der AG und ihre Auswirkungen auf die aktienrechtliche
Verantwortlichkeit, Diss. Zürich 1986, S. 113 und S. 123; VON STEIGER, Das
Recht der Aktiengesellschaft in der Schweiz, 4. Aufl., S. 235). Kernstück
dieser nicht delegierbaren Sorgfaltspflichten bildet die cura in
custodiendo. Zwar ist der nicht geschäftsführende Verwaltungsrat gestützt
auf Art. 722 Abs. 2 Ziff. 3 OR nicht verpflichtet, jedes einzelne Geschäft
der mit der Geschäftsführung und Vertretung Beauftragten zu überwachen,
sondern darf sich auf die Überprüfung der Tätigkeit der Geschäftsleitung
und des Geschäftsganges beschränken. Dazu gehört, dass er sich laufend
über den Geschäftsgang informiert, Rapporte verlangt, sie sorgfältig
studiert, nötigenfalls ergänzende Auskünfte einzieht und Irrtümer
abzuklären versucht (BGE 97 II 411 Erw. 5b; BÜRGI/NORDMANN, Kommentar zu
Art. 753/754 OR, N. 79; BÜRGI, Kommentar zu Art. 722 OR, N. 20 und 22;
SCHUCANY, Kommentar zu Art. 722 OR, N. 4; HORBER, aaO, S. 121 f. mit
weiteren Hinweisen). Ergibt sich aus diesen Informationen der Verdacht
falscher oder unsorgfältiger Ausübung der delegierten Geschäftsführungs-
und Vertretungsbefugnisse, ist der Verwaltungsrat verpflichtet, sogleich
die erforderlichen Abklärungen zu treffen (nötigenfalls durch Beizug
von Sachverständigen) und eine genaue und strenge Kontrolle hinsichtlich
der Beobachtung gesetzlicher Vorschriften auszuüben (VON STEIGER, aaO,
S. 236). Umstritten ist, ob der Beizug von Hilfspersonen zur Ausführung
bestimmter Geschäftsführungsaufgaben dieselbe Haftungsbeschränkung auf
sorgfältige Auswahl, Instruktion und Überwachung bewirkt oder ob dies zu
einer Haftung des Verwaltungsrates ohne eigenes Verschulden im Sinne von
Art. 101 OR führt (vgl. dazu FORSTMOSER, aaO, S. 117 f., N. 327a bis 330
mit Hinweisen).

    Die vom Beschwerdeführer unter Hinweis auf FORSTMOSER (aaO, S. 108,
N. 553, S. 309, N. 1084, und S. 338, N. 1199) erhobenen Einwände
gegen den vom Eidg. Versicherungsgericht auch bei der Delegation von
Geschäftsführungskompetenzen angewendeten - strengen - Verschuldensmassstab
erfüllen die Voraussetzungen für eine Praxisänderung nicht (BGE 108 V
17 Erw. 3b; ZAK 1987 S. 583 Erw. 2b). Vielmehr ist an der einlässlich
begründeten Rechtsprechung festzuhalten. Die hohen Anforderungen an die
erforderliche Sorgfalt eines Verwaltungsrates bei der Auswahl, Instruktion
und Überwachung von Geschäftsführern und Hilfspersonen sind entgegen der
in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Auffassung im Hinblick
auf die - rechtsgleiche - Durchführung des Beitragsbezugs gerechtfertigt.