Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 213



114 V 213

43. Auszug aus dem Urteil vom 24. Oktober 1988 i.S. V. gegen
Ausgleichskasse Schwyz und Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz Regeste

    Art. 52 AHVG: Arbeitgeberhaftung. Wer als Organ einer juristischen
Person belangt werden kann, beurteilt sich nicht allein nach formellen
Kriterien, sondern danach, ob die betreffende Person Organen vorbehaltene
Entscheide getroffen oder die eigentliche Geschäftsführung besorgt
und so die Willensbildung der Gesellschaft massgebend beeinflusst hat.
Überblick über Lehre und Rechtsprechung zum Organbegriff im Zusammenhang
mit der Unterstellung unter die aktienrechtliche Verantwortlichkeit.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Nach Art. 52 AHVG hat ein Arbeitgeber, der durch absichtliche oder
grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften einen Schaden verschuldet,
diesen der Ausgleichskasse zu ersetzen. Ist der Arbeitgeber eine
juristische Person, so können subsidiär gegebenenfalls die verantwortlichen
Organe in Anspruch genommen werden (BGE 113 V 256 Erw. 3c, 111 V 173
Erw. 2).

    Haben mehrere Arbeitgeber (beispielsweise die Mitglieder einer
einfachen Gesellschaft) oder mehrere Organe einer juristischen Person einen
Schaden verursacht, haften sie solidarisch (BGE 109 V 90 Erw. 7a; ZAK 1981
S. 378 Erw. 4). In diesem Zusammenhang hat das Eidg. Versicherungsgericht
im Falle einer Aktiengesellschaft stets auf Art. 754 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 759 Abs. 1 OR abgestellt, wonach alle mit der Verwaltung,
Geschäftsführung oder Kontrolle einer Aktiengesellschaft betrauten
Personen sowohl der Gesellschaft als auch den einzelnen Aktionären und
Gesellschaftsgläubigern für den Schaden verantwortlich sind, den sie
durch absichtliche oder fahrlässige Verletzung der ihnen obliegenden
Pflichten verursachen, und solidarisch dafür haften, wenn sie für
den gleichen Schaden verantwortlich sind. Als mit der Verwaltung oder
Geschäftsführung im Sinne von Art. 754 OR betraut gelten "nicht nur
Entscheidungsorgane, die ausdrücklich als solche ernannt worden sind;
dazu gehören auch Personen, die tatsächlich Organen vorbehaltene
Entscheide treffen oder die eigentliche Geschäftsführung besorgen und
so die Willensbildung der Gesellschaft massgebend mitbestimmen" (BGE
114 V 79 Erw. 3, 207 II 353 Erw. 5a; vgl. auch BGE 112 II 185 Erw. 5;
BÜRGI, N. 119 zu Art. 753/54; SCHUCANY, N. 1 zu Art. 754; FORSTMOSER,
Die aktienrechtliche Verantwortlichkeit, 2. Aufl., S. 109 ff.; SCHMID,
Die Verantwortlichkeit von Verwaltung, Geschäftsführung und Kontrolle
gegenüber Gesellschaftsgläubigern im Konkurs der Aktiengesellschaft nach
geltendem und künftigem schweizerischem Recht, SZJ 81/1985, S. 243).

Erwägung 4

    4.- Im vorliegenden Fall ist streitig, ob die Beschwerdeführerin
Edith V. verantwortliches Organ der A. AG war, in deren Konkurs
die Ausgleichskasse wegen Nichtbezahlung bundesrechtlicher
Sozialversicherungsbeiträge zu Verlust gekommen ist. Aufgrund der Akten
steht unbestrittenermassen fest, dass die Beschwerdeführerin für die A. AG
nebst ihrem Ehemann, der als einziger Verwaltungsrat im Handelsregister
eingetragen war, die Einzelzeichnungsberechtigung besass.

    Die Vorinstanz scheint gemäss ihrer Vernehmlassung zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Auffassung zu sein, dass bereits die
im Handelsregister eingetragene Einzelzeichnungsberechtigung genüge,
um die Organstellung der Beschwerdeführerin zu begründen. Ob diese
Betrachtungsweise richtig ist, beurteilt sich aufgrund der von Lehre und
Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Organhaftung.

    a) FORSTMOSER (Die aktienrechtliche Verantwortlichkeit, 2. Aufl.)
unterscheidet zwischen formeller und materieller Organstellung und
führt dazu u.a. aus (N. 654 und 655, S. 209): "Organpersonen im Sinne der
Verantwortlichkeitsbestimmungen sind alle Mitglieder des Verwaltungsrates,
unabhängig davon, welche Aufgaben sie tatsächlich erfüllen (formelle
Organeigenschaft)." Indessen betrachtet er nicht jede im Handelsregister
eingetragene Person ohne weiteres als Organ im formellen Sinne. Wohl
aber könne der Eintrag in bestimmter Funktion - etwa als Direktor -
eine Organstellung durch Kundgabe bewirken und werde der in gehobener
Position Eingetragene in aller Regel auch Organ im materiellen Sinne
sein. Bezüglich der Organstellung von Direktoren, Prokuristen und
Handlungsbevollmächtigten bemerkt FORSTMOSER (N. 741 bis 743, S. 232):
Die Frage der Unterstellung dieser Personen und weiterer Angestellter
unter die aktienrechtliche Verantwortlichkeit richte sich konsequent
nach dem materiellen oder funktionellen Organbegriff. Direktoren werde
man in aller Regel als Organe im Sinne von Art. 754 OR qualifizieren,
während bei weiteren Angestellten darauf abgestellt werden müsse,
ob sie tatsächlich selbständig massgebende Entscheide fällen. Nicht
massgebend für die Einstufung sei die Unterschriftsberechtigung. Auch
der Zeichnungsberechtigte unterstehe dem Art. 754 OR dann nicht,
wenn er über keine selbständige Entscheidungsbefugnisse verfüge und
auch keine Organstellung aufgrund einer Kundgabe vorliege. Anderseits
könne auch ein Angestellter ohne Zeichnungsrecht intern oder extern
massgebende korporative Funktionen selbständig erfüllen und damit
der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit unterstellt sein. Die von
FORSTMOSER erwähnte Organstellung infolge Kundgabe dient dem Schutz des
Vertrauens Dritter in den erweckten Anschein einer Organstellung (vgl.
FORSTMOSER, aaO, Nr. 676, S. 214), der im Zusammenhang mit der Verletzung
von AHV-Vorschriften und damit als Haftungsgrund nach Art. 52 AHVG ohne
Bedeutung ist. Im Rahmen der erwähnten Gesetzesbestimmung ist lediglich
die formelle und materielle Organstellung von Belang.

    BUCHER (Organschaft, Prokura, Stellvertretung, in Festgabe für
W.F. Bürgi, S. 40 f.) unterscheidet klar zwischen den Organen der
juristischen Person einerseits und der Prokura sowie bürgerlichen
Stellvertretung im Sinne von Art. 32 ff. OR anderseits. Das läuft
auf die Verneinung der formellen Organeigenschaft der Prokuristen und
konsequenterweise auch von andern Unterschriftsberechtigten hinaus.

    Nach GUHL, MERZ, KUMMER (Das schweizerische Obligationenrecht,
7. Aufl., S. 691) unterstehen der Organhaftung vor allem die Mitglieder
der Verwaltung und der Kontrollstelle (BGE 86 II 171 und 93 II
22). Darunter würden aber noch weitere Personen fallen, ohne Rücksicht
darauf, ob sie in den Statuten als Organe bezeichnet sind. Massgebend
sei vielmehr die Funktion, die sie tatsächlich ausüben. Soweit sie
selbständige Verwaltungs- und Vertretungsbefugnisse ausübten und damit
an der Willensbildung der juristischen Person teilnehmen, wie das in
aller Regel etwa für Direktoren zutreffe, seien sie Organe und würden
sie als Organe haften, selbst wenn ihnen die Statuten Organstellung
ausdrücklich absprechen sollten. Umgekehrt entgehe eine von den Statuten
als Organ bezeichnete Person der Organhaftung, wenn diese Person nur
untergeordnete, unselbständige Arbeit verrichte (BGE 48 II 56 Erw. 1,
102 II 359 Erw. 3a). Diese Auffassung gründet sich auf einer konsequenten
Anwendung des materiellen Organbegriffs, bei welchem dem Eintrag einer
bestimmten Person im Handelsregister bzw. deren Unterschriftsberechtigung
keine entscheidende Bedeutung zukommt.

    b) Das Eidg. Versicherungsgericht hatte bisher in drei Fällen die
Frage der Schadenersatzpflicht von Prokuristen zu beurteilen (ZAK 1985
S. 622; unveröffentlichte Urteile B. vom 17. Februar 1988 und S. vom
29. Dezember 1987). In allen Fällen wurde die Haftung wegen Fehlens
eines Verschuldens verneint, ohne dass zu prüfen war, ob die betroffene
Person überhaupt Organstellung hatte. In ZAK 1985 S. 622 war die Bindung
des Prokuristen an die Weisungen des Verwaltungsratspräsidenten, die
Sozialversicherungsbeiträge nicht zu bezahlen, ausschlaggebend (vgl. vor
allem S. 627/628). Dies galt auch im Fall B., wo insbesondere noch
dazukam, dass der geschäftsführende Verwaltungsratspräsident angesichts der
einfachen Verwaltungsstruktur der Aktiengesellschaft auch ohne besonderen
Hinweis durch den kollektivunterschriftsberechtigten Mitarbeiter über die
Beitragsrückstände im Bild gewesen war. Ähnliche Überlegungen finden sich
im Urteil S. zur Verneinung der Haftung. Zum gleichen Ergebnis wäre man
in allen drei Fällen durch die Verneinung der materiellen Organstellung
der fraglichen Person wegen fehlender selbständiger Entscheidungsbefugnis
gelangt.

    In ZAK 1983 S. 486 Erw. 5 hat das Eidg. Versicherungsgericht
ausgeführt, dass eine Person, die weder als Verwaltungsrat noch als
leitendes Organ mit Zeichnungsbefugnis für die juristische Person (als
Direktor oder Prokurist) im Handelsregister eingetragen sei, im Prinzip
nicht im Sinne von Art. 52 AHVG hafte. Dass der Handelsregistereintrag
oder die Unterschriftsberechtigung je für sich allein oder doch wenigstens
beide zusammen die Organstellung zu begründen vermöchten, lässt sich
jedoch aus dem zitierten Urteil nicht ableiten.

    c) Das Bundesgericht hat in BGE 102 II 359 Erw. 3a einen Prokuristen
mit Einzelunterschriftsberechtigung der Haftung nach Art. 754 Abs. 1
OR unterstellt, dies allerdings weder wegen seiner Eintragung im
Handelsregister noch wegen seiner Einzelunterschriftsberechtigung, sondern
weil er mit einem andern Gesellschafter zusammen sämtliche Aktien besass
und mit diesem die Aktiengesellschaft selbst und allein führte und daher
als "verdeckter Verwaltungsrat" zu betrachten war. Das Gericht entschied
hier eindeutig aufgrund des materiellen Organbegriffs.

    In BGE 104 II 197 wurde ein Bankdirektor trotz fehlender
Einzelunterschriftsberechtigung und ohne Hinweis auf seine Eintragung im
Handelsregister aufgrund des materiellen Organbegriffs der Haftung nach
Art. 55 ZGB unterstellt (vgl. auch BGE 72 II 65).

    d) Schliesslich ist auf die bundesrätliche Botschaft zur Revision
des Aktienrechts vom 23. Februar 1983 (BBl 1983 II 745) hinzuweisen, wo
zur Neufassung von Art. 754 Abs. 1 betreffend die Haftung für Verwaltung,
Geschäftsführung und Liquidation u.a. ausgeführt wird (S. 935);

    "Das geltende Recht unterwirft der Verwaltungs- und

    Geschäftsführungshaftung alle mit der Verwaltung und der

    Geschäftsführung betrauten Personen. Der Entwurf erfasst alle mit der

    Geschäftsführung (oder mit der Liquidation) befassten Personen. Der
   unterschiedliche Wortgebrauch ist gewollt und bringt zum Ausdruck,
   dass nicht nur die formellen (Mitglieder des Verwaltungsrats) und
   die materiellen (Direktoren, Geschäftsführer usw.), sondern auch die
   faktischen Organe erfasst werden. Als faktisches Organ gilt der

    Hauptaktionär, der sich in die Geschäftsführung einmischt, der
Treugeber
   oder Hintermann, der dem fiduziarischen Verwaltungsrat Weisungen
   erteilt, alle stillen und verdeckten Verwaltungsräte, alle verborgenen
   Direktoren sowie jedermann, der, ohne gewühlt oder besonders bezeichnet
   worden zu sein, dauernd und selbständig für die Gesellschaft und ihr
   Unternehmen wichtige Entscheide fällt."

    Die Organstellung wird somit in der Botschaft nicht von den formalen
Kriterien des Handelsregistereintrags oder der Unterschriftsberechtigung
abhängig gemacht; als entscheidend gilt vielmehr, dass jemand tatsächlich
mit der Geschäftsführung oder Liquidation einer Gesellschaft "befasst" ist.

    e) Zusammenfassend ergibt sich, dass in der neuern Lehre weder
der Handelsregistereintrag noch die Unterschriftsberechtigung als
entscheidend für die Beantwortung der Frage betrachtet wird, ob eine
Person Organstellung hat. Dasselbe gilt auch für die Rechtsprechung des
Bundesgerichts und des Eidg. Versicherungsgerichts. Massgeblich ist für
die Beurteilung der Organstellung von Personen, die nicht Verwaltungsräte
sind, ob sie tatsächlich die Funktion von Organen erfüllen, indem
sie den Organen vorbehaltene Entscheide treffen oder die eigentliche
Geschäftsführung besorgen und so die Willensbildung der Gesellschaft
massgebend mitbestimmen, wie das Eidg. Versicherungsgericht im Urteil
BGE 114 V 78 dargetan hat.

    Für den vorliegend zu beurteilenden Fall ergibt sich aus
dem Gesagten, dass die Eintragung der Beschwerdeführerin als
Einzelunterschriftsberechtigte im Handelsregister allein die Annahme nicht
zu begründen vermag, dass sie bei der A. AG Organstellung innegehabt hat.

Erwägung 5

    5.- Zu prüfen bleibt, ob die Organstellung der Beschwerdeführerin
allenfalls aus andern Gegebenheiten resultiert.

    Im angefochtenen Entscheid wird erwähnt, dass die Beschwerdeführerin
20 Aktien der A. AG besass, während ihr Ehemann Eigentümer der restlichen
30 Aktien war, und dass sie "seit der Gründung der AG die Büroarbeiten
zu besorgen" hatte. Im weitern findet sich die Aussage, wonach "aufgrund
der Aktenlage und der Aussagen der Beklagten" davon auszugehen sei, dass
die Beschwerdeführerin und ihr Ehegatte "in gemeinsamer Übereinstimmung
jene Gläubiger zu befriedigen versuchten, die ihre Betreibungen auf dem
Wege des Konkurses fortzusetzen suchten".

    Die blosse Besorgung von Büroarbeiten vermag die Annahme einer
Organstellung in keiner Weise zu rechtfertigen, weil sie sich in Handlungen
erschöpft, welche die Willensbildung der Gesellschaft nicht im Sinne von
Lehre und Rechtsprechung massgebend beeinflussen. Dasselbe gilt auch
bezüglich der vorinstanzlichen Feststellung, die Beschwerdeführerin
habe in gemeinsamer Übereinkunft mit ihrem Ehemann jene Gläubiger zu
befriedigen versucht, welche auf die Konkurseröffnung über die A. AG
tendiert hätten. Abgesehen davon ist diese Behauptung im angefochtenen
Entscheid durch keine konkreten Tatsachen untermauert. Auch die in
der vorinstanzlichen Stellungnahme zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde
erwähnten Sachverhalte ergeben nichts zugunsten der Organstellung der
Beschwerdeführerin, wenn dort ausgeführt wird, diese habe für die
Gesellschaft "die gesamte Administration besorgt wie: Fakturierung
an Kunden, Ausführung von Zahlungen, Erstellen der Lohnabrechnungen
inkl. Abrechnungen mit AHV, SUVA, etc.; Führen der Kassa- und
Bankrapportbücher". Dabei handelt es sich nur um eine substantiierte
Aufzählung der von der Beschwerdeführerin unbestrittenermassen erledigten
Büroarbeiten und nicht um organspezifische Tätigkeiten. Dass die
Beschwerdeführerin wegen ihres Eigentums an 20 von 50 Aktien der A. AG
Organstellung habe, hat die Vorinstanz mit Recht nicht behauptet. Selbst
ein Haupt- oder gar Alleinaktionär ist nach schweizerischem Recht nur
dann als Organ zu betrachten, wenn er massgebend an der Willensbildung
der Gesellschaft teilnimmt und korporative Aufgaben selbständig ausübt
(FORSTMOSER, aaO, N. 705/706, S. 222).

    Zusammenfassend ergibt sich, dass keine Tatsachen dargetan sind, welche
die Annahme einer materiellen Organstellung der Beschwerdeführerin bei
der A. AG zu rechtfertigen vermöchten. Die Folgen dieser Beweislosigkeit
hat die Ausgleichskasse zu tragen (BGE 111 V 201 Erw. 6b). Ist aber die
Organstellung der Beschwerdeführerin zu verneinen, so kann sie nicht nach
Art. 52 AHVG belangt werden.