Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 190



114 V 190

38. Auszug aus dem Urteil vom 13. Mai 1988 i.S. L. gegen Bundesamt für
Militärversicherung und Zivilgericht des Kantons Glarus Regeste

    Art. 7 Abs. 1 MVG: Kürzung von Versicherungsleistungen. Nach Art. 7
Abs. 1 MVG kann - anders als im Bereich des IVG (Art. 7 Abs. 1) oder des
UVG (Art. 37) - selbst dann von einer Kürzung Umgang genommen werden,
wenn an sich die Voraussetzungen hiezu gegeben wären.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 7 Abs. 1 MVG können die Leistungen der
Militärversicherung gekürzt oder in besonders schweren Fällen ganz
verweigert werden, wenn der Versicherte die Gesundheitsschädigung unter
anderem vorsätzlich oder grobfahrlässig oder durch eine unentschuldbare
Widerhandlung gegen Dienstvorschriften oder Befehle herbeigeführt hat.

    Grobfahrlässig handelt nach der Rechtsprechung, wer jene elementaren
Vorsichtsgebote unbeachtet lässt, die jeder verständige Mensch in der
gleichen Lage und unter den gleichen Umständen befolgt hätte, um eine
nach dem natürlichen Lauf der Dinge voraussehbare Schädigung zu vermeiden
(BGE 111 V 189 Erw. 2c mit Hinweisen; vgl. auch RKUV 1987 Nr. U 20 S. 323
Erw. 1).

Erwägung 4

    4.- Ist nach dem Gesagten das Verhalten des Versicherten als
grobfahrlässig zu qualifizieren, so fragt sich als nächstes, ob bei
Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen von einer Kürzung Umgang
genommen werden kann. Die Vorinstanz vertritt die Auffassung, mit der
Formulierung des Art. 7 Abs. 1 MVG als Kann-Vorschrift habe der Gesetzgeber
dem Rechtsanwender einen sehr grossen Ermessensspielraum eingeräumt,
der sogar dann einen Verzicht auf eine Kürzung erlauben würde, wenn an
sich die Voraussetzungen für eine solche gegeben wären und auch kein
Tatbestand von Art. 7 Abs. 3 MVG vorliege.
   a) (Auslegung des Gesetzes.)

    b) Der Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 MVG deutet sprachlich auf eine
echte Kann-Vorschrift hin. Auf den Wortlaut allein kann indessen in
diesem Zusammenhang nicht abgestellt werden, gelangte doch das Eidg.
Versicherungsgericht in BGE 111 V 186 zum Schluss, dass es sich bei der
insoweit identisch formulierten Kürzungsbestimmung des Art. 7 Abs. 1
IVG nicht um eine echte Kann-Vorschrift handelt; vielmehr räumt diese
Bestimmung den Invalidenversicherungs-Kommissionen die Kompetenz im Sinne
einer Berechtigung und Verpflichtung ein, die Kürzung zu verfügen, wenn
die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (BGE 111 V 194 Erw. 4a). Ob
der Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 MVG dessen - Rechtssinn wiedergibt,
ist daher unter Prüfung der verfügbaren Auslegungselemente zu ermitteln.

    aa) Gemäss SCHATZ (Kommentar zur Eidgenössischen Militärversicherung,
S. 80) ist aufgrund dieser Bestimmung "eine Kürzung oder gar eine
Verweigerung der Versicherungsleistungen nicht obligatorisch". Nach
Auffassung von LENDI (Der Anspruch des Versicherten aus dem Bundesgesetz
über die Militärversicherung vom 20. September 1949, Diss. Zürich 1970,
S. 94) ist die Militärversicherung bei Vorliegen der gesetzlichen
Voraussetzungen bloss berechtigt und nicht verpflichtet, eine
Kürzung der Versicherungsleistungen vorzunehmen. Auch für MAURER
(Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. I, S. 329) handelt
es sich hiebei um eine "blosse 'Kann'-Vorschrift". Diese Doktrin
wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. Bereits anlässlich der
Verhandlungen zur Vorberatung und Aufstellung eines Entwurfes für ein
neues Militärversicherungsgesetz war sich die Expertenkommission darin
einig, dass eine Kürzung der Versicherungsleistungen fakultativ sein
soll (Protokoll vom 28. bis 31. Mai 1945, S. 14 ff. und S. 90). Auch
in der vorberatenden Kommission des Nationalrates wiesen Bundesrat
Kobelt, Hasenfratz und Pini darauf hin, dass nach Art. 46 Abs. 1 des
bundesrätlichen Entwurfs, welcher im Verlaufe der Beratung zu Art. 7bis
Abs. 1 wurde und der im wesentlichen dem heutigen Art. 7 Abs. 1 MVG
entspricht, eine Kürzung nicht obligatorisch sei bzw. dass diese Norm dem
Rechtsanwender eine "simple possibilité d'une réduction des prestations"
einräume (Kommission des Nationalrates, Sitzung vom 2. bis 5. Februar
1948, Protokoll S. 35 bis 37). Im gleichen Sinne äusserte sich die
ständerätliche Kommission. So gab unter anderem Dr. Schmitz von der
Eidgenössischen Militärversicherung zu Protokoll, dass die Kürzung eine
blosse Befugnis darstelle; "in Abweichung der in Art. 98 KUVG getroffenen
Regelung ist die Kürzung im Militärversicherungsrecht nicht obligatorisch,
sondern fakultativ" (Kommission des Ständerates, Sitzung vom 25./26. Januar
1949, Protokoll S. 34). In den parlamentarischen Beratungen führte sodann
der Berichterstatter der Mehrheit, Ständerat Haefelin, aus, dass es sich
bei Art. 7bis um eine "Kann"-, eine fakultative Vorschrift handle; die
Militärversicherung könne kürzen, sie müsse aber nicht (Sten.Bull. 1949
S 213). Derselben Auffassung zeigte sich auch Ständerat Stüssi: Mit
dieser Bestimmung habe man nur "die Fakultät" eingeräumt, dass man
herabsetzen könne; "hierüber entscheidet der Absatz 2: (in Würdigung
aller Umstände des Falles, insbesondere der Grösse des Verschuldens und
der wirtschaftlichen Lage der Anspruchsberechtigten") (Sten.Bull. 1949
S 214). Diese Voten blieben in den weiteren Ratsverhandlungen unbestritten.

    bb) Damit, dass der Gesetzgeber den rechtsanwendenden Behörden mit
Art. 7 Abs. 1 MVG ein Entschliessungsermessen (zum Begriff vgl. u.a. GYGI,
Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 303 f.; IMBODEN/RHINOW,
Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., S. 405; vgl. auch
BGE 112 Ib 17 Erw. 4) einräumen wollte, trug er auch den besonderen
Verhältnissen im Bereiche der Militärversicherung Rechnung. Denn anders
als bei der durch Prämienleistungen der Versicherten finanzierten
(vgl. hiezu MAURER, aaO, Bd. I, S. 334) Invalidenversicherung,
bei welcher nach der analogen Kürzungsbestimmung von Art. 7 Abs. 1
IVG die Versicherungsleistungen bei Vorliegen von Grobfahrlässigkeit
herabzusetzen sind (Erw. 4b), liegt die rechtspolitische Begründung der
Selbstverschuldenskürzung bei der beitragsfreien Militärversicherung
nicht in erster Linie in der Verpflichtung des Leistungsbezügers zur
Solidarität gegenüber der Gemeinschaft der Prämien- bzw. Steuerzahler,
sondern im wirtschaftlichen Schutz der Militärversicherung gegen
finanzielle Ausbeutung (SCHATZ, aaO, S. 77; LENDI, aaO, S. 93).
Ferner hat das Institut der Selbstverschuldenskürzung - im Gegensatz
zur Invalidenversicherung (vgl. BGE 106 V 28 mit Hinweisen) - dem
Staatshaftungsgedanken zufolge auch pönalen und damit präventiven Charakter
(vgl. SCHATZ, aaO, S. 77; LENDI, aaO, S. 93).

    cc) Für diese Auslegung nach Sinn und Zweck spricht schliesslich
auch die Gesetzessystematik. Wenn in Art. 7 Abs. 3 MVG bei Vorliegen
qualifizierter Tatbestände (kameradschaftliche Hilfeleistung, mutiger
Einsatz bei militärischen Unternehmungen und Übungen, tapferes
Verhalten vor dem Feinde) von einer Kürzung oder Verweigerung der
Versicherungsleistungen verbindlich abzusehen "ist", so unterstreicht dies,
dass - im Rahmen der durch Abs. 2 gebotenen gesamthaften Würdigung - in
weniger eindrücklichen, aber doch besonders gelagerten militärischen
Situationen von einer Kürzung oder Verweigerung abgesehen werden
"kann", wo die Umstände des Einzelfalles dies rechtfertigen. - Das
Eidg. Versicherungsgericht hat denn auch bereits unter der Herrschaft
des - ebenfalls als reine Kann-Vorschrift formulierten - Art. 11 Abs. 1
alt MVG (AS 1917 1097) entschieden, dass es die besonderen Umstände des
Einzelfalles (in casu Jugendlichkeit des Versicherten, lebenslängliche
schwere Verstümmelung, anerkannter Diensteifer und gute Führung)
rechtfertigen können, trotz Vorliegens eines grobfahrlässigen Verhaltens
von einer Kürzung der Versicherungsleistungen abzusehen (EVGE 1944 S. 147).