Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 139



114 V 139

29. Urteil vom 9. Juni 1988 i.S. B. gegen Ausgleichskasse des Kantons
Thurgau und Rekurskommission des Kantons Thurgau für die AHV Regeste

    Art. 22 Abs. 1 und 3 IVG, Art. 18 Abs. 1 IVV: Anspruch auf Taggelder
während Wartezeiten. Wer durch eigenes Verschulden eine Wartezeit zu
bestehen hat, besitzt keinen Anspruch auf Ausrichtung von Taggeldern
während der Wartezeit.

Sachverhalt

    A.- Am 27. April 1983 wurde der 1953 geborene Mario B. Opfer eines
Verkehrsunfalls (Auffahrkollision) und erlitt dabei eine Kontusion
des rechten Knies. Als Folge blieb eine Chondropathia patellae mit
leichter chronischer Synovitis zurück. Die bisherige Arbeit als Radio-
und Fernsehverkäufer war ihm deshalb nicht mehr zumutbar. Mit Verfügung
der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau vom 18. März 1985 übernahm die
Invalidenversicherung die Kosten der Umschulung auf den Kaufmannsberuf
ab April 1985 bis April 1988 an der Schule J.

    Am 3. Dezember 1986 wurde Mario B. vom Rektor der Schule
J. aus disziplinarischen Gründen mit sofortiger Wirkung aus der
Schule ausgeschlossen. Ab 9. März 1987 konnte er die Umschulung am
Institut M. fortsetzen, wegen der bisherigen Schwierigkeiten in den
fremdsprachlichen Fächern allerdings mit dem neuen Ziel der Ausbildung
zum Büroangestellten (Verfügung der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau
vom 6. April 1987). Dagegen lehnte es die Ausgleichskasse mit Verfügung
vom 21. August 1987 ab, Mario B. für die Zeit vom 3. Dezember 1986 bis
8. März 1987 Taggelder auszurichten.

    B.- Gegen die Taggeldverweigerung erhob Mario B. Beschwerde, welche
die Rekurskommission des Kantons Thurgau für die AHV mit Entscheid vom
18. November 1987 abwies.

    C.- Mario B. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und in der
Hauptsache beantragen, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die
Invalidenversicherung zu verpflichten, für die Zeit vom 3. Dezember 1986
bis 8. März 1987 Taggelder auszurichten.

    Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung beantragen
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Der Versicherte hat während der Eingliederung Anspruch auf ein
Taggeld (Art. 22 Abs. 1 IVG). Nach ständiger Rechtsprechung ist das Taggeld
eine akzessorische Leistung zu bestimmten Eingliederungsmassnahmen;
es kann grundsätzlich - nur ausgerichtet werden, wenn und solange
Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung zur Durchführung
gelangen (BGE 112 V 16 Erw. 2a mit Hinweisen).

    b) Der Grundsatz der Akzessorietät gilt nicht uneingeschränkt. Der
Gesetzgeber hat unter anderem für Wartezeiten eine Ausnahme vorgesehen
(Art. 22 Abs. 3 IVG). Die nähere Regelung wurde dem Bundesrat übertragen
und ist in Art. 18 IVV getroffen worden. Nach Art. 18 Abs. 1 IVV hat
der Versicherte, der mindestens 50 Prozent arbeitsunfähig ist und auf
den Beginn bevorstehender Eingliederungsmassnahmen warten muss, für die
Wartezeit Anspruch auf Taggeld.

Erwägung 2

    2.- a) Nach dem Grundsatz der Akzessorietät hat der Beschwerdeführer
für die Periode vom 3. Dezember 1986 bis 8. März 1987 keinen Anspruch
auf Taggelder, weil in diesem Zeitraum keine Eingliederungsmassnahmen
durchgeführt wurden. Diese sind durch den Ausschluss aus der Schule J.
unterbrochen worden. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers stellen
seine privaten beruflichen Studien in der Zeit zwischen dem Ausschluss und
dem Eintritt beim Institut M. keine berufliche Eingliederungsmassnahme
der Invalidenversicherung dar; diese Eigenschaft wäre damals aufgrund
der Kassenverfügung vom 18. März 1985 nur dem Besuch der Schule
J. zugekommen. Es kann sich daher einzig fragen, ob die genannte Periode
als anspruchsberechtigende Wartezeit im Sinne von Art. 18 Abs. 1 IVV
betrachtet werden kann.

    b) Anspruch auf Taggelder gemäss Art. 18 Abs. 1 IVV ist grundsätzlich
nur gegeben, wenn die Ursachen der Wartezeit nicht vom Versicherten
zu vertreten sind. Das ist hauptsächlich dann der Fall, wenn der
Versicherte auf die Durchführung einer Massnahme warten muss, weil bei
der Eingliederungsstelle kein früherer Antritt möglich ist. Dagegen
besteht kein Anspruch auf Taggelder, wenn die Wartezeit auf Sachverhalte
zurückzuführen ist, die in der Person des Versicherten begründet
sind. Solche Umstände liegen beispielsweise vor, wenn der Versicherte
die Eingliederung wegen Krankheit zurückstellen muss (ZAK 1963 S. 36)
oder den Antritt der angeordneten Massnahme aus persönlichen Gründen ohne
rechtserhebliche Veranlassung verzögert (EVGE 1963 S. 152 Erw. 2; zur
Verwaltungspraxis siehe Rz. 32 des Kreisschreibens über die Taggelder in
der Invalidenversicherung). Das muss aber auch gelten, wenn der Versicherte
durch eigenes Verschulden eine Wartezeit zu bestehen hat. Auf einen
solchen Tatbestand (selbstverschuldete Herbeiführung einer Wartezeit)
ist u.a. zu erkennen, wenn eine laufende Eingliederungsmassnahme wegen
disziplinärischer Verfehlungen des Versicherten unterbrochen werden muss
und erst nach einiger Zeit weitergeführt werden kann.

    c) Mit Schreiben vom 7. August 1986 teilte die Leitung der Schule
J. dem Beschwerdeführer mit, dass seine Absenzen das tolerierbare Mass bei
weitem überschritten; sie sei nicht mehr bereit, Absenzen ohne ärztliches
Zeugnis hinzunehmen. Im Wiederholungsfalle sähe sie sich gezwungen,
den Ausschluss aus der Schule anzudrohen. Am 1. Oktober 1986 schrieb
die Schulleitung dem Beschwerdeführer u.a., dass sein Verhalten bei
verschiedenen Lehrern untragbar sei; für das Wintersemester werde ein
tadelloses Verhalten erwartet. Sollte die geringste Klage eingehen,
würde der fristlose Ausschluss aus der Schule ausgesprochen. Am
2. Dezember 1986 veranstaltete der Beschwerdeführer eine Wahl, bei der
es galt, das "hässlichste Mädchen" der Klasse zu erküren, was zu höchst
unerfreulichen Szenen führte. Das betroffene (19jährige) Mädchen gab Mario
B. eine Ohrfeige und beklagte sich anschliessend tränenüberströmt beim
Schulvorstand, der auf der Stelle den Ausschluss des Beschwerdeführers
aus der Schule aussprach.

    Der Beschwerdeführer hat durch dieses Verhalten anfangs Dezember
1986 begründeten Anlass zum Ausschluss aus der Schule gegeben, da er
in grober Weise gegen die Schulordnung und gegen elementare Regeln des
Anstandes verstossen hat. Von einer unverhältnismässigen Reaktion der
Schulleitung kann nicht die Rede sein. Das Vorgefallene lässt sich durch
nichts entschuldigen, weder mit der Tatsache, dass der Beschwerdeführer
gesundheitliche Probleme hat, noch damit, dass er sich von der Schule
nicht verstanden fühlte und es sich um eine einmalige Entgleisung
handelte. Wenn der Beschwerdeführer das geschilderte Ereignis als
blossen Schuljungenstreich herunterzuspielen versucht, so kann dem wenig
Verständnis entgegengebracht werden. Der Beschwerdeführer zählte damals
33 Jahre und kann sich daher nicht auf jugendlichen Leichtsinn berufen,
um die Ungehörigkeit der öffentlichen Blossstellung eines jungen Mädchens
wegen angeblicher körperlicher Nachteile zu rechtfertigen. Nicht mehr
Verständnis verdient ferner sein Einwand, das Mädchen habe unangemessen
reagiert, weil es sich wegen eines kürzlichen - auch dem Beschwerdeführer
bekannten - Todesfalles im engsten Familienkreise in einer schlechten
Verfassung befunden habe. Dieser Umstand spricht vielmehr gerade für die
Rücksichtslosigkeit des gerügten Verhaltens.

    Dass einzelne Lehrer, wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
behauptet wird, den Ausschluss als zu hart kritisiert hätten und sich
die ganze Klasse (einschliesslich des betroffenen Mädchens) nachträglich
für eine Wiederaufnahme einsetzte, vermag dem Beschwerdeführer nicht zu
helfen. Entscheidend ist, dass der Beschwerdeführer aus der Sicht der
Schulleitung, die für geordnete schulische Verhältnisse verantwortlich
ist und den guten Ruf der Schule zu wahren hat, aus zureichenden Gründen
als nicht mehr tragbar erschien. Da die Massnahme des Ausschlusses nicht
als unangemessen betrachtet werden kann, ist es auch nicht zu beanstanden,
dass die Schule eine Wiederaufnahme des Beschwerdeführers ablehnte. Wenn
die Schulleitung in ihrem Brief an die Ausgleichskasse vom 23. April
1987 schreibt, dass ihr kein anderer Weg als der Ausschluss geblieben
sei, um nicht das "Gesicht zu verlieren", so lässt sich diese Aussage
entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht dahin auslegen,
die Verantwortlichen seien lediglich aus Prestigegründen auf ihren -
als überstürzt und unverhältnismässig erkannten - Entscheid nicht
mehr zurückgekommen. Die fragliche Briefstelle bringt lediglich zum
Ausdruck, dass es die Schulleitung nicht vertreten konnte, einen aus
ihrer Sicht ausgewiesenen Ausschlussgrund ohne entsprechende Sanktion
zu lassen. Im übrigen bezog sich die Aussage nicht auf die Abweisung des
Wiederaufnahmegesuchs des Beschwerdeführers.

    Nicht näher zu prüfen ist hier schliesslich, ob die von der
Schulleitung erhobenen Vorwürfe, die zu den Ausschlussdrohungen vom
7. August 1986 und 1. Oktober 1986 Anlass gaben, in allen Teilen begründet
waren. Aufgrund dieser beiden Warnungen wusste der Beschwerdeführer
klar, dass er sich kein fehlbares Verhalten mehr leisten konnte. Wenn
er sich am 2. Dezember 1986 gleichwohl zu einem üblen Scherz hinreissen
liess, der nur als grobe Rücksichtslosigkeit bezeichnet werden kann, so
ist die Unterbrechung der Eingliederungsmassnahme auch dann schuldhaft
herbeigeführt, wenn die früheren Beanstandungen nur zum Teil berechtigt
gewesen sein sollten. Beweisergänzungen sind nach dem Gesagten nicht
geboten.

    Weil der Beschwerdeführer die Wartezeit vom 3. Dezember 1986 bis
8. März 1987 durch eigenes Verschulden herbeigeführt hat, haben Verwaltung
und Vorinstanz das Begehren um Ausrichtung von Taggeldern während der
Wartezeit zu Recht abgewiesen.