Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 134



114 V 134

28. Urteil vom 21. Juni 1988 i.S. E. gegen Ausgleichskasse des
Schweizerischen Bäcker-Konditorenmeister-Verbandes und Verwaltungsgericht
des Kantons Schwyz Regeste

    Art. 46 Abs. 2 AHVG, Art. 48 Abs. 2 IVG: Nachzahlung der
Hilflosenentschädigung. Satz 2 von Art. 48 Abs. 2 IVG, wonach
unter bestimmten Voraussetzungen Nachzahlungen über die zwölf der
Anmeldung vorangehenden Monate hinaus erbracht werden, gilt auch für
Hilflosenentschädigungen im Rahmen von Art. 46 Abs. 2 AHVG.

Sachverhalt

    A.- Die 1921 geborene Anna E., Bezügerin einer Altersrente, wurde am
3. April 1986 von ihrer Tochter zum Bezug einer Hilflosenentschädigung
der AHV angemeldet. Die Invalidenversicherungs-Kommission stellte fest,
die Versicherte sei in schwerem Grade hilflos und habe deshalb Anspruch
auf eine Hilflosenentschädigung; wegen verspäteter Anmeldung könne
die Entschädigung jedoch nur für die zwölf der Anmeldung vorangehenden
Monate, d.h. ab 1. April 1985 nachgezahlt werden. Dies eröffnete die
Ausgleichskasse des Schweizerischen Bäcker-Konditorenmeister-Verbandes
Anna E. mit Verfügung vom 22. Mai 1986.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher Anna E. beantragen
liess, es sei ihr die Hilflosenentschädigung ab einem früheren Zeitpunkt
zuzusprechen, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz ab (Entscheid
vom 20. September 1986).

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Anna E. das vorinstanzlich
gestellte Rechtsbegehren erneuern.

    Während die Ausgleichskasse auf eine ablehnende Stellungnahme der
Invalidenversicherungs-Kommission verweist, schliesst das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    Das kantonale Gericht äussert sich zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    D.- Das Eidg. Versicherungsgericht holte beim BSV zur Frage der
unterschiedlichen Ausgestaltung der Nachzahlungsregelung im Bereich der
AHV und der Invalidenversicherung (IV) eine ergänzende Stellungnahme ein.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Macht ein Versicherter den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung
der AHV mehr als zwölf Monate nach dessen Entstehung geltend, so wird die
Entschädigung lediglich für die zwölf der Geltendmachung vorangehenden
Monate ausgerichtet (Art. 46 Abs. 2 AHVG).

    Einen weitergehenden Anspruch auf Nachleistung sieht Art. 48 Abs. 2
Satz 2 IVG vor, indem Nachzahlungen von Hilflosenentschädigungen der IV
über die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate (Art. 48 Abs. 2 Satz 1
IVG) hinaus erbracht werden, wenn der Versicherte den anspruchsbegründenden
Sachverhalt nicht kennen konnte und die Anmeldung innert zwölf Monaten
seit Kenntnisnahme vornimmt.

Erwägung 2

    2.- Es ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin grundsätzlich
Anspruch auf eine Entschädigung der AHV für schwere Hilflosigkeit
hat. Streitig und zu prüfen ist indessen, ob sie Anrecht auf Nachzahlung
über die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate hinaus hat.

    a) Das kantonale Gericht erwog, die Beschwerdeführerin habe sich
unbestrittenermassen im April 1986 zum Bezug einer Hilflosenentschädigung
der AHV angemeldet, weshalb "die Vorinstanz in Anwendung von Art. 46
Abs. 2 AHVG richtigerweise die Entschädigung ab April 1985 ausbezahlt"
habe. Art. 48 Abs. 2 Satz 2 IVG gelange, entgegen der Auffassung der
Versicherten, nicht zur Anwendung, da es vorliegend um Leistungen der AHV
und nicht der IV gehe und das AHVG keinen Verweis auf eine ergänzende
oder analoge Anwendung dieser Bestimmung enthalte. Demgegenüber macht
die Beschwerdeführerin geltend, das Eidg. Versicherungsgericht habe in
BGE 98 V 59 Erw. 2 nicht gesagt, Art. 48 Abs. 2 Satz 2 IVG gelte nur
für die Hilflosenentschädigung der IV. Eine analoge Anwendung dieser
Norm im Bereich der AHV dränge sich sachlich auf und sei deshalb für die
Beurteilung des vorliegenden Falles heranzuziehen.

    b) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist
der Text nicht ganz klar bzw. sind verschiedene Auslegungen möglich so
muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung
aller Auslegungselemente, namentlich der Auslegung nach dem Zweck, nach
dem Sinn und nach den dem Text zugrundeliegenden Wertungen. Der Sinn,
der einer Norm zukommt, ist dabei ebenfalls wichtig. Ferner können auch
die Gesetzesmaterialien namentlich dann, wenn eine Bestimmung unklar
ist oder verschiedene, sich widersprechende Auslegungen zulässt, ein
wertvolles Hilfsmittel dafür sein, den Sinn einer Norm zu erkennen (BGE
113 V 109 Erw. 4a mit Hinweisen).

Erwägung 3

    3.- a) Der klare Sinn einer Gesetzesnorm darf nicht durch eine
verfassungskonforme Auslegung beiseite geschoben werden (BGE 111 V 364
Erw. 3b i.f. mit Hinweisen). Eine solche Klarheit liegt nun aber hier nicht
vor, da Art. 46 Abs. 2 AHVG weitergehende Nachzahlungen bei Vorliegen
des in Art. 48 Abs. 2 Satz 2 IVG geregelten Tatbestandes weder vorsieht
noch ausschliesst. Anlässlich der Einführung der Hilflosenentschädigung
für die Versicherten der AHV im Rahmen der 7. AHV-Revision erklärte der
Bundesrat in seiner Botschaft vom 4. März 1968 (BBl 1968 I 602) zu Art. 46
des Entwurfs, welcher dem geltenden Art. 46 AHVG entspricht, folgendes:
"Der Grundsatz der fünfjährigen Nachzahlungsfrist für AHV-Renten bleibt
im wesentlichen bestehen (Abs. 1). Er soll eingeschränkt werden für die
Hilflosenentschädigungen. Da eine zuverlässige Abklärung der Hilflosigkeit
für einen weit zurückliegenden Zeitraum kaum zu bewerkstelligen wäre,
soll hier - in gleicher Weise wie für die entsprechenden Leistungen
der Invalidenversicherung - eine Nachzahlung für höchstens zwölf Monate
vorgesehen werden (Abs. 2)" (BBl 1968 I 662). Anlässlich der Verhandlungen
der vorberatenden Kommissionen (vgl. Kommission des Nationalrates,
Sitzung vom 4. bis 6. Juli 1968, Protokoll S. 113; Kommission des
Ständerates, Sitzung vom 2. Mai 1968, Protokoll S. 46) wie auch in der
parlamentarischen Beratung (vgl. Amtl.Bull. 1968 S 146 und 1968 N 461)
gab die Bestimmung zu keinen Diskussionen Anlass. Dass das IVG selber
seit 1. Januar 1968 (Fassung gemäss Bundesgesetz vom 5. Oktober 1967;
AS 1968 29) eine weitergehende Nachzahlung vorsieht, wurde offenbar nicht
in Betracht gezogen. Auch aus den Materialien ergibt sich somit nicht,
dass der historische Gesetzgeber im Bereich der AHV-Hilflosenentschädigung
eine Lösung analog Art. 48 Abs. 2 Satz 2 IVG bewusst ausschliessen wollte.

    b) Sowohl Art. 46 Abs. 2 AHVG als auch Art. 48 Abs. 2 IVG
begrenzen bei verspäteter Anmeldung die Nachzahlung grundsätzlich
auf zwölf Monate. Diese Beschränkung beruht im wesentlichen auf der
Überlegung, dass es oft schwierig ist, das Vorhandensein und den
Umfang einer Hilflosigkeit oder den Grad einer Invalidität in einem
weit zurückliegenden Zeitpunkt zu bestimmen (BGE 98 V 60; vgl. auch
MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. II, S. 129 f. und
S. 251 unten f.). Ungeachtet dieser Beweisschwierigkeiten lässt Art. 48
Abs. 2 Satz 2 IVG einen weitergehenden Nachzahlungsanspruch zu, wenn der
Versicherte den anspruchsbegründenden Sachverhalt nicht kennen konnte und
die Anmeldung innert zwölf Monaten seit Kenntnisnahme vornimmt. Weil die
den beiden Nachzahlungsregelungen zugrundeliegenden Tatbestände gleich
sind, ist nicht ersichtlich, weshalb Bezüger von Entschädigungen für
schwere Hilflosigkeit im Bereich der AHV anders behandelt werden sollten
als schwer Hilflose in der IV. Im einen wie im andern Fall geht es um
die rückwirkende Abgeltung vorbestandener Hilflosigkeit von Versicherten,
welche den Leistungsanspruch aus nicht von ihnen zu vertretenden Gründen
verspätet anmelden. Das Rechtsgleichheitsgebot, welches u.a. rechtliche
Unterscheidungen verbietet, für die ein vernünftiger Grund in den
zu regelnden Verhältnissen nicht ersichtlich ist (BGE 112 Ia 258
Erw. 4b mit Hinweisen), ist im Rahmen verfassungskonformer Auslegung
sozialversicherungsrechtlicher Leistungsnormen zu berücksichtigen,
soweit dies im Rahmen von Art. 113 Abs. 3/114bis Abs. 3 BV möglich
ist (BGE 113 V 32 mit Hinweisen). Es drängt sich daher aus Gründen
der Gleichbehandlung auf, Art. 48 Abs. 2 Satz 2 IVG im Sinne eines
allgemeinen, der Wiederherstellung verwandten Rechtsgrundsatzes auch im
Gebiet der Hilflosenentschädigungen für Altersrentner anzuwenden, zumal
das Eidg. Versicherungsgericht die Fristwiederherstellung im Rahmen des
Art. 48 Abs. 2 IVG bereits bejaht hatte, als Satz 2 dieser Bestimmung
noch nicht existierte (EVGE 1962 S. 361; BBl 1967 I 690 unten). Aus diesen
Gründen ist die im Urteil M. vom 5. Mai 1976 offengelassene Frage, ob Satz
2 von Art. 48 Abs. 2 IVG auch für Hilflosenentschädigungen der AHV gilt,
zu bejahen, eine Lösung, welche im übrigen auch der Koordination innerhalb
der Sozialversicherung dienlich ist. Sozialversicherung dienlich ist.

    c) Die Akten sind an die Verwaltung zurückzuweisen zur Abklärung, ob
die Voraussetzungen für eine weitergehende Nachzahlung im Sinne von Art. 48
Abs. 2 Satz 2 IVG und der dazu ergangenen Rechtsprechung (BGE 108 V 226;
ZAK 1984 S. 404 Erw. 1 mit Hinweisen) gegeben sind. Bejahendenfalls ist
ferner abzuklären, wann effektiv die schwere Hilflosigkeit eingetreten
ist bzw. der Leistungsanspruch entstanden ist.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass
der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz vom 20. September
1986 und die angefochtene Verfügung vom 22. Mai 1986 insoweit aufgehoben
werden, als diese einen Anspruch auf Entschädigung der AHV für schwere
Hilflosigkeit vor dem 1. April 1985 abgewiesen haben. Die Sache wird an die
Ausgleichskasse des Schweizerischen Bäcker-Konditorenmeister-Verbandes
zurückgewiesen, damit diese nach erfolgter Abklärung im Sinne der
Erwägungen neu verfüge.